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Autor: knochengott

Erstellt am: 17.03.2008

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downtown 409 - Der Kranke



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: downtown

  - Einleitung
  - Kapitel 1: downtown 608 - Der Prinz
  - Kapitel 2: downtown 303 - Der Beschützer
  - Kapitel 3: downtown 409 - Der Kranke
  - Kapitel 4: downtown 408 - Die Herrscherin
  - Kapitel 5: downtown 414 - Die Maskierte
  - Kapitel 6: downtown 000 - Der Krieger
  - Kapitel 7: downtown 211 - Der Gefangene
  - Kapitel 8: downtown 506 - Das Schicksal


Anmerkungen des Autors:
Der Kranke



Max schlief tief und fest. Ein Streifen graues, Wolkengeschwängertes Licht fiel durch einen Spalt in den dicken dunklen Vorhängen und zog seine Bahn über den Boden. Darin konnte man kleine Staubteilchen schweben sehen. Der Sessel in dem Max saß war alt, seine Polster waren fleckig, ausgebleicht, aber er war bequem und bot trotz seines Aussehens Gemütlichkeit im Übermaß an. Er spendete dem Raum und dem Mann darin ein bisschen Trost, schien mit seiner dunklen weichen Oberfläche das Grau aufzunehmen und vertreiben zu wollen. Max mochte den Sessel. Im Schlaf sacht bewegend schabten seine Schuhe über den Teppich und hinterließen Wirbel in der grauen Oberfläche. Sie waren einmal schwarz gewesen diese Schuhe, doch inzwischen waren sie nur noch dunkelgrau und rissig. Die Hose und der Pullover standen ihnen in nichts nach, aber Max Gesicht war das verfallenste und vernachlässigste. Seine Wangen waren rissig, die haut rau, der mund blas. Tiefe Furchen hatten sich im laufe der Jahre gebildet, sie rahmten seinen Mund ein, ließen ihn älter aussehen, als er war. Er atmete in flachen langsamen Zügen. Daran erkannte man, dass er noch lebte. Nichts anderes, weder eine Regung im Gesicht, in diesem alten grauen Gesicht deuteten Leben an. Max regte sich leicht im Schlaf, murmelte ein Wort und eine einzelne Träne rann über seine linke Wange. Man erwartete fast, dass sie eine Spur durch das grau in seinem Gesicht ziehen würde. Was sie aber nicht tat.

Das monotone Piepen seiner Uhr ließ in zusammenzucken, bevor er reflexartig und irgendwie schuldbewusst die Augen aufschlug. Sie waren gerötet und gereizt, aber der Blick wurde nach der ersten Sekunde Verwirrung klar und wach. Max steckte vorsichtig die Arme nach vorne aus, steckte sie bis er das Knacken der Gelenke hörte und ließ sie dann wieder fallen. Sein Kopf pochte wie ein kranken Zahn, sein Mund war trocken und seine Zunge rau. Dieses Pochen konnte nur bedeuten, dass es ihn wieder eingeholt hatte. Gestern Abend hatte es ihn nach nicht einmal zwei Tagen wieder eingeholt. Er lachte krächzend auf und es klang keine Spur von Humor ihn dem Laut mit. Langsam stand er auf und obwohl sie mit Bedacht ablief, war seine Bewegung geschmeidig und agil, nichts an ihm wirkte gebrechlich. Mit einem paar Schritten erreichte er die hohen Vorhänge und zog sie langsam zu Seite, ließ den grauen Tag herein. Das Licht, nicht grell aber dennoch scharf und reizend ließ ihn die Augen zu einem Spalt zusammenkneifen, als sich neue Schmerzen durch seinen Kopf bohrten. Er schloss die Augen ganz, hob ein wenig das Gesicht und sanftes rosa floss unter seinen geschlossenen Lidern dahin. So blieb er einen Augenblick stehen, öffnete schließlich vorsichtig wieder seine Augen etwas und sah. Die Hände an den Seiten sah er aus dem Fenster, suchte die Sonne hinter den Wolken. Er fand sie nicht, also drehte er sich herum und ging ins Bad.

Klares kaltes Wasser rann in seiner Hände und er rieb es sich ins Gesicht. Man konnte die Haut und die Bartstoppeln unter den rauen Händen kratzen hören als er sich das Gesicht abrieb. Die hohle Hand unter den Hahn haltend beugte sich Max herunter, schlürfte etwas Wasser und spülte sich den Mund aus. Er spuckte aus, sah sich im Spiegel an und strich mit den Fingerkuppen über die Wangen. Dann nahm er den Rasierer hoch und ließ ihn unter Brummen auf seinen Wangen kreisen. Er tat es kurz und gründlich, legte den Rasierer beiseite und strich abermals über die Wangen. Kein Geräusch war zu hören. Neben seinem mit Zahncreme verschmierten Becher stand eine halbleere Tube Handcreme, die er an sich nahm und einen Klecks auf die linke Handfläche gab. Er stellte die Tube zurück und begann die Creme mit langsamen kreisenden Bewegungen zu verreiben. Ein Duft nach Aloe Vera breitete sich aus. Gierig nahm seine trockene Haut die Creme auf. Weiter reibend versuchte er den Spiegelschrank über dem Waschbecken mit dem Ellbogen zu öffnen, was selbstverständlich misslang. Also nahm er seine Hände zu Hilfe, was einen schmierigen Fleck auf dem Spiegel hinterließ und nahm sich ein Röhrchen Aspirin heraus. Zwei landeten in seiner Hand, er warf sie mit einer knappen Bewegung in den Mund, schnappte sich den Zahnputzbecher, ließ Wasser hinein und spülte nach, bevor die Tabletten sich auflösend an seinem Gaumen hängen blieben. Den Becher stellte er wieder weg und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Im umdrehen hieb er mit dem Ellbogen auf den Lichtschalter und verließ das Bad.

Die Unruhe hatte sich schon im Bad herangeschlichen, aber erst im Wohnzimmer packte sie ihn wirklich. Er warf einen blick in sein Schlafzimmer, in dem er seit ein paar Wochen nicht mehr schlief und sah dann in dich Küche. Ruckartig drehte er dem Schlafzimmer den Rücken zu und ging in die Küche. Erst einen Kaffee, danach... danach war auch noch Zeit.

Er nahm den Wasserkocher, goss das alte Wasser aus und ließ Neues einlaufen. Er stellte ihn zurück auf die Station und schaltete ein. Ein schneller Blick überzeugte ihn davon, dass alle Tassen dreckig waren, also öffnete er den einzigen Schrank und fand nach einigem kramen den letzten sauberen Becher. Er nahm Milch aus dem Kühlschrank, öffnete den Schrank erneut und nahm auch noch den Zucker und Kaffee heraus. Ein grob dosierter Schwung Kaffee und Zucker landeten im Becher, dann zog er sich mit einem kurzen schrillen Kreischen den Stuhl heran und setzte sich. Doch kaum saß er konnte er schon wieder spüren, wie seine Finger vor Unruhe auf dem Tisch trommeln wollten. Er stand schnell wieder auf und ging ins Wohnzimmer zurück, machte eine scharfe Kurve an der Schlafzimmertür vorbei und blieb in der Mitte des Wohnzimmers stehen. Die Fernbedienung war auf den ersten Blick nirgendwo zu sehen und Max hatte weder Lust noch Zeit zu suchen, also ging er zu seiner Anlage, hockte sich davor nieder und schaltete sie ein. Old Blue Eyes hob seine Stimme und ein neuer Schmerz zog durch seinen Kopf, diesmal etwas milder. Er regelte die Lautstärke um die Hälfte herab, machte aus dem Gesang ein Flüstern und begab sich wieder in die Küche. Sein Stuhl stand noch immer einladend am Tisch, er zog ihn zurück und setzte sich. Als seine Finger die Tischplatte berührten gestattete er ihnen jetzt zu trommeln, bleib aber dabei immer im Takt zu Frankie. Er trommelte und wartete auf das Wasser, während seine Augen trüb wurden und seine Gedanken schon wieder zum Schlafzimmer wanderten.

Unter dem Bett standen etwa achtzehn oder neunzehn Kartons. Jeder enthielt Fotos, dreißig bis vierzig Stück. Sie waren immer in Gruppen mit den negativen in widerverschließbaren Folienbeutel verpackt, um sie vor Staub und Sonne zu schützen.
Fotos von ihr. Immer wieder von ihr.

Der Kaffee war heiß und süß, so wie er ihn mochte. Er füllte den Becher halb, stellte den Wasserkocher zurück und füllte den Rest mit Milch auf. Als er Zucker und Kaffee in den Schrank zurückstellte stießen seine Finger gegen eine kleine Flasche, die sich ganz hinten im Schrank befand. Er schüttelte energisch den Kopf, der sich augenblicklich mit einem dumpfen Pochen bedankte. Nicht jetzt. Nicht schon zum frühen morgen. Er zog die Hand aus dem Schrank und schloss ihn, obwohl seine Finger zitterten.
Er sah sie an. Das Schlafzimmer. Das würde helfen.

Seine Kaffeetasse blieb in der Küche, aber inzwischen war seine Unruhe zu groß um noch an sie zu denken. Er bemerkte es kaum, doch er beeilte sich ins Schlafzimmer zu gehen, beeilte sich so sehr, dass er fast lief. Er betrat den Raum, der ebenfalls grau und staubig war und das leuchten in seinen Augen war krankhaft. Er betrat das Zimmer, stürzte neben dem Bett zu Boden und rutschte die letzten Meter zur wand auf den Knien vorwärts. Ein breites Lächeln stand auf seinem Gesicht, aber zusammen mit dem Glanz seiner Augen wirkte es gespenstisch. Er fummelte an der Wand herum, schob den Nachttisch zur Seite und presste sein Gesicht dicht an die Wand, das rechte Auge fest an dem Loch, das er in sie gebohrt hatte, gebohrt für sie, nur für sie. Um sie zu sehen, um sie nur ein paar Augenblicke zu sehen.

Ihr langes dunkles Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet und Max hatte glück, unglaubliches Glück, den sie hatte ihm ihr Gesicht zugedreht und er konnte es bewundern während sie schlief. Ihr Mund war leicht geöffnet man konnte die beiden oberen Schneidezähne sehen. Ihre Augen bewegten sich leicht im Schlaf, zuckten von links nach rechts, doch ansonsten blieb ihr Gesicht entspannt. Sonnenlicht, bei ihr durch hohe feine farbige Vorhänge weich gefiltert fiel auf ihr bett, Farben glitte einander umfließen darüber. Sie tauchten ihr Gesicht in weich Töne von rot, orange und gelb. Unter der dünnen Decke konnte man die schlanke Form ihrer langen Beine erkennen und ein einzelner zierlicher Fuß schaute unter ihr hervor. Dem leicht angewinkelten Bein folgte die sanfte Rundung ihrer Hüfte und das Tal der Taille, weiter nach oben zu einer zarten Schulter und ihrem Gesicht. Lange Wimpern, eine kleine Nase und helle weich aussehende Lippen, über die gleichmäßig und ruhig der Atem floss.

Ihr Atem ging langsam, tief und gleichmäßig und Max konnte sein Herz spüren, das viel zu schnell, viel zu froh in seiner Brust schlug. Mit Bedauern und unter Aufbringung einigen Willens riss er sich von dem Bild los und nahm das Auge von dem Loch. Wie immer war sein Kopf ein Chaos, schrieen sich Vernunft und Emotionen an. Er schob den Tisch leise zurück ohne richtig darauf zu achten und stolperte aus dem Zimmer. Im Türrahmen blieb er stehen und sah sich um, als wäre er in der Wohnung eines Fremden. Sein Blick fiel auf die einsame Tasse auf dem Küchentisch und er ging hinüber, um ihr Trost zu spenden. Als er seine Hand ausstreckte bemerkte er dass sie immer noch zitterte und dann fiel sein Blick auf den einzigen Schrank in der Küche. Wie von allein fand seine Hand den Griff und die Flasche mit Medizin in der hinteren Ecke. Als er sie hervorzog, schien sie ihn hämisch anzugrinsen und Max musste den Blick abwenden. Es sah ins Wohnzimmer, suchte mit Blicken seinen Sessel, der wie er war – alt und hässlich, aber gemütlich. Er wollte sich Stärke und Vertrauen von ihm borgen, doch sein Blick wurde von dem großen Fenster gefangen. Und Max sah grauen Wolken beim ziehen zu, während er seine Medizin nahm.
Die so süß war.
Die so bitter war.

Als er seinen Blick wieder von den Wolken losriss und auf die Uhr sah erschrak er, doch das war ein Erschrecken, dass kaum noch unter die Oberfläche drang. Er war zu spät dran. Schnell stürzte er den letzen Schluck Kaffee herunter, schmeckte noch die Medizin darin und bemerkte am Rande, dass seine Finger endlich ruhig waren. Also doch wieder zurück zum Anfang. Er stellte die Tasse ab, ging ins Bad und putze sich die Zähne. Mehrmals und gründlich. Dann wechselte er schnell seine Sachen und warf die alten auf den Haufen hinter der Badezimmertür. Er ermahnte sich wieder einmal heute Abend zu waschen. Aus dem Bad heraus konnte er seinen Sessel nicht sehen, weshalb er kaum Hoffnung an dieses Versprechen knüpfte. Er rieb sich mit Antitranspirant unter den Achseln und im Schritt ab, zog die neuen Sachen an und durchwühlte sein Regal. Er fand seine Flasche 1881 und sprühte sich ausgiebig damit ein. Wieder sah er auf die Uhr und legte sich in Gedanken schon mögliche Ausreden zurecht, verwarf sie und erwog neue ohne groß darüber nachdenken zu müssen.

Auf dem Board im Flur lag der Schlüssel neben eine aufgerissene tüte Fishermens, aus der er sich eine Pastille nahm und in den Mund steckte. Ein Brennen an der Zungenspitze setzte ein, während er fieberhaft überlegte. War heute Donnerstag? Er war sich ziemlich sicher, also musste er daran denken, den Zweitschlüssel unter dem Läufer zu legen. und etwas Geld. Er war sich sicher, letztes Mal eine entsprechende Nachricht gefunden zu haben. Er nahm seine Jacke vom Haken, tastete sie mit der Linken ab, entdeckte seinen Geldclip. Zog sich die Jacke über, griff sich den Schlüssel vom Board und warf an der Tür einen letzten Blick zurück. Er wanderte zwischen dem Schlafzimmer und seinem Wohnzimmer hin und her.
Sehnsucht und Stärke.
Sucht und Halt.
Leben und Ruhe.
Max kniff kurz die Augen zusammen, riss die Wohnungstür auf und schlug sie hinter sich zu.