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Autor: Morgenstern

Erstellt am: 15.05.2013

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Wie ich zu schreiben begann



Geschrieben von:   Morgenstern


Anmerkungen des Autors:
Das hier ist zu lang für eine Kurzgeschichte, obwohl der Begriff natürlich nicht dem engl. Short Story eins zu eins entspricht. Ich würde es eventuell eine Novelle nennen.
Ich muss anmerken, dass dies hier nicht die endgültige Fassung der Geschichte ist. Aber ich habe im Moment die Zeit nicht, um all jene Grammatikfehler und Formulierungen, besonders aber die verhassten fehlplatzierten Kommata, aufzuspüren und auszumerzen. Die nimmt ein Roman in Anspruch. Darum veröffentliche ich das Werk zunächst so und hoffe auf ein wenig inhaltliches Feedback. Ignoriert also bitte Zeichensetzung und Grammatik fürs Erste. :D
Viel Spaß



Kurz nach meinem 26. Geburtstag war wieder einmal der Zeitpunkt gekommen, an dem ein Ortswechsel und eine neue Beschäftigung, der ich meine Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte, anstanden. Ich hatte vor wenigen Monaten eine Beziehung beendet, die mich wieder einmal auf lange Sicht nicht glücklich machen konnte und ich war der vertrauten Gesichter und Vorgänge um mich herum müde. Die Bekannten, welche ich, von wenigen Arbeitskolleginnen abgesehen, größtenteils durch meinen nun Ex-Freund kennengelernt hatte, waren teilweise enttäuscht oder sogar verärgert von meiner Entscheidung, ihn zu verlassen und die, welche es nicht waren, lagen trotzdem als ein Gewicht auf meinem Gewissen, das ich nicht mehr tragen wollte.

Und so beschloss ich, erneut in einer fremden Stadt zu beginnen, nicht ohne Hoffnung, dass die Dinge dort besser laufen würden. Es war nicht so, dass ich unglücklich gewesen wäre und auch Pech hatte ich bislang in meinem Leben wenig gehabt, aber dennoch hatte es immer einen Grund gegeben nicht stehenzubleiben, Neuland zu suchen und einer längerfristigen Sesshaftigkeit aus dem Weg zu gehen. Schon mehrfach hatte ich mich auf und davon gemacht und Beziehungen mit Männern beendet, die alle nett gewesen waren, unterschiedlichste Interessensgebiete und Lebensgeschichten gehabt , aber alle eines gemeinsam hatten: Das Gefühl zu wenig gesehen zu haben, nicht alle Möglichkeiten genutzt und zu lange an einem Ort gewesen zu sein, konnte mir keine von ihnen nehmen. Aber es wäre ungerecht, diese Gefühlslage ausgerechnet auf die Männerwelt zu projektieren, denn auch an Arbeitsstellen hatte ich vieles durchprobiert, war nirgendwo wirklich unzufrieden, aber auch bei keiner Stelle wirklich zufrieden gewesen. Ich hatte das Richtige immer noch nicht gefunden, den Ort an dem ich mein Leben verbringen wollte noch nicht bereist, sofern es für mich überhaupt möglich sein sollte an einem einzigen Platz zu verharren.

Auf und davon ging es, diesmal nicht in die Ferne, sondern nur einige Autostunden weiter in eine beschauliche Stadt in Hessen. Nach Fulda. Schon gleich nach der Ankunft hatte mir die schöne Altstadt zugesagt und ich war die ersten Tage nur auf Erkundung gewesen, bevor ich überhaupt anfing mir darüber Gedanken zu machen, wie ich meinen Lebensunterhalt verdienen sollte. Zuletzt hatte ich als Grafikdesignerin gearbeitet, ungelernt zwar, aber in der mir eigenen schnellen Auffassungsgabe recht bald ziemlich erfolgreich. Aber nach nur 13 Monaten in der Agentur hatte ich bald die Schnauze voll, weniger von der Hektik des Geschäfts, denn damit konnte ich umgehen, als mehr mit dem äußerst begrenzten Betätigungsfeld. Es war eben doch nichts für mich gewesen tagein, tagaus am Computer zu sitzen, aber um diese Erfahrung reicher musste ich mich nun nach etwas Neuem umschauen. Eine Freundin aus Berlin, die eine von den wenigen Menschen war mit denen ich regelmäßigen Kontakt pflegte, riet mir es doch einmal mit professionellem Schreiben zu versuchen, da sie sich an meine Begabung für dasselbe aus Schulzeiten erinnerte.

Es war eine völlig neue Idee, ich hatte diesem Feld nie sonderlich viel Bedeutung beigemessen, denn in der Schule war mir sämtlicher Unterricht relativ leicht gefallen, sodass eine sprachliche Begabung nicht weiter aufgefallen war. Und meine schulischen Leistungen waren einer der Gründe, weshalb meine Eltern nach einem glänzenden Abitur wenig begeistert waren, als ich ihnen eröffnete zu gedenken, die Welt zu bereisen anstatt zu studieren. Schon damals war mir klar gewesen, dass ich es nicht für drei Jahre an einem Ort aushalten würde und damit waren auch die Argumente von Absicherung und Zukunftsperspektiven ziemlich entkräftet gewesen. Ich wusste ja, dass ich mein Leben ohne Schwierigkeiten auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen meistern konnte und habe die damalige Entscheidung auch nie bereut. Nur selten verspürte ich etwas Neid oder Wehmut, wenn ich mir die Paare und Menschen vor Augen führte, die augenscheinliche ihre Bestimmung schon in jungen Jahren gekannt oder gefunden hatten und mit dieser glücklich werden konnten. Aber das war nun einmal bei mir nicht der Fall und es brachte auch nichts daran zu resignieren, ich blieb eben unterwegs und probierte fortwährend Neues aus. Das war auch eine Form der Konsequenz und vielleicht auch die Bestimmung, welche mir in die Wiege gelegt worden war. Nach ihrer anfänglichen Enttäuschung und Unzufriedenheit hatten sich meine Eltern mit meinem sprunghaften Lebenswandel abgefunden, nur legten sie Wert darauf, dass ich sie über die Veränderungen auf dem Laufen hielt. Und das tat ich in regelmäßigen Abständen.

Die erste Frage, welche ich mir stellte als ich ernsthaft über die Möglichkeit, mich eine Zeit lang als Schriftstellerin zu betätigen, nachdachte, war worüber ich schreiben sollte. Und während ich die neue Wahlheimat mehr und mehr erkundete, mich mit den Gepflogenheiten der ansässigen Menschen und ihrer Geschichte vertraut machte, beschloss ich, dass eine Autobiographie nichts für mich wäre. Auch an einen Roman wollte ich mich zunächst nicht wagen, nicht dass ich Zweifel an seinem Gelingen gehabt hätte, aber so ein Projekt schien mir für den Anfang zu groß und zu einseitig zu sein. Der finanzielle Druck, welcher für viele Freischaffende kein unwesentliches Kriterium darstellte, bereitete mir wenig Kopfzerbrechen, denn ich verfügte noch über umfassende Rücklagen aus anderen beruflichen Anstellungen. Ratgeber fand man heutzutage an jeder Ecke, jeder Trottel konnte so etwas schreiben und zu sehr hatte ich die Thematisierung dieses Umstandes bei Kabarettisten genossen, um mich jetzt dahingehend zu verkaufen. Ganz ehrlich: Es gab mittlerweile schon Ratgeber, die Rat gaben, wenn es um das Schreiben ebenjener ging.

Was aber nun schreiben und woher die Themen nehmen? Eine Stimme in meinem Kopf, die das was ich sah pausenlos kommentierte, hatte ich, aber keine die so kreativ war mir das einzuflüstern, was ich zu Papier bringen sollte. Schnell erkannte ich darum, dass es der beste Weg sein würde die Leben anderer zu beschreiben. Man konnte schneller zu Werke gehen, wenn man die Recherche-Tätigkeit abkürzte und ich hatte schon eine Idee, wie das zu tun war ohne tage- und wochenlang in staubigen Büchereien oder am Computer zu sitzen. Die erste Annonce gab ich in der Regionalzeitung auf, wenige Zeilen nur, die zusammenfassten, was ich zu sagen hatte.

„Junge, freischaffende Autorin sucht Menschen, die gerne Geschichten aus ihrem Leben in gedruckter Form sehen würden. Inhaltlich ist das Feld meines Interesses nicht eingeschränkt, für nähere Informationen genügt ein Anruf unter folgender Nummer:“

Ich war so frei mich eine Autorin zu nennen, obwohl dieser Titel gewissermaßen eine Anmaßung war, aber „angehende Autorin“ hatte mir dann doch zu sehr nach Amateurin geklungen. Auf diese Anfrage hin bekam ich Anrufe zuhauf und ich konnte mich eines gewissen Ärgers auf mich selbst nicht erwehren, dass ich so naiv gewesen war, meine private Handynummer publik zu machen. Die gefühlten ersten hundert Anrufer waren weniger an meinem Kopf, als am Rest meines Körpers interessiert und wurden nur von dem ein- oder anderen, leider senilen, Pensionär abgelöst. Aber nachdem ich mir bereits eine neue Sim-Card gekauft hatte, drauf und dran war die Hoffnung aufzugeben und eine Geschichte über Sexualstraftäter oder naive, junge Mädchen zu schreiben, meldete sich doch das erste potentielle Opfer meiner Schreibkunst.

Würzel hieß er, klang am Telefon höflich und kultiviert, vor allem aber ein Mann, der wusste was er wollte. Nachdem ich sicher gegangen war, dass er nicht nur ein weiterer Charmeur war und wir einige Male Gespräche geführt hatten, die erkennen ließen, dass er ein nicht uninteressantes Leben führte, verabredete ich mich mit ihm in einem Cafe in der Fuldaer Innenstadt, gleich hinter dem Dom. Ich war fünfzehn Minuten früher am Treffpunkt, um mir ein Bild von dem Ort zu machen, an welchem ich also den Grundstein meiner schriftstellerischen Tätigkeit legen sollte. Würzel kam allein, im Anzug und zu Fuß die leichte Steigung der Straße hinauf. Er war groß und bullig und hatte einen ordentlichen Bauch, der aber zu seinen breiten Schultern und seinem fleischigen Nacken passte und nicht allzu sehr auffiel. Ein einziger Schweißtropfen perlte von seiner Stirn als ich ihm die Hand zum Schütteln reichte und Augenblicke später das Gefühl hatte, nur noch Knochenmehl am Ende meines Armes vorzufinden. Das verstand er also unter einem festen Händedruck, auweia. Einander gegenüber nahmen wir an weißem Plastik und auf weißem Plastik Platz und er begann sofort zu erzählen. Das Ganze begann so schnell, dass ich Mühe hatte auch nur seinen Vornamen, Mathias, zu Papier zu bringen, bevor meine Hand krampfhaft anfangen musste, abgehackte und kaum leserliche Notizen zu kritzeln. „Zeit ist Geld, “ ließ mich Würzel nach etwa fünf Minuten wissen, als ihm aufzufallen schien, dass er mich von der Begrüßung abgesehen, noch nicht zu Wort hatte kommen lassen. Aber da war ich bereits so in seine Geschichte vertieft, dass ich kaum weitere Wünsche hatte, als einmal an meinem Eiskaffee zu nippen. Und Sekunden später, fuhr er auch schon wieder fort.

Mathias Würzel war als Sohn eines Schusters in einem Dorf im Spessart geboren worden. Sein Vater hatte sein ganzes Leben gearbeitet und der Familie war es nie schlecht gegangen. Die Söhne, drei derer aber keine Tochter, welche sich seine Mutter immer gewünscht hatte, hatten schon in jungen Jahren begonnen in der Werkstatt oder im Laden zu helfen. Das Geschäft wurde von der Mutter geführt, aber in späteren Jahren hatte es kaum noch Aufträge für einen gelernten Schuster gegeben und der Vater hatte die meiste Zeit hinter dem Tresen gestanden. So oder so, seine Mutter hatte hauptsächlich um die Erziehung gekümmert, der Vater war zwar die entscheidende Instanz geblieben, wenn er abends ins Haus kam, aber nun ja: Das war nur abends gewesen. Die Schule war Mathias, der der Jüngste war, leichter gefallen als seinen älteren Brüdern, die beide bereits eine Lehre angetreten hatten, als er seine Gymnasial-Empfehlung mit nach Hause brachte. Sein Vater war skeptisch gewesen, hatte sich aber dieses eine Mal nicht gegen seine Frau durchsetzen können, die alles daran setzte, dass das Nesthäkchen womöglich einmal studieren würde.

Und nach weiteren neun Jahren, in denen er täglich mit dem Bus zur Schule gefahren war, um erst am späten Nachmittag wieder heim zu kommen, nach neun Jahren, in denen er das erste Mal ein Herz gebrochen und seines gebrochen bekommen hatte, ging Mathias tatsächlich studieren. Betriebswirtschaftslehre in Würzburg, einer Universität mit Tradition und alteingesessenen Corps. Und diese wollten ihn recht schnell auch zu einem der ihren machen, nachdem sich bewies, dass der junge Mann auch hier durch seinen Eifer und seine Intelligenz erfolgreich sein würde. Und tatsächlich ließ er sich zu dem ein oder anderen Fest einladen, spielte mit dem Gedanken als Fuchs, dem untersten Rang bevor man befördert wurde, einzutreten, störte sich aber an der exzessiven Trinkerei, für welche er sich für zu erwachsen hielt. Und in der Zeit dieses Zögerns, lernte er seine erste, große Liebe kennen, ließ sich von ihr den Kopf verdrehen und so einiges zeigen. Da Isa-Maria, so hatte sie geheißen, die primitive Sprache und den Sexismus seiner Korpsbrüder in spe nicht leiden konnte und er seine Zeit, wenn er nicht in der Bibliothek oder in Vorlesungen war, eh fast ausschließlich mit ihr verbrachte, schlief der Kontakt zu diesen Männern ein.

Stattdessen lernte er neue Menschen kennen, Freunde Isa-Marias, die auch die seinen wurden. Mit denen viel gemeinsam unternommen wurde, im Sommer Radtouren ins Umland, im Winter gemeinsame Rodel-Aktionen und Ähnliches. Und die Kultur und die Gesellschaft, die sich für dergleichen interessierten, die lernte er ebenfalls durch sie kennen. Es dauerte länger als man meinen mochte bis er über Umwegen davon erfuhr, dass sie adelig war. Sie selbst kümmerte sich nicht um die Tatsache und versuchte ihre Herkunft möglichst unerwähnt zu lassen. Nur in Klausuren und anderen Situation, in welchen ein vollständiger Name vonnöten war, war der Sache schwer aus dem Weg zu gehen. Aber er hätte es früher vermuten können, hätte vielleicht nicht darauf warten müssen, dass einer der neuen Freunde seine Freundin damit aufzog, wie sie hieß. Und wer sie war, denn mochte sie noch so wenig Wert darauf legen, von außen wurden ihr immer wieder die Schuhe angezogen, die sie nicht wollte. Ob es in Folge einer positiven oder negativen Reaktion war, war ganz gleich, sie konnte ihrer Familie und dem, was sie sein musste, kaum entkommen.

Sie interessierte sich für Geschichte, für Musik und Literatur, für Felder in denen Mathias noch gänzlich unbewandert war. Aber er war lernfähig und konnte Gefallen an den Dingen finden, vielleicht an manchen mehr, weil er liebte wie sie sich freute, wenn auch er einmal in abendlichen Runden mitreden konnte. Denn die Menschen, mit denen sie sich umgab, hatten natürlich ähnliche Interessen wie sie. Eigentlich lief alle vorzüglich, bis sie den Fehler machten, für ein Wochenende gemeinsam zu ihren Eltern zu fahren. Die waren nicht unfreundlich, fragten auch nach Mathias‘ Interessen und seinem Studium, aber ließen ihn dennoch spüren, dass er nicht hierher gehörte. Ob sie es nun beabsichtigten oder nicht, er fühlte sich fremd in dem großen Haus mit den Jagdtrophäen und litt darunter, dass seine Freundin wusste, wie er sich fühlte. Dass sie ihn in jedem Moment, den sie zusammen hatten, in einen Winkel des Gartens entführte, um zu fragen wie es ihm gefalle. Ihm versicherte, dass er sich aus dem Brauch und der Sitte nichts zu machen brauchte, dass es ja ganz verständlich sei, sich fremd zu fühlen. Und immer wieder, dass ihre Eltern ihn auf den ersten Blick mochten und ganz von ihm eingenommen waren, wie gut der Eindruck sei, den er erweckt habe.

Das Wochenende stand im Nachhinein zwischen ihnen und immer öfter fielen ihm Verhaltenszüge und Dinge auf, die sie von zu Hause mitbekommen hatte. Interessen, welche ihn fasziniert hatten und es immer noch taten, aber doch Felder auf denen sie sich mit natürlicher Grazilität zu bewegen schien und er sich wie ein plumper Bauer vorkam. Nur die Tatsache, dass er jetzt immer wenn sie nur sprach an ihre Herkunft denken musste und damit auch daran, dass er nicht einer solchen Familien entstammte, machte die Beziehung auf Dauer unerträglich. Er redete sich ein, dass er es für sie tat, damit sie jemanden finden konnte, der mehr wie sie war, aber im Endeffekt beendete er sie für sich selbst. Weil er dem ewigen Vergleich, den sie trotz all der wirklichen Liebe für ihn darstellte, nicht länger ins Auge blicken konnte. Mit ihr, verschwand auch die meiste Ablenkung vom Studium aus seinem Leben, mit den Menschen, die er nach anderthalb Jahren gemeinsamer Aktivitäten für Freunde gehalten hatte, verband ihn nicht mehr fiel. Auch lief er ihr und denen, die ihn an sie erinnerten nicht gerne über den Weg und so verbrachte er das dritte und vierte Jahr hauptsächlich in der Bibliothek.

Einen hervorragenden Abschluss in der Tasche, sozial etwas verkümmert, der Familie und den Jugendfreunden durch seine Bildung, seine Interessen aber auch seinem Intellekt entrückt. Das war das Fazit dem er sich nach vier Jahren stellte, vier Jahren, in welchen er weiterhin viel gelesen hatte: Klassiker, Weltliteratur, Philosophie. Und dann entschied er sich nach Frankfurt am Main zu gehen und dort in einer Bank anzufangen.

Bei der Sparkasse fand Mathias sich schnell ein. Die Arbeit fiel ihm leicht, das Kaufen und Verkaufen von Wertpapieren, Fonds und Ähnlichem, wie auch der Kundenkontakt schienen das zu sein, für was er geboren war. Und wenn die Dinge einmal nicht so liefen wie er sich das vorstellte, wenn er einem Gespräch viel Mühe, Vorbereitung und Zeit gewidmet hatte, es dann aber doch nicht zu einem Geschäftsabschluss kam, ließ er sich davon nicht beirren. Die Karriereleiter ging es hinauf, leichtfüßig, immer auf der Überholspur, unbeirrt und erfolgreich. Die Kunden, welche er betreute, wurden wichtiger, die Provisionen nahmen zu und als er dann doch nach acht Jahren aufgrund seines jungen Alters nicht weiter hinauf durfte, stand schon ein Übernahmeangebot einer größeren Privatbank ins Haus, mit deren Beratern er das eine oder andere gute Geschäft gemacht hatte.

Sein Gehalt verdoppelte sich, viele seiner wichtigen Kunden entschlossen sich, natürlich wider seinen Arbeitsvertrag, mit ihm das Institut zu wechseln, denn er hatte ihr Vertrauen erlangt und vielen von ihnen hartes Geld verdient. Sie richtig beraten, wenn sie nach Langzeitinvestitionen verlangt hatten und denen, die sichere Wertanlagen gefordert hatten, ebenjene verschafft. Von den Kollegen waren einige gute Bekannte geworden und obwohl neben der Arbeit nicht allzu viel Zeit blieb, traf er sich mit dreien von ihnen regelmäßig an den Wochenenden zum Tennis spielen. Die ein oder andere Affäre mit jungen Frauen in der Bank hatte er auch gehabt, aber was hieß schon jung, er war selbst ja gerade erst kaum jenseits der dreißig und hatte es nicht eilig, sich fest zu binden. Die richtige war auch definitiv nicht unter ihnen gewesen, nichts hatte länger als ein halbes Jahr gehalten. Aber das hatte sicherlich auch wieder an der Arbeit gelegen, die nicht viel Zeit für solche Dinge ließ.

Mit vierunddreißig war Mathias Millionär. Mit achtunddreißig wurde er Partner in der Privatbank, zu welcher er erst vor sechs Jahren gewechselt war. Das hieß er stieg ins Management auf und beriet wirklich nur noch die wichtigsten Kunden, aber der ein oder andere aus der Zeit bei der Sparkasse blieb unter ihnen. Selten kam ein Kreditinstitut an einen so fähigen, so erfolgreichen Mann, der die schwierigsten Geschäftsgespräche so unfassbar leicht in die richtige Richtung lenken konnte. So einer musste fest gebunden werden und das taten sie mit Beförderungen, Geld und noch mehr Geld. Mit neununddreißig wurde er Mitglied bei einem der Frankfurter Clubs der Rotarier und er musste für sein Geld nun weniger arbeiten. Das Apartment, in welchem er in der Innenstadt die letzten fünf Jahre gelebt hatte, verkaufte er äußerst gewinnbringend und ließ sich in Hattersheim eine moderne Villa mit viel Glas bauen. Jetzt blieb ihm mehr Zeit für Golf und Tennis mit Geschäftsfreunden und Kollegen, mehr Zeit für die Frauen, welche er in den vergangen Jahren hatte vernachlässigen müssen.

Und diese hatten Interesse an dem erfolgreichen Junggesellen, dass sie Schlange standen wäre geprahlt gewesen, aber schwer fiel es ihm auch keinesfalls viele kennenzulernen und von seinen Attributen zu überzeugen. Und dann war da die eine gewesen, die ihm sehr gut gefallen hatte, die ihn an Isa-Maria erinnert hatte. Aber er hatte sich nie wirklich sicher sein können, ob sie nun ihn liebte oder den Luxus, welchen er ihr bieten konnte. Heiraten das stand außer Frage, aber als sie nicht mehr arbeiten gewollt hatte, war es für ihn eine Selbstverständlichkeit gewesen, auch ihren Unterhalt zu übernehmen. Gewohnt hatte sie bei ihm nun eh schon einige Jahre und ihr Job als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei hatte eh nicht genug abgeworfen, um jenen Lebensstil, den sie gemeinsam pflegten, auch nur im Ansatz zu ermöglichen. Was für einen Unterschied machte es da schon, ob sie die Tätigkeit weiter ausübte oder nicht.

Sie reisten viel, besahen die Welt, machten Kreuzfahrten auf Luxuslinern und logierten in den besten Hotels. Yvonne war ein umgänglicher Mensch, fünfzehn Jahre jünger als er zwar und sicher kein Gesprächspartner wenn er über Literatur und Philosophie sprechen wollte, aber doch so kultiviert. Golf und Geld und hier und da mal noch ein wichtiges Gespräch. Feste und spekulative Wertanlagen, Devisen und Immobilien, Freunde unter den Rotariern die er beriet und noch mehr Geld. Tennis wurde zu anstrengend, Fahrradfahren kam hinzu, um ihn körperlich in Form zu halten. Denn bei all dem guten Essen und gutem Wein, Champagner und Reisefieber fiel es nicht schwer einen Bauch anzusetzen. Seine Mutter starb drei Tage bevor er fünfzig wurde, das bedrückte sehr, aber andererseits hatte er seine Familie eh kaum noch gesehen. Man war zu verschieden, sein Erfolg war den Geschwistern und Eltern suspekt gewesen, besonders die Mutter hatte gegenüber Yvonne nie warm werden können. Hatte sich Enkel von ihm gewünscht, obwohl sie doch schon vier gehabt hatte. Aber Kinder, das hatte bei Mathias nie ins Programm gepasst und als er mit fünfundfünfzig in Rente ging, fühlte er sich dafür zu alt. Und auch Yvonne hatte mittlerweile ein Alter erreicht, in welchem Nachwuchs riskant gewesen wäre, ganz davon abgesehen, dass sie nie welchen gewollt hatte. Und er auch nicht, zumindest nicht mit ihr. Andere Frauen hatten ihm durchaus des Öfteren schöne Augen gemacht, den einen oder anderen Seitensprung hatte er sich auch erlaubt, er war schließlich nicht verheiratet. Aber Kinder? Never ever.

Und jetzt war Mathias Würzel seit ein paar Jahren in Rente. Reiste noch mehr, traf sich hin und wieder mit Geschäftsfreunden, lebte mit Yvonne in der gläsernen Villa in Hattersheim. Hatte Geld wie Heu, Zeit um zu lesen und sich mit den Dingen auseinanderzusetzen, welche ihn interessierten. „Aber soll das alles sein?“ fragte er mich. Ich schwieg, was konnte ich denn auch zu ihm sagen, der sichtlich unzufrieden war, obwohl er doch das hatte, was so viele anstrebten. Ein self made Multimillionär war und so viel älter als ich.
Der Mann schüttelte den Kopf als er die letzten Gedanken aussprach, die jene Dinge umrissen, welche er in seinem Leben bedeutsam gefunden hatte. Wo waren die Freunde, die das Geld angeblich brachte, wo die Menschen zu denen man noch wirklich Nähe empfand? Und wo war der Erfolg, den das selbstgesteckte Ziel seines Lebens einbringen sollte?

Die Geschichte des Millionärs schrieb ich in vier Tagen. Natürlich bediente ich mich nicht seines wirklichen Namens, natürlich entfremdete ich den Charakter aus einem Umfeld, das sich oder ihn hätte wiedererkennen können. Aber die Handlung blieb eine Ähnliche, auch wenn ich eine kleine Erpressungsgeschichte ergänzte, um die Erzählung interessanter zu gestalten. Das war ja auch mein gutes Recht und ich bin sicher, dass sich Mathias, sofern er das Geschriebene gelesen hat, sich auch in den hinzuerfundenen Details wiedererkennen konnte. In den Reaktionen, die ich ihm in künstlerischer Freiheit zu Eigen gemacht habe und der Weise, wie er sich durch die Hindernisse im Leben gebissen hatte. Ich nannte seine Geschichte „Das war das Absehbare, “ denn wie er sich entwickeln würde, wohin diese Reise gehen musste, war dem Leser schon nach dreißig Seiten zu erkennen gegeben. Ich hoffe, dass meine Absicht, eine Geschichte wiederzugeben, die sich von selbst erzählte und deren Richtung und Ende von Anfang an absehbar war, gelungen ist. Denn das Verwickeln einzelner Handlungsstränge, Ausrutscher und Sprünge der Zielgeraden, die unausweichlich erreicht werden musste, zum Trotz, hat mir viel Freude bereitet und mich sehr zum Nachdenken angeregt.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich nach dem Treffen mit Würzel, ein weiterer, potentieller Kandidat für ein Gespräch meldete. Ich hatte zu tun, versuchte krampfhaft einen Verlag zu finden und telefonierte mich akribisch durch ungefähr vierhundert Resultate, die Google mir freundlicherweise ausgespuckt hatte und die, für ein Werk wie das Meine, in Frage kamen. Die Telefoniererei war wenig erfolgsversprechend, nur drei der 248 Angerufenen hatten auch nur geringstes Interesse bekundet. Aber ich hatte mit so etwas gerechnet und ließ mich davon allein nicht unterkriegen, bis mir das Treffen mit ebenjenem nächsten potentiellen Opfer gehörig die Stimmung vermieste. Er hatte sich als Walther Hermich vorgestellt, hatte erzählt, dass er als V-Mann für den Verfassungsschutz arbeitete und die eine oder andere spannende Geschichte zu erzählen hatte. Ein vielversprechendes Treffen eigentlich, ein Abendessen in einem guten Restaurant, vor welchem er in dunklen Anzug, mit dunkler Brille und im schwarzen Mercedes vorfuhr. Aber es lohnt kaum weiter in diese Richtung zu erzählen, der Mann war ein Wichtigtuer, was ich schon nach etwa zwanzig Minuten merkte. Er machte mir Kompliment auf Kompliment, deutete an hier etwas aus der linksextremen Ecke zu wissen, dort Kenntnisse über die NSU-Morde zu haben, aber als ich ihm auf dem Zahn fühlen wollte, war da gar nichts. Nur der Wunsch, dass ich ihn doch nach Hause begleiten sollte, wo er Unterlagen habe, die mir einiges zeigen würden, womit ich niemals gerechnet hatte. Als er mir, die ich nun wirklich schon etwas skeptisch war, noch suggerieren wollte, dass er etwas über die wirklichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September wusste, war das Maß voll. Ich lachte schallend los und er fiel aus der Rolle. Wie ich später zufällig auf Umwegen erfuhr, war der Mann Concierge, der Mercedes geleast und der Anzug von C&A. Aber doch war das Ganze eine ungewöhnliche Masche und öfters habe ich mich seitdem mit Bekannten, köstlich darüber amüsiert.

Aber ich kam nicht voran, fast zwei Wochen hatte ich nun schon nur mit erfolglosen Telefonaten, Besichtigungen und Sport verbracht und es schien als sollte das Projekt Schriftstellerin nun in Ermangelung von Dingen, die zu Schreiben waren oder auch Inspiration, zum Scheitern verurteilt sein. Doch als ich wieder einmal mit meiner Mutter telefonierte, die meine Sorge prompt an meinen Vater weitergab, hörte ich ihn im Hintergrund rufen, dass ich es doch einmal über Radiosender versuchen sollte, was meine Mutter auch unverzüglich wiederholte. Menschen, deren Geschichte zu erzählen interessant war, meinte er natürlich. Das war das Tolle an meinen Eltern. Auch wenn sie mich mit ihren Sorgen über „Absicherung“ und „Perspektiven“ häufig auf die Palme bringen konnten und auch meist sehr enttäuscht waren, wenn ich berichtete, mich wieder einmal getrennt zu haben, so unterstützten sie doch das, was ich tat, mit guten Ratschlägen und Zuspruch. Und wieder einmal war guter Rat kostenlos gewesen, der Radiosender HR3 hingegen verschaffte mir für eine bezahlbare Gebühr, die nächsten Quelle meiner Interpretation.

Er hieß Lutz, Nachnamen seine unnötig förmlich, meinte er. Von Beruf war er Aktivist, hatte lange graue Haare, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Althippie war wohl der Eindruck, den er vielen vermittelt hätte, aber ich persönlich fand sehr schnell heraus, dass Lutz weitaus mehr als nur dieser eine Begriff war. Sein ganzes Leben lang war er auf Achse gewesen, wie er es nannte. Mit sechzehn war er zu Hause ausgerissen und nie nach Hause zurückgekehrt. Er war in West-Berlin geboren worden und war mit den 68ern auf die Straße gegangen. Hatte Häuser besetzt und Steine geworfen, war vom extrem Liberalen ins extrem Linke gerutscht und hatte sich dort aus weiter, zu einem glühenden Anhänger der Grünen gewandelt. „Peace and Love leben wollen, aber gleichzeitig Steine werfen, wie vertrug sich das?“ fragte ich ihn noch relativ am Anfang unseres Treffens und die Antwort, die er mir gab, hatte prompt mein Interesse geweckt. „Zu akzeptieren, dass man sich wandelte, dass das Vergangene einen Teil von seinem Selbst ausmache, man aber immer mit dem gegenwärtigen Produkt im Jetzt leben musste, hätte ihm bei diesen Fragestellungen sehr geholfen.

Das war eine interessante Philosophie in einer Zeit, in der „ganz oder gar nicht“ die gängigste Parole war. In der man gläubig oder ungläubig bzw. aufgeklärt sein musste, in der man sich für oder wider eine Partei zu positionieren hatte. In der die Wenigsten, gerade der intelligenteren Menschen, begreifen wollte, dass alles eine unendliche Grauzone und, gerade in der Politik ein Teil eines Gesamtkonzeptes war. Dass man Linke, Grüne oder NPD noch so glühend unterstützen und verehren konnte, im Endeffekt aber genauso wenig Recht oder Unrecht hatte, wie jemand, der andere Interessen verfolgte. Denn alle waren wir doch Teil des Ganzen, in einer Welt, in der wir „ganz oder gar nicht“ sein sollten.

Während wir auf der Suche nach einem Cafe oder einem Platz, an dem er mir in Ruhe erzählen konnte, durch die Fußgängerzone schlenderten, uns ob seines alternativen Äußeren immer wieder skeptische Blicke zugeworfen wurde und Menschen den Kopf schüttelten, begann er bereits, mich mit einer Fülle von unterschiedlichen Erlebnissen zu überschütten. Da es mir nicht richtig gelingen wollte, im Gehen anständige Notizen zu machen, schlug ich gedankenlos vor in den nächstbesten Laden zu gehen: Starbucks. Dass er sich mit diesem „kapitalistischen, imperialistischen Drecksunternehmen“ nicht anfreunden wollte, hätte ich mir eigentlich vorher denken können. Wir schlenderten also weiter, bis wir am Buttermarkt auf einen weniger global operierenden Kaffeeanbieter stießen. Dort entfaltete sich seine Geschichte weiter, eine, für dessen etwas unpräzise Wiedergabe ich mich im Voraus entschuldigen möchte. Aber es drängten so viele Informationen auf mich ein und wenn ich ihn bat, etwas zu wiederholen, schien er plötzlich von einem völlig neuen Erlebnis zu erzählen.

Es hatte keine Ordnung in Lutz‘ Leben gegeben, zumindest nicht in der Art und Weise, wie die meisten Menschen den Begriff verstanden. Er war von da noch dort gezogen, hatte nie etwas zu Ende gelernt oder durchgezogen, aber dennoch immer gut überlebt. Hatte auf eigenen Füßen gestanden, die nicht zu Ruhe gekommen waren, weil er die Bevormundung eines Brotherrn auf Dauer nicht hatte ertragen wollen. Nicht den mahnenden Blicken ausgesetzt sein wollte, die ihn für sein Äußeres kritisierten oder dafür, dass er sich nicht als sogenannter „produktiver Teil“ dieser Gesellschaft einfügen wollte. Und diese Reden und Blicke kamen immer wieder, allzu oft glaubten Menschen es besser zu wissen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Dabei war und ist Lutz sicherlich ein produktiverer Teil dieser Gesellschaft als so mancher, der sein Leben brav einer Firma und der Rentenkasse gewidmet hatte. Denn er hatte getan, gekämpft und verändert und trotz aller Niederlagen, nie aufgegeben.

Mit dem Kampf gegen das Etablierte, die Erben der Faschisten, die Kapitalisten und das System hatte sein friedlicher Krieg begonnen. Mit dem Versuch den Menschen klar zu machen, dass Geld und Besitz nicht ihr Glück definierten und nicht die Grenzen ihres Daseins ausmachen sollten. Er war ein Teil eines Kampfes gewesen, der von mindestens der Hälfte ganzer Jahrgänge ausgetragen worden war, die sich eben nicht fügen wollten, eben nicht die vorgedachte Welt ihrer Eltern und derer Eltern akzeptieren wollten. Nicht Teil einer arbeitenden Gesellschaft werden wollten, die sich brav Tag für Tag dem Mehrwert hingaben, während Regierungen, von denen man sich nicht repräsentiert fühlte, im Ausland Kriege führte und im besten Fall noch, ärmere Menschen verhungern ließ. Lutz war Teil einer Bewegung gewesen, die sich nicht die eine Zukunft, welche sie nun einmal hatten, vorgedacht und diktieren hatte lassen wollen.

Aber auch diese Menschen waren älter und viele sesshaft geworden. Hatten feste Jobs angenommen, feste Partner gefunden und Kinder bekommen, hatten finanziell abgesichert sein wollen und im Endeffekt die Waffen gestreckt. Waren „erwachsen“ geworden und das oft, ohne zu erkennen, dass sie nun ebenso waren, wie sie ihre Eltern einst betrachtet hatten. Als ich Lutz fragte, wie er damit zurecht käme, dass so viele seiner alten Freunde nun Teil des ehemaligen Feindbilds waren, war er wenig betrübt. Er sagte, er könne sich auch in diesem Fall daran freuen, dass sie auch so gewonnen hätten. Aber inwieweit hatten sie denn gewonnen, wo doch heute so unendlich viele Teil der sogenannten „produktiven Gesellschaft“ waren und oft mit Unbehagen und Missfallen auf jene blickten, die einen ähnlichen Weg gehen wollten, wie sie damals noch. Er erwiderte, sie hätten schon alleine dadurch gewonnen, dass die Vergangenheit immer noch Teil eines jeden von ihnen war. Dass es sich ausgewirkt hatte, dass die alten Überzeugen gedacht und getan worden waren. Dass allein dadurch, wie sie einmal gewesen waren, auch ihre Persönlichkeit in der Gegenwart beeinflusst worden war. Und selbst wenn einer die Überzeugungen seiner Jugend gänzlich vergessen hatte oder zumindest vergessen haben wollte, hatten sie doch seinen Werdegang beeinflusst und er konnte diesen Teil von sich nie ganz abschütteln. Dagegen konnte ich nicht wirklich argumentieren und heute glaube ich, dass er Recht gehabt hat.

Steine hatte Lutz nur wenige geworfen und das später, viel später. Erst als die Bundesregierung die Polizei hart und unerbittlich gegen das Jungvolk vorgehen ließ, das sich da nicht anpassen wollte. Dass marxistische Tendenzen hatte, mit den Roten jenseits der innerdeutschen Grenze sympathisierte und sich angeblich zum Ziel gesetzt hatte, eine anarchistische Gesellschaft in Deutschland zu erzwingen. Es wurde sich zumeist nicht die Mühe gemacht, den wahren Gehalt der neuen Ideen zu ergründen. Eher mit Polemik und Polarisierung, mit Schlagstöcken und Wasserwerfern auf die Demonstrationen und Forderungen reagiert. Ihren Eltern wurden, Lutz‘ Meinung nach, ebenso der Kopf gewaschen, wie schon damals zu Zeiten der Nazis. Es wurde nicht versucht zu verstehen und erst Recht nicht gewünscht, dass die frommen Bürger dies taten. Und so bediente man sich der alten Ängste, Marx und Engels und der Roten, jenseits der innerdeutschen Grenze, um dafür zu sorgen, dass aus der gegenkulturellen Jugendbewegung ein Generationenkonflikt wurde.

Aber das war viel später und erst nach einer dreijährigen Reise per Anhalter gewesen. Von Deutschland aus hatte es Lutz in die Türkei gezogen, gelockt von denen, die vor ihm gereist waren, gelockt von Selbstfindung und Austausch mit den östlichen Kulturen, die ihr Leben nicht nur nach monetären Werten auszurichten schienen. In Istanbul war er recht schnell angekommen, nach nur drei Wochen, in denen er sich weder geduscht noch rasiert hatte. Gut hätte er in die Runde der anderen Westler gepasst, die er dort kennengelernt hatte, die in großen Zahlen den Traum von spiritueller Selbstverwirklichung zu leben gedachten. Er war eine Zeit lang in der Hauptstadt geblieben, hatte das Nötigste erbettelt und manchmal erarbeitet, in dem er den einen oder anderen Gelegenheitsjob angenommen hatte. Aber sie waren schließlich nicht zum Geld verdienen hier, sondern um sich auszutauschen, gemeinsam in Frieden zu leben und sich der Liebe hinzugeben. Und das taten sie, nicht zu knapp. Rauchten Haschisch aus Wasserpfeifen, sprachen über Vorstellungen und Modelle, die Geld und Gewalt, Zwang und Hass obsolet machen sollten. Die besser sein sollten, aber doch nie umgesetzt wurden. Warum? Nun da gibt es verschiedene Meinungen zu.

Der Wendepunkt in seinem Denken, von dem Lutz am meisten erzählte, war allerdings erst anderthalb Jahre später eingetreten. Da war er gerade in Indien angekommen. Hatte bereits den Iran und Pakistan hinter sich gelassen und so Einiges über den Islam gelernt, das ihm gut gefallen hatte. Und sich selbst.
Aber die wirkliche Wende war dem Geburtsland des Buddhismus vorbehalten geblieben, der Blick nach innen auf seiner bisherigen Reise nicht in der Art erfolgt, in welcher er ihm nun möglich gemacht werden sollte. Ich muss vorweg nehmen, dass diese Überlegungen manch einem, der diese Zeilen einmal lesen wird, zu esoterisch vorkommen werden, zu wirklichkeitsfremd und wie Einbildung. Aber vielleicht können Sie sich ja dennoch, auf ein gedankliches Experiment einlassen, indem sie Lutz‘ Entwicklung verfolgen.

Im Iran hatte er die Aspekte des Islams kennengelernt, die heutzutage so gerne in Vergessenheit geraten. Die in unserer westlichen Welt, die immer säkularer wird und das, sie prägende, Christentum hinter sich lassen will, vergessen oder unterschlagen, auf jeden Fall aber vom Gesamtbild, welches uns von dieser Religion vermittelt wird, verdrängt wird. Selbstverständlich werden wir, wenn wir tagein tagaus über Islamisten, Salafisten, Extremisten und Fundamentalisten hören und lesen, die in einem Atemzug mit dem Terrorismus genannt werden, auch als erstes diese Assoziation haben, wenn jemand vom Islam spricht.

Die Gastfreundschaft der Gläubigen überraschte ihn. Sie luden ihn trotz, oder gerade wegen seines zugegebenermaßen verlotterten Äußeren, in ihre Heime ein, boten ihm Schlafstelle und Ernährung, ohne je auf die Idee zu kommen, dass er sie dafür eines Tages zurückzahlen konnte. Die Geduld aber, mit welcher die Männer ihm nach dem Abendessen oder in der Mittagspause Rede und Antwort standen, bewunderte er. Er konnte Fragen stellen, die er, sofern er sich heute noch an sie erinnerte, nur mit einem Kopfschütteln abtun musste, sie lachten oder belächelten ihn nie. Er lernte die Gottesfurcht kennen, begriff zum ersten Mal was es hieß, sich in sein Schicksal zu fügen. Nicht zu hadern oder zu hassen, sondern die Umstände, die nun einmal vorlagen, hinzunehmen. Ohne im Stillen zornig oder unzufrieden zu sein, ohne zu heucheln, wirklich zu akzeptieren. Das war ein großer Schritt für einen jungen Mann, der zwar offen für derartige Gedanken war, dessen Offenheit aber einer Ablehnung und Auflehnung gegen die heimatlichen Umstände entsprang. Der diese eben nicht akzeptieren, sondern die Welt verändern wollte.

Ebenfalls im Iran, vielleicht auch in Pakistan, so genau kann ich mich zu meiner Schande nicht mehr daran erinnern, verstand Lutz die Nächstenliebe. Das ging wohl mit der Gastfreundschaft Hand in Hand, aber es war ebenfalls viel mehr als das Konzept, welches sich wohl immer noch viele darunter vorstellen. Vielleicht mehr denn je. Die Nächstenliebe, die er erfuhr, basierte, ähnlich der Gottesfurcht, auf einer Form der Akzeptanz. Es war ebenfalls nichts, das erwarten musste, jemals in irgendeiner Form erwidert oder gedankt zu werden. So wie die eigenen Gedanken und Taten das ausmachten, was einer war und wie er sich verstand, so konnte er erkennen, dass andere aus einem vergleichbaren Gefüge bestanden. Das hieß nicht nur, dass er vielleicht eine andere Meinung vertrat, das hieß nicht nur, objektiv zu versuchen, seine Perspektive zu analysieren und zu begreifen. Nein, es war eine Akzeptanz gegenüber dem Menschen, bekannt oder unbekannt. Eine Überzeugung, ja ein Glaube, dass er ein Mensch war, wie man auch selbst einer war . Nicht mehr und nicht weniger wert als man selbst und aus ähnlichen oder fremden Mustern gestrickt. Wer das tat, musste den Blickwinkel des Fremden nicht erörtern, musste nicht seine Handlungen und Gedanken sehen, um ihn als Menschen zu begreifen. Konnte ihn lieben, wie er sich selbst lieben konnte.

Diese Liebe erfuhr Lutz‘ für ein Jahr, zog von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt und im Endeffekt von Land zu Land. Aber die Menschen blieben sich ähnlich, überall bekam er ein Dach über den Kopf und etwas zu essen, mochte er noch so arm sein. Er hat mir von einigen längeren Aufenthalten bei Familien erzählt, während welcher er wie ein Sohn oder Bruder behandelt wurde, regelmäßig lange Gespräche mit den Männern führte und viel über die Menschen lebte. Er hat mir erzählt, dass es interessant für ihn war, die Unterschiede von urbanen Gebieten und ländlichen Gegenden kennenzulernen, dass es ihm bei den einfachen Menschen meist jedoch besser gefiel. Mit ihnen konnte er zwar nicht über große politische Zusammenhänge und Prospekte sprechen, aber deshalb war er nun einmal auch nicht unterwegs. Er wollte sich selbst und die Bewohner der Fremde kennenlernen, welche er schon bald als seine Brüder und Schwestern begreifen konnte. Das einzige, was ihn seiner Aussage nach, vielerorts am Islam gestört hat, war die Diskriminierung gegenüber den Frauen, welche er doch ebenfalls als Menschen wie er selbst begriff. Menschen eines anderen Geschlechts, die nur aufgrund von Traditionen als zweitklassig behandelt wurden. Auch wenn das sicherlich nicht überall zutraf.

In Indien waren die Dinge anders. Dort gab es ganz offen Klassen, auch zwischen den Männern, die ebenfalls auf Jahrtausende alten Traditionen beruhten. Ein jeder hat zwar schon einmal vom Kastensystem gehört, aber Lutz glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er erst wenige Wochen dort weilte. Wie konnten sich Menschen freiwillig in solch eine Gesellschaft fügen, das hatte nichts mit Gottesfurcht und Schicksalsergebenheit zu tun, sondern war doch ein offensichtliche Methode, um die Unterschicht zu kontrollieren. Um die Menschen an ihrem Platz zu halten und sich selbst, das waren die Brahmanen und Kshatriyas, in besserer Stellung zu behaupten. Aber auch hier musste er lernen, dass nicht alles so einfach war, es kein einfaches schwarz und weiß gab. Dass der Hinduismus, der diese hierarchische Gesellschaftsanordnung stützte, weit komplexer war, als da so einer glauben wollte. Ich möchte im Folgenden jedoch nicht auf dieses begreifen eingehen, denn das würde den Rahmen sprengen, sondern lieber auf die Wende, die sich hier in seinem Denken vollzog.

Es war reiner Zufall, dass Lutz sich einer Gruppe anderer junger Westler anschloss, die ein Treffen mit einem buddhistischen Gelehrten besuchen wollten. Es war reiner Zufall, dass Lutz in Indien, einem Land in welchem der Buddhismus vergleichsweise geringe Bedeutung erlangt hat, einem solchen Weisen begegnete. Aber er tat es und auch wenn, durch die Übersetzung eines jungen Inders ins Englische, vielleicht einiger Sinngehalt verloren ging, so blieb es dennoch ein großer Schritt.

Viele Bekannte waren auf der Suche nach Transzendenz, nach einem nahezu überirdischen Übersteigen ihres jetzigen Bewusstseinszustands gen Osten aufgebrochen. Hatten erwartet oder gehofft, am Ende ihrer Reise ihre sterbliche Hülle zurücklassen zu können, um mehr zu sein als nur Mensch. Was Lutz aber an diesem Tag mitnahm, war weniger zu sein. Der Gelehrte stellte seine Wahrnehmung, seine Sinne und seine Gedanken in Frage. Wohingegen er durch den Islam, Liebe gegenüber seinem Nächsten verstanden hatte, so musste er hier nicht nur den Nächsten, sondern auch sich selbst in Frage stellen. Seine eigene Limitierung akzeptieren lernen. Und diese Limitierung war sein Geist, der sich Dinge griff, über welche er sich definieren konnte. Die ihm sagten: „Du bist das oder Du bist jenes. Reich oder arm, Deutscher oder Österreicher, schwarz oder weiß, Christ oder Moslem.“ Und wenn man erkannte, dass der Kopf dieses tat, dass die eigenen Gedanken einem den Weg zu Ruhe und Frieden versperrten, dann hatte man sich ein Stück weit befreit. Dann konnte man sich immer wieder dabei erwischen, wie man sich definierte. Was doch eigentlich völlig unnötig war, denn predigte nicht ein jeder, dass Objektivität das Richtige sei. Objektiver als seine eigene Subjektivität zu erkennen aber, konnte man nicht sein.

Lutz erzählte mir, dass dieses Wissen, welches er nicht nur als ein gedankliches Experiment betrachtete sondern mit absoluter Sicherheit für wahr hält, ihm seinen weiteren Lebensweg immer wieder erleichtern konnte. Und glaubt man es nun oder nicht, lässt man sich darauf ein oder lässt man es bleiben: Die Befreiung vom eigenen Leiden, einer ewigen Unruhe und einem Drang nach Mehr, konnte Lutz auf diesem Weg erreichen. Er blieb in etwa ein halbes Jahr in Indien und tat dann das, was die meisten nicht taten, er reiste ebenfalls auf dem Landweg zurück. Nahm sich ein weiteres Jahr Zeit, um noch einmal die Gastfreundlichkeit und die Fremde zu genießen, um das Erfahrene zu verarbeiten und über seinen eigenen Weg nachzudenken. Den Weg, den er beschreiten sollte, wenn er wieder zu Hause war, denn was fing man nun mit all diesem Wissen (oder Scheinwissen) an, wie sollte sein weiteres Leben aussehen. Er hatte sich einen Plan gemacht, einen Kompromiss zwischen der Welt seiner Eltern und seiner eigenen gefunden, aber zurück in der Heimat kamen die Dinge ganz anders.

In einem besetzten Haus in Kreuzberg, in welchem er als Arbeitsloser zunächst einmal untergekommen war, lief ihm ein alter Bekannter über den Weg, den er nun dreieinhalb Jahre nicht gesehen hatte. Hier brannte der Konflikt zwischen jung und alt, zwischen eingesessen und neuartigen Vorstellungen weiter hell, nur die Fronten hatten sich verhärtet. Die Polizei ging unbarmherziger gegen Kundgebungen und Demonstrationen vor und der sogenannte bewaffnete Widerstand der Roten Armee Fraktion, genauer gesagt, der ersten Generation, sollte dieses Durchgreifen rechtfertigen. Bald nach Lars‘ Rückkehr forderte dieser Widerstand die ersten Todesopfer und die vormalige Sympathie des jungen Mannes für die Gruppe schwand. Der alte Bekannte, mit dem er zusammen den Generationenkonflikt erlebt hatte, mit welchem er kiffend und philosophierend die friedliche Revolution besprochen hatte, war ein begeisterter Befürworter der radikalen Lösungswege geworden. Zu Anfang ließ sich Lutz noch auf Unternehmungen mit ihm ein, merkte jedoch schnell, dass er mit der Gewalt, welche die Veränderungen bringen sollte, nichts mehr gemein haben wollte.

Zu sehr hatte sich sein Denken auf der Reise verändert, zu sicher war er sich des Wertes des Lebens der vermeintlichen Gegner und der eigenen Unsicherheit geworden. Früher hatte er sich noch an der Mao-Bibel orientieren können, hatte er Verständnis und Glaube an die harte Linie entwickeln können, wenn sie nur die gewünschten Veränderungen mit sich brachte. Veränderungen, die doch für alle wichtig waren. Aber jetzt war er weiter, hatte innerlich entwickelt und verändert, was um ihn herum wohl, auf die Schnelle, nur mit Gewalt gehen würde. Und die lehnte er ab, auch wenn er das erst wirklich begriff, als sie die ersten Leben gekostet hatte. Erst eines der ihren und dann zwei des alten Feindbilds, der Polizisten. Männer, von denen er heute wusste, dass sie auch nur Menschen waren, die versuchten sich in dieser Welt zu arrangieren und ihre Pflicht zu tun.

Lutz‘ arbeitete ein bisschen hier, ein bisschen dort. Schwarz zumeist und nur gerade genug, um über die Runden zu kommen. Immer noch lehnte er es ab, sich einzufügen und sein Gehirn selbst zu waschen, aber er hatte auch den goldenen Mittelweg des Kompromisses gefunden, den er nun zu beschreiten versuchte. Mal hier, mal dort und immer auf Achse, aber nie zu Lasten der anderen, die die Sozialabgaben zahlten. Mal im Kampf für Asylbewerber, deren Behandlung er als inakzeptabel empfand, mal im Versuch, die Natur zu retten. Ganze Spezies von Tieren, letzte unberührte Gebiete Natur, die nun wirtschaftlich erschlossen wurden. Auch die Natur in der Heimat, die immer mehr Beton, breiteren Straßen, Fabrikschornsteinen, Wolkenkratzern und der Besiedlung weichen musste. Hier und da erreichte er etwas, hier und da waren er und seine unterschiedlichsten Mitstreiter erfolgreich, taten etwas, was ein Anfang war. Mit Trauer und Sorge musste er von der Richtung erfahren, die viele junge Menschen, die einmal mit ihm diesen Kampf begonnen hatten, nun einschlugen. Morde und Entführungen, Freipressversuche und Selbstmorde, ein unnötiges Sterben in einem unnötigen Krieg. Der Fall der Mauer, ein begrüßenswertes Ereignis, der Tod eines politischen Systems, das sich schon so lange von den einstmaligen Idealen entfernt hatte,

Aber was blieb, was immer bleiben würde, waren die Erfolge, die ein Mann wie er gehabt hatte. Nicht nur die gestoppten Bulldozer, die Proteste an Castor-Güterzügen und Kernkraftwerken, sondern das was man in den Köpfen der Menschen hinterließ. Sie setzten sich mit den Dingen auseinander, ob sie nun dafür oder dagegen waren, sie wurden aufmerksam und dachten über eine Besserung der Gesellschaft nach. Am Ende eines langen Gesprächs fragte ich ihn, wie er damit zurecht käme, dass so viele die Fahnen gestreckt hatten. Er war wenig betrübt, sagte, er könne sich daran freuen, dass sie gewonnen hatten.

Ich war sehr nachdenklich nach diesem Interview, musste das Gehörte lange auf mich wirken lassen, um eine Geschichte zu schreiben, die dem Erzählten entsprach. Welche die Bedeutung des Sieges, den ein Mann wie Lutz errang und weiter erringen wollte, angemessen wiedergab. Denn davon war er überzeugt: Er war noch lange nicht fertig und es gab immer einen Ort an dem er gebraucht wurde, etwas, was er für seine Heimat tun konnte, ob sie es wertschätzte oder nicht. Ob es in Ordnung ist, dass einer seine Überzeugungen an seine Mitmenschen weitergeben will und ob es rechtmäßig ist, dass er für sie entscheidet, muss jeder selber wissen.
Ob er zufrieden wäre mit seinem Leben? Das könne er noch nicht abschließend bewerten, er sei noch dabei. Er habe oft gewonnen und mit jedem Sieg wären neue Kämpfe hinzugekommen, die es auszutragen gelte.
Ich aber war nun erst einmal dankbar, dass er mich so zum Nachdenken angeregt hatte und beeindruckt von dem Eifer, mit dem er heute noch bei der Arbeit war. Mit dem er weiter machen würde bis, ich zitiere, „er zu Staub zerfiele.“
„Unterwegs“, hieß seine Geschichte.

Ich kann nicht leugnen, dass mich dieser Mann entscheidend beeinflusst hatte, als ich kurz darauf das Treffen für ein weiteres Interview vereinbarte. Ich war dabei die Geschichte, welche ich über ihn zu schreiben gedachte, zu skizzieren, einen Handlungsstrang zu entwerfen und die Gedanken daran spukten mir pausenlos im Kopf herum. So ging ich mit einer gewissen Erwartungshaltung zu dem Treffen mit der Frau, die sich bei mir gemeldet hatte und die mir aus ihrem Leben erzählen wollte. Schon im Voraus war ich enttäuscht, weil sie nicht auf diese faszinierende Art und Weise mit mir flirten würde, wie Lutz es getan hat. Ein Mann, der sich seines Tiefgangs und seiner Wirkung auf mich durchaus bewusst war, der von so vielen Umzügen und Romanzen berichtet hatte, dass ich beschlossen habe, sie hier gar nicht erst zu erwähnen. Wer von ihnen in abgewandelter Form lesen möchte, kann schließlich gerne die ganze Geschichte, die auf diesem Mann basiert, erwerben.

Melzer hieß sie, Irene Melzer. Eine gutaussehende Frau um die Vierzig, schick in einem roten, engen Rock gekleidet, einer weißen Jacke und Pumps. Ihre schwarzen Haare waren gefärbt, geglättet und zu einem Zopf zusammengebunden. Sie hatte das selbstbewusste Äußere einer Frau, die sich ihren Erfolg selbst verdient hat und auf ihren eigenen Beinen sehr gut Stehen konnte. Zunächst erwartete ich nicht, etwas so Spannendes wie die vorherige Lebensgeschichte zu hören zu bekommen, dann aber wurde ich überrascht, spitze die Ohren und ließ mich in den Bann ihres Lebens ziehen.

Was sie erzählte, begann langweilig, wirkte aber nicht so, denn sie konnte es begeistert präsentieren. Ihre Erzählung begann in der Gegenwart und führte zurück zu den Dingen, die das Jetzt geprägt hatten, jedoch erlaube ich mir aus strukturellen Gründen am Anfang zu beginnen.

Irene war in einen Arbeiterhaushalt geboren worden, ihre Mutter war zu Hause und kümmerte sich um die Kinder, die mit den Eltern die viel zu kleine Wohnung behausten. Geschwister hatte Irene zwei, sie war das mittlere Kind und, bis zu ihrer Einschulung, war ständig mit der Mutter unterwegs. Es ging zu Spielplätzen und in den Zoo, auf Radtouren und in den Spaziergang, zu Anfang noch mit beiden Brüdern, dann kam der Älteste in die erste Klasse. Während ihr Vater bei Daimler in der Produktion stand, lange Tage arbeitete und das Geld nach Hause brachte, waren sie unterwegs, immer draußen, um nicht drinnen in der Wohnung zu sitzen. Der Vater war müde, wenn er nach der Arbeit heimkam, es war besser wenn die Kinder es dann auch waren und nicht viel zu Rabbatz machten. Später, als alle drei zur Schule gingen, arbeiteten dann beide Eltern Vollzeit und sie gewöhnte sich daran, nach der Schule in einen Hort zu gehen. Dort gab es viel zu erleben und vor allem so viele andere Kinder, die die Sache spannend machten.

Irene hatte exzellente Zeugnisse und durfte nach der Grundschule aufs Gymnasium gehen, wohingegen ihr älterer Bruder die Hauptschule und der jüngere später die Realschule besuchen sollte. Auch hier fielen ihr die Schularbeiten ungewöhnlich leicht, das Wissen schien ohne Lernaufwand in ihren Kopf zu fliegen, aber weil sie ein fleißiges Mädchen war, lernte sie dennoch eine Menge. 14 Punkte in der Oberstufe in allen Fächern, außer in Sport, da waren es nur 12. Und das lag einzig und allein daran, dass die Lehrerin sie nicht mochte, weil sie sich weigerte, am Schwimmunterricht teilzunehmen. Dass sie von dem gechlorten Wasser im Schwimmbecken krank wurde, wollte sie ihr nicht glauben und Irene hatte deswegen nie einen Arzt besucht. Der Schrieb von ihrer Mutter aber galt nicht viel, sodass es eben nur 12 Punkte wurden.

Zwar beneideten sie einige Mitschüler, die mit ihr in den Kursen saßen, um ihre schnelle Auffassungsgabe, jedoch gab sich Irene nie arrogant und dass sie ebenfalls viel lernte, auch wenn sie es nicht gemusst hätte, konsolidierte weiter. Ihre offene und freundliche Art führte ebenfalls dazu, dass sie ein sehr populäres Mädchen war, sie half ihren zahlreichen Freunden beim Lernen und wusste sich auch im sozialen Rahmen immer gut zu unterhalten. Riss geistreiche Witze, führte tiefgehende Gespräche und war für alles offen. Lange begriff sie gar nicht, dass ihr Geist schneller arbeitete als der von vielen, sie bemerkte zwar, dass ihr das Lernen leichter fiel, zog daraus aber keinerlei Rückschlüsse. Die Jungen aber verschreckte sie hin und wieder durch ihren Intellekt, auch wenn es ihr nie in den Sinn kam, dass sie ihr zu wenig zu bieten hätten. So hatte sie erst in der zwölften Klasse einen Freund, wo doch die Freundinnen schon Jahre früher begonnen hatten, mit Jungen zu gehen. Diese Beziehung aber hielt dann auch bis nach dem Abitur, als sie fern der Heimat studieren ging.

Ihre Eltern, besonders der Vater, waren nicht überzeugt, dass ein Studium notwendig wäre. Der ältere Bruder arbeitete bereits seit Jahren, hatte eine Stelle im gleichen Werk wie sein Vater angetreten. Der kleine Bruder hingegen machte gleichzeitig mit ihr den Abschluss und wusste schon genau, wo er in die Lehre gehen wollte. Tischler wollte er werden. Das Geld zu Hause war immer noch knapp und die Eltern der Ansicht, dass sie schon lange genug gelernt hatte. Es jetzt an der Zeit für sie war, selbst ihr Geld zu verdienen. Da halfen keine Gespräche mit dem Tutor, dessen Gruppe sie in der Schule zugeteilt worden war. Da half auch keine besondere Empfehlung durch den Schulleiter, denn Irene hatte erwartungsgemäß das beste Abitur gemacht. Studium, das war nicht erwünscht, noch so viele Jahre ohne Broterwerb, auch wenn es ja nichts mit dem Geld zu tun haben sollte. Nicht bedeutsam war es, dass es dafür staatliche Unterstützung gab, egal, dass Möglichkeiten für Stipendien bestanden. Irene sollte sich nicht für zu wichtig halten, sollte nicht ihren Stand hinter sich lassen, denn auch wenn die Eltern natürlich wollten, dass die Kinder es einmal besser hatten und abgesichert waren, hieß das noch lange nicht Studium.

Letztendlich kam es zum Konflikt, Irene wollte nach wie vor studieren, die Meinung der Eltern hin oder her. Es kam zum Zerwürfnis mit ihrem Vater, der ihr jegliche Unterstützung versagte, sich weigerte ihr staatliche Unterstützung zu ermöglichen und ein ganzes Jahr nicht mehr mit ihr sprach. Seine Frau hielt den Kontakt zur Tochter und versuchte zu vermitteln, wollte sich aber doch nicht ganz gegen ihren Mann stellen. So kam es, dass Irene auf sich alleine gestellt anfing zu studieren und dabei zunächst auch ziemlich erfolgreich war. Um sich ein Zimmer leisten zu können und ihren Lebensunterhalt zu verdienen, begann sie Teilzeit als Vertreterin bei einer Firma zu arbeiten, die Marktführer im Staubsaugerhandel war. Das Unternehmen stellte sie gern ein, eine junge Frau mit exzellenten Zeugnissen, die obendrein äußerst sympathisch war, würde sich sicherlich sehr gut bei ihnen machen. Gedacht, getan, Irene verkaufte mehr als viele der Vollzeitbeschäftigten, die das Gewerbe schon seit Jahren betrieben.

Wenn sie von ihrer Tätigkeit als Vertreterin sprach, begannen ihre Augen zu leuchten, haargenau detailliert berichtete sie mir über die verschiedenen Sorten Menschen und wie sie zu überzeugen waren. Sie hatte Spaß am Kontakt mit den Kunden, hatte Spaß daran genau das sagen zu können, was diese hören mussten, um einen Geschäftsabschluss zu erwirken. Die Bandbreite war riesig. Jeder Mensch war gewiss anders, aber es war schon relativ leicht für die hübsche junge Frau, bei den Leuten die richtigen Knöpfe zu drücken. Ob das nun Humor oder der Wunsch nach Aufmerksamkeit, Begierde, Mitleid mit der jungen Verkäuferin oder Pragmatik waren, Irene lernte und lernte dazu. Sie war zu fleißig, um ihr Studium zu vernachlässigen, aber sie verspürte zunehmende Unlustgefühle wenn sie die Vorlesungen besuchte, sich lateinische Termini für allerlei Muskeln und Nerven in den Kopf hämmerte oder beim Präparieren an toten Körpern herum schneiden sollte. Unlustgefühle, die sie in dieser Ausprägung noch nicht kannte. Und die Kommilitonen waren in Ordnung, aber oftmals lange nicht so lustig wie die Freundinnen von früher, lang nicht so interessant, wie die Kunden beim Verkauf. Nur zwei Menschen lernte sie in ihrem Semester kennen, mit denen sie an den Wochenenden viel Zeit verbrachte und mit einem von ihnen riss der Kontakt ab, als sich herausstellte, dass er sie liebte. Sie diese Gefühle jedoch nicht erwidern konnte, gerne befreundet geblieben wäre, aber das wiederum konnte oder wollte er nicht.

Nach drei Semestern war ihr zum wiederholten Mal ein Angebot seitens ihres Arbeitgebers unterbreitet worden, die Stelle Vollzeit anzutreten oder zumindest doch mehr Stunden zu arbeiten. Auf Letzteres ließ sie sich ein, bis nach einem weiteren halben Jahr das Physikum anstand und nun auch sie sich entscheiden musste. Die Scheine bisher waren eine Sache gewesen, jetzt nahm der Lernaufwand drastisch zu und auch ihr flog das Wissen nicht mehr wie von selbst in den Kopf.

Mit Provisionen hatte sie nun im letzten halben Jahr monatlich gut 1300 DM verdient, eine beachtliche Summe, von der es sich exzellent leben ließ. Sie hatte Geld zurückgelegt, sich aber doch auch einiges geleistet. Das waren schöne Klamotten gewesen, Bücher, die sie des Nachts, wenn sie schlafen sollte, eines nach dem anderen verschlang und Schmuck in mittlerer Preisklasse gewesen. Auch über die Anschaffung eines alten Autos hatte sie nachgedacht, was die Anfahrtszeiten zur Arbeit deutlich reduziert hätte. Zwar bekam sie für den Verkauf einen Firmenwagen zugeteilt, musste den jedoch als Teilzeitbeschäftigte jeden Abend auch wieder zurückbringen. Und eine eigene Wohnung lockte ebenfalls, das 13 Quadratmeter Zimmer wurde auf Dauer doch sehr eng. Die Mitbewohner, die bis tief in die Nacht feierten oder lautstark miteinander schliefen, überhaupt kaum zur Uni zu gehen schienen, begannen ihr überdies ordentlich auf die Nerven zu gehen. So stand sie jetzt vor der Wahl die Nebentätigkeit, die ihr Spaß und ein ordentliches Gehalt einbrachte, vorrübergehend einzustellen und vom Ersparten zu zehren oder aber das Studium Studium sein zu lassen und sich voll und ganz auf den Beruf zu konzentrieren.

Es fiel ihr nicht leicht, den Grund für das Zerwürfnis mit dem Elternhaus aufzugeben. Nicht leicht jenes, wofür sie sich so durchsetzungsstark eingesetzt hatte, für welches sie verdient und geackert hatte, hinter sich zu lassen. Aber in der ihr eigenen Logik, im Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Entscheidungskompetenz, entschloss sie sich letztendlich doch dazu. Sie hatte eine lange Liste mit Argumenten für und wider eine Fortsetzung des Studiums angelegt, es sprachen gute Gründe für beide Seiten. Die intellektuelle Herausforderung, die besseren Zukunftsperspektiven und die Möglichkeit den Menschen zu helfen und ihren Teil beizutragen unterstützten eine Fortsetzung der Ausbildung. Dagegen aber sprachen die finanzielle Knappheit, der Zeitaufwand und das mangelnde Interesse, welches sie noch für die Medizin aufbringen konnte. Letztendlich aber folgte sie weniger den rationalen Beweggründen, als ihrem Herz, beziehungsweise dem eigenen Gefühl für die Dinge. Sie war lieber mit den Menschen im Verkauf in Kontakt, hatte mehr Freude daran sich mit ihrem Geist auseinanderzusetzen, als sie es sich für eine Heilung der fremden körperlichen Gebrechen vorstellen konnte. Sie wollte weiter ihrem eigenen Weg folgen, unabhängig sein und das tun, was ihr am besten gefiel.

Mit dem Abbruch des Studiums kam einiger bürokratischer Aufwand auf sie zu, der lästig und teuer war, sich aber bewerkstelligen ließ. Da war die Krankenkasse, die nun, da sie ihren Status als Studentin verloren hatte, weit höhere Abgaben einforderte. Da war das Finanzamt, für welches die Steuererklärung nun einiges an Umfang zunahm. Und Arbeitsverträge waren da, Karrierechancen und Fristen, die es zu berücksichtigen galt. In der Firma aber gewann sie an Status, jetzt war die erfolgreiche Verkäuferin nicht mehr nur eine Teilzeitkraft, sondern ein vollwertiges Mitglied der Beschäftigten. Sie bekam den Dienstwagen, den sie nun auch in der Freizeit nutzen durfte, ihr Gehalt verdoppelte und ihre Verkaufszahlen verdreifachten sich. Sehr bald zog sie aus dem Zimmer aus, welches fast die letzten zwei Jahre ihr Heim gebildet hatte und leistete sich eine eigene, moderne Wohnung, in der sie endlich den Platz zum leben hatte, auf welchen sie ihr ganzes Leben hatte verzichten müssen. Jetzt arbeitete sie eine vierzig Stunden Woche, aber das war in Ordnung, denn es war weit weniger zeitraubend als jener Aufwand, den sie vorher betrieben hatte. Endlich hatte sie die Wochenenden ganz für sich und einen wohlverdienten Feierabend. Zuvor hatte das Gewissen an ihr genagt, wenn sie nachts wachgelegen und gelesen hatte. Hatte sie eigentlich gewusst, dass der nächste Tag zu anstrengend werden würde und dass sie, wenn sie sich nun schon die Zeit nahm, am besten etwas Studienrelevantes lesen sollte. Wenn sie nun aber nach der Arbeit nach Hause kam, wusste sie, dass sie ihr Pensum erledigt hatte und sich frei nehmen konnte. Auch die Wochenenden waren jetzt ganz die ihren, sie konnte tun und lassen, was sie wollte und hatte auch noch einiges Kapital dafür, sich ihre Wünsche zu erfüllen.

Sie informierte ihre Mutter über den Wechsel ihrer Lebensumstände. Ihr Vater sprach zwar wieder einige Sätze mit ihr, wenn er den Hörer abnahm, aber die Wunde, welche die mangelnde Unterstützung ihres Lebensweges geschlagen hatte, war nie ganz verheilt. Sie hatten einander nichts zu sagen, überhaupt hatte sie ihren Vater kaum je wirklich gekannt. Da waren nur die Wochenenden gewesen, an welchen er die Kinder mit in den Schrebergarten genommen hatte. Wenn er keine Überstunden machte. Und in dieser knapp bemessenen Zeit war Irene noch ein Kind gewesen, hatte den Mann, der sie gezeugt und ernährt hatte, nie wirklich kennenlernen können. Und zu Zeiten des Gymnasiums dann, hatten die Wochenenden ganz anderem Treiben und Aktivitäten gedient.

Nach fast zweieinhalb Jahren, zu Weihnachten, fuhr sie das erste Mal wieder nach Hause. Sie hatte nun über ein halbes Jahr vollbeschäftigt gearbeitet, war selbstsicherer als je zuvor und wollte der Familie zeigen, dass aus ihr etwas geworden war und dass sie etwas aus ihrem Leben machte. Sie freute sich darauf die Geschwister wiederzusehen. Den großen Bruder, der ein eigenes Kind auf dem Weg hatte, der Kleine, der seine langjährige Freundin zum Fest mitbringen wollte. Im Dienstwagen und in schicken neuen Sachen, die sie sich extra zu diesem Anlass gekauft hatte, kam Irene spät nachmittags in der heimatlichen Straße an. Sie parkte ihr Auto, klingelte und wurde auf Anhieb durch den Türsummer hineingelassen. Die Treppen hinauf, Stockwerk um Stockwerk, Stufen, welche sie als Kind jeden Tag zurückgelegt hatte. Nichts hatte sich verändert, jeder Fleck an der Wand war noch derselbe, der ein oder andere Schuhabtreter war erneuert worden, doch sonst alles beim alten. Aber das Gefühl, welches sie früher gehabt hatte, wenn sie die Stufen emporgestiegen war, ob sie nun gute oder etwas schlechtere Laune gehabt hatte, wollte sich nicht mehr einstellen. Sie konnte es sich nicht erklären, doch dieses Haus wirkte bekannt und fremd zugleich. Wie ein Modell einer Stadt, von der man jede einzelne Straße und jeden Winkel kannte, das jedoch im Museum stand und ein Modell bleiben würde. Eine Replik von dem, was einmal gewesen war und vielleicht noch war, aber nicht für einen selbst, denn man gehörte nicht mehr dazu.

Und in der elterlichen Wohnung angekommen, von der Mutter freudig umarmt, den widerwilligen Vater auf die Wangen geküsst, wurde es nicht besser. Das Zimmer, welches sie mit dem kleinen Bruder geteilt hatte, war umgeräumt und diente jetzt als Wohnzimmer, auch der Weihnachtsbaum stand in ihm. Das rechtfertigte wenigstens diese Fremdheit, die sich trotz der Abdrücke der eigenen Hände an den Wänden, die in Farbe getaucht worden waren, auch hier einstellte. Und wenn sich in Flur und Küche alles wie früher war, jedes Möbelstück an seinem Platz, so war es doch gleichzeitig alles anders. Sie hatte keine Überlegungen über ihre Unterbringung angestellt, hatte trotz des Drucks und den Erwartungen, die dieser Besuch mit sich brachte, nicht daran gedacht, wo sie schlafen würde. Daher entschloss sie sich nach dem Abendessen, zu dem auch die Geschwister mit ihrer respektiven Begleitung gekommen waren, die Wände, die einmal ihre Welt umschlossen hatten, zu verlassen und sich ein Hotelzimmer zu nehmen. Weil es zu eng geworden wäre, wie sie sagte, aber in Wirklichkeit, weil sie dieses Seltsame nicht länger als nötig ertragen wollte. Am nächsten Tag kehrte sie schon zum Frühstück mit der Mutter zurück, es war Heiligabend und wieder tauchten die Brüder nach ihr, zu einem späten Mittagessen auf. Sie hatten genau wie der Vater vormittags noch gearbeitet, der Ältere im Werk, der jüngere, der Geselle im dritten Lehrjahr war, in der Werkstatt.

Im Laufe des Vormittags hatte sie schon feststellen können, dass sich die Fronten zu Hause verändert hatten. Die Mutter war stolz auf die Tochter, die eigenständig so viel verdiente und gut lebte, aber konnte sich Kommentare zum Abbruch des Medizinstudiums anscheinend nicht verkneifen. Und das sollte nur auf ein Vorgeschmack auf ihr Verhalten beim Mittagessen sein, welches wiederum zu den darauf folgenden Ereignissen führte.

Sie saßen gemeinsam bei Tisch, zu diesem Anlass hatte der Vater in ihrem alten Zimmer, dem Wohnzimmer, einen großen Tisch aufgestellt, an dem sie alle mühelos Platz hatten. Denn sie waren zu siebt, die Freundinnen der Geschwister waren wieder dabei. Und dann entlud sich der mütterliche Zorn, der sich wohl all die Jahre angesammelt hatte. Es begann damit, dass sie Irene mehrfach in kommandierendem Tonfall aufforderte, ihr bei diesem oder jenem in der Essensvorbereitung zu helfen. Diese tat das auch bereitwillig, wohingegen die Freundin des kleinen Bruders, welche ebenfalls zur Hand gehen wollte, konsequent ignoriert wurde. „Kannst Du das denn, wo Du doch keinen Mann hast?“ und „Ist das nicht zu schwer für eine Studentin, ich meine Ex-Studentin?“ war nur der Beginn eines Trommelfeuers, das von den morgendlichen Indizien abgesehen, aus dem Nichts zu kommen schien. In keinem einzigen Telefonat hatte es Anzeichen für derartige Gefühle gegeben. „Es hat doch bestimmt einen Grund, weshalb Du nicht den Richtigen findest?“ Irene löffelte die Tomatensuppe, die es als Vorspeise gab. „Ist dir das Essen zu einfach, jetzt wo du etwas Besseres bist?“ Betretene Blicke wurden zwischen den Freundinnen der Brüder gewechselt, die eine von welchen sichtbar schwanger war. „Ach lass das doch, Du bist doch zu Besserem bestimmt.“ Irene sammelte weiter die leeren Suppenteller ein. Und als ihr Vater, von dem sie das am Wenigsten erwartet hatte, dann zu ihrer Verteidigung schritt und ein Machtwort sprach, war das Maß bereits voll. Es tat zwar gut, noch einmal den väterlichen Schutz zu spüren, aber Irene war bereits zu verletzt und aufgebracht, um die Wogen noch einmal zu glätten. Sie hatte das „Du schenkst uns sicherlich keine Enkel, oder?“ ertragen, aber dann war es genug gewesen. „Es war ja klar, dass Du nicht das Zeug zum Studieren hast, wir haben dir das doch damals schon gesagt.“ war zu viel gewesen, als die eine Schwägerin in spe nach ihrer Arbeit gefragt hatte. Irene hatte sich von den anderen verabschiedet, der Schwangeren Alles Gute gewünscht, „Frohe Weihnachten“ gesagt und die Wohnung verlassen. Die Geschenke, darunter auch der teure Schal für die Mutter, nach dem sie so lange gesucht hatte, ließ sie dort. Erst im Wagen holte sie ein Weinkrampf ein.

Die Anerkennung, welche ihr die Familie nicht zuteilwerden lassen wollte, versuchte sie durch jene in der Firma zu ersetzen. Und das gelang recht gut, Irene war erfolgreich und sympathisch, keine von denen, welchen der Erfolg zu Kopf stieg. Sie verdiente gut, wurde bald befördert, auch wenn die Arbeit eigentlich die gleiche blieb. Nun verwaltete sie eine ganze Region, sprich die Angestellten, welche für sie eingestellt waren. Aber die meiste Zeit fuhr sie doch noch selbst mit dem Wagen zu den Kunden, verkaufte mit jetzt höheren Provisionen und auch höherem Festgehalt. Die Unterstützung, welche ihr der Vater früher und die Mutter später versagt hatten, erhielt sie von Seiten ihres Chefs, der wusste, was er da eingestellt hatte und wahrscheinlich auch so einfach ein netter Kerl war. Er motivierte sie, wenn sie doch einmal von der Routine frustriert war, was schließlich den Besten passierte. Er griff ihr unter die Arme, wenn sie Schwierigkeiten mit einem der Untergebenen hatte und mangels Erfahrung nicht wusste, wie zu reagieren war. Und irgendwann lud er sie abends zum Essen ein. Eine Einladung, die sie nach einigen Zögern und Nachdenken auch annahm. Er war geschieden, hatte einen Sohn, für welchen er das Sorgerecht nicht bekommen hatte. Er war 14 Jahre älter als Irene, hatte einen leichten Bauchansatz, sah sonst aber jünger aus als die 40 Jahre, welche er in diesem Jahr knacken sollte. Er kochte für sie bei sich zu Hause und er kochte gut. Irene selbst hatte der Tätigkeit nie viel Aufmerksamkeit gewidmet und sie nie wirklich erlernt.

Fasziniert war sie von den Shrimp-Cocktails, die er zauberte und der Kalbslende, die er so briet, dass das Fleisch von innen nach außen sämtliche Schattierungen zeigte. Selbst gemachte, mit Vanille-Creme und Aprikosen gefüllte, Blätterteigtaschen als Dessert, der Mann konnte sogar backen. Und das exquisit, leise rieselten die Teigkrümel auf die Couch, auf welche sie zum Verzehr des Nachtisches umgezogen waren. Sie trank eine ganze Menge Wein, sie unterhielten sich blendend, seine Allgemeinbildung war umfassend. Aber sie tangierten nicht nur die gegenseitigen Felder von Interesse, sondern sprachen auch von den unschönen Dingen in ihren Leben, denen, welche man zu so einem Anlass doch zumeist unerwähnt lassen würde. Er erzählte von seiner Ehe, der Scheidung und seinem Sohn, den er nun kaum zu Gesicht bekam. Und getrieben von seiner Ehrlichkeit, dem Ambiente und dem Wein, sprach sie von ihrem Elternhaus, von dem Verständnis, das sie dort so lange nicht mehr erfahren hatte. Sie weinte, als sie die Vorfälle des Weihnachtsfestes noch einmal ausgrub, welches nun schon zwei Jahre zurücklag. Welches das Ende des Kontaktes mit den Eltern und den Beginn äußerst sporadischer E-mails mit den Brüdern markiert hatte. Er nahm sie in den Arm, kurz darauf küssten sie sich. Sein Alter schoss ihr noch für einen Augenblick durch den Kopf, seine Funktion als ihr Chef, dann spielte auch das keine Rolle mehr.

Sie schlief bei ihm, brach früh morgens erst zu sich auf, um sich zu duschen und für die Arbeit fertigzumachen. In der Firma hatte sie zu Beginn Angst, dass die gemeinsame Nacht die Dinge verändern würden. Dass es der Zusammenarbeit im Weg stehen, sich herumsprechen oder sonst in irgendeiner Form Probleme bereiten würde. Aber er stellte noch an diesem Morgen klar, dass es sich für ihn nicht nur um eine Nacht gehandelt hatte, sofern sie dies denn auch wollte. Dass sie ihm schon sehr lange gut gefallen würde. Sie wollte.

Die Arbeit blieb Spaß, bis sie eines Tages wieder befördert wurde. Klaus, der jetzt ihr fester Freund war, war schon lange nicht mehr ihr direkter Vorgesetzter. Nachdem man die Firma ordnungsgemäß von der Beziehung informiert hatte, war er versetzt worden. Nun sollte es auch für Irene heißen, den Außendienst ein für alle Mal hinter sich zu lassen, einen deutlich besser bezahlten Bürojob anzunehmen und die Karriereleiter einen Schritt weiter empor zu klettern. Sie war jetzt 33, nahm die Beförderung an und verdiente viel Geld, von dem sie sich die schönen Dinge leisten konnte, die ihr so gefielen. Von dem sie sich vor allem aber, mit Klaus zu gleichen Teilen ein schönes Haus leisten konnte. Die Beziehung lief trotz des Altersunterschiedes hervorragend, aber sie waren beide voll berufstätig und sahen einander nicht zu viel. Im Innendienst aber machte die Arbeit Irene keinen Spaß mehr. Viel zu wenig gab es noch den Kontakt zu den Menschen, der ihr die Arbeit schmackhaft gemacht hatte, viel zu oft war es langweiliger Papierkram. Und aus dieser Motivation heraus ergab sich etwas Neues.

Klaus wollte gerne noch einmal Vater werden und auch Irene sehnte sich nach einer Veränderung. Auch wurde sie nicht jünger und einen viel besseren Mann als den, mit dem sie jetzt zusammenlebte, konnte sie sich nicht vorstellen. Als sie tatsächlich schwanger wurde, heirateten sie. Nach neun Jahren, die sie ihre Eltern nicht gesehen hatte, lud sie sie zu ihrer Hochzeit ein. Die Zeit hatte sie verändert, innerlich wie äußerlich. Irene war zufrieden, ihr Selbstbewusstsein konnte ihr nicht mehr genommen werden, wie damals an dem verhängnisvollen Weihnachten. Und weder ihr Vater noch ihre Mutter griffen eines der alten Streitthemen noch einmal auf, sie schienen sich ernsthaft über das Glück der Tochter zu freuen. Sie waren gealtert, der Vater gezeichnet von der jahrelangen Arbeit in der Fabrik. Und Irenes Mutter hatte einen krummen Rücken. Aber hier und heute akzeptierten die Eltern die Frau, die ihre Tochter und nun erwachsen, die ihren eigenen Weg gegangen war.

Als die gemeinsame Tochter in den Kindergarten kam, nahm Irene ihre Tätigkeit bei der Firma wieder auf. Und dies bereitete keine größeren Schwierigkeiten, denn sie wollte von vorneherein wieder im Außendienst anfangen, sehnte sich nicht danach, um ihren besser bezahlten Büroposten zu kämpfen. Seit dem ist sie wieder, unterbrochen von einer weiteren Schwangerschafts- und Elternzeit als Leiterin eines Teams für eine Region tätig. Und wenn ihr die Arbeit doch einmal langweilig wird, dann macht Irene sie sich interessanter, beispielsweise indem sie gezielt schwierigere Kunden berät oder Geräte verkauft, die kaum zu verkaufen sind. Heute hat sie zwei Kinder, lebt glücklich mit Klaus in dem gemeinsamen Haus und die Beiden verdienen gut genug, um den Kleinen unglaublich spannende Urlaubsreisen und eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Sie ist ihren Weg gegangen und ist glücklich.

Ein Aspekt an Irenes Geschichte, der bei mir besonders einschlug, war eine gewisse Schicksalskomponente. Natürliche meine ich damit keine wirkliche Vorherbestimmung, keine unausweichliche Entwicklung oder Werdegang, aber ich konnte nicht umhin, einen gewissen Kreis zu bemerken, in welchem sich ihr Leben bewegte. Ich hoffe ich habe ihre Geschichte derart wiedergegeben, dass auch die Leser nachvollziehen können, wie sie versuchte aus einem Rahmen auszubrechen, um dann letztendlich doch in einem Vergleichbaren glücklich zu werden. Dass die Dinge, denen man zu entgehen versucht, einen immer wieder einholen, man sich ihnen aber doch auf diese oder jene Weise stellen kann. Und dass man die Rahmen und Grenzen, innerhalb welcher man sich bewegt, ausschmücken und zum persönlichen Glück werden lassen kann. Ein Werk, welches auf ihrem Lebensweg basiert, habe ich unter dem Titel „Sell yourself“ veröffentlicht.

Sie fuhren die Straße entlang, aus Kabul kommend gen Westen, die sie jeden zweiten Tag benutzten. Es war geschickt die Routen zu alternieren, aber nur so viel konnte getan werden, wenn es einen Auftrag zu erfüllen gab. Man fuhr zu unterschiedlichen Tageszeiten und in unterschiedlicher Besetzung, mal war ein schwer gepanzertes Fahrzeug dabei und mal nicht, aber nur so viel konnte getan werden, wenn die Pflicht rief. Die Offiziere tauschten die Männer aus, sie stellten sicher, dass jeder nur maximal einmal pro Woche außerhalb der Stadt unterwegs sein musste. Natürlich bestand auch innerhalb Kabuls ein gewisses Risiko, jedoch war es weitaus gefährlicher im Konvoi auf Patrouille zu sein. Heute waren Friedrich Wilhelm und Bernd wieder einmal dabei, aber auch diese Tätigkeit war zur Routine geworden. Die Beiden hatten Härteres erlebt, auch wenn Bernd sich eingestand, dass die konstante Bedrohung eine ebenfalls äußerst unangenehme Erfahrung war. Aber es waren die Jüngeren, deren Hände hier zitterten, die unerfahrenen Männer, deren Herzschlag man beinahe hören konnte, wenn man nur neben ihnen saß. Aber es war verständlich, sie hatten noch keine Kamperfahrung gesammelt, hatten nie unter Beschuss gelegen oder überhaupt einen Einsatz mitgemacht. Grundausbildung, Fortbildung und Drill bereiteten einen eben nur begrenzt darauf vor, was einen dann wirklich erwartete. Sie waren ja noch fast Kinder diese Jungs und leider in brenzligen Situationen meist eher ein Hindernis als eine Hilfe. Die Aufregung verließ einen nie, wenn es plötzlich zu Kampfhandlungen kam, das Adrenalin peitschte auch durch die eigenen Bahnen und das war verdammt gut so. Aber bei den Neulingen war es eben mehr als das. In den Dreck werfen und Deckung nehmen konnten sie schon, aber ihre Aufregung schlug trotz der Übungen und Manöver oftmals in Panik um und Panik konnten sie hier nicht gebrauchen. Wildes drauflos Schießen war nicht das, was man sich hier leisten konnte oder durfte. Aber meistens kam es ja gar nicht dazu, offene Feuergefechte waren hier äußerst selten. Heute saßen sie im Dingo, dem langen, fünf Mann nebst der Fahrzeugbesatzung die aus Fahrer, Richtschützen und Kommandant bestand. Friedrich Wilhelm, er selbst und drei grüne Jungs, frisch aus Deutschland eingeflogen. An zweiter Stelle im Konvoi ruckelte es die Straße hinab und Bernd schloss für einen Augenblick die Augen.

Ihren ersten gemeinsamen Einsatz hatten er und der Kamerad vor mittlerweile mehr als zehn Jahren hinter sich gebracht. Auch hier, in diesem so zersplitterten und unberechenbaren Land, in dem sich die Menschen untereinander, vor allem aber die ausländischen Mächte, die Kontrolle ausüben wollten, bekämpften. Damals waren sie beide selber noch grüne Jungs gewesen, die sich in den letzten Wochen der Grundwehrdienstzeit kennengelernt hatten und dann gemeinsam hierher abkommandiert worden waren. Da waren sie selbst diejenigen mit den zitternden Händen, selbst ratlos, wenn etwas nicht nach Plan lief und immerzu nervös gewesen. In den ersten Tagen, die sie im Lager zugebracht hatten, nur Stunden vor ihrer ersten Patrouille, hatte der ISAF Einsatz das erste deutsche Todesopfer gefordert. Mine oder IED, so genau wusste er das nicht mehr, aber es war sicherlich eines von beiden gewesen, nur selten erwischte es einen hier in offenem Feuergefecht. Die Nachricht hatte sich damals wie ein Lauffeuer durch den Stützpunkt verbreitet und Bernd hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht. Gerade heute, an dem Tag wo er das erste Mal ausfahren musste, begann die Kacke also erst richtig zu dampfen. Na toll, das konnte auch nur ihm passieren. Friedrich Wilhelm hatte sich zu ihm gesellt, beide hatten sie mit Sonnenbrillen unter der heißen Sonne gestanden und darüber spekuliert, was sie erwartete. Friedrich Wilhelm hatte Angst gehabt, zum ersten Mal aus seinem Leben vorm Bund erzählt und die erste Zigarette in seinem 20 Jahre alten Leben geraucht.

Der Kamerad war als dritter Sohn in eine Familie geboren worden, die alte Traditionen und Vorstellungen hatte. Der Adel brachte, der Ansicht seiner Eltern nach, ungezählte Verantwortungen mit sich, denen man gerecht zu werden hatte. Denen er gerecht zu werden hatte. Der Vater war aktiver Offizier gewesen, leitete nun ein Investment-Büro, welches reichlich Geld einbrachte. Die Besitzungen im Osten waren nach dem zweiten Weltkrieg verloren gegangen und jeder war seines Glückes Schmied, aber wer nicht gedient hatte, aus dem konnte auch nichts werden. Wehrdienstverweigerung war ein Schimpfwort, eine Schande, wenn man aus einer Familie stammte, die seit dreihundert Jahren in männlicher Linie Offiziere hervorgebracht hatte. Preußische Offiziere, dann Offiziere des Reiches. Es war eine herbe Enttäuschung für Friedrich Wilhelms Vater gewesen, als die älteren Brüder nach Ableistung der Wehrpflicht die Truppe wieder verlassen hatten, um zu studieren. So wurden alle Hoffnungen in den jüngsten gesetzt, der allerdings nur die Realschule besuchte und ohne weitere Berufsausbildung nicht Offizier werden konnte. Aber als er dann den Schulabschluss in der Tasche hatte, war ihm solange einzig und alleine eine Karriere bei der Bundeswehr als Beruf nahegelegt worden, dass er gar nicht anders konnte, als sich zu verpflichten. Er hatte unter den familiären Verpflichtungen gelitten, unter all der Verantwortung, die ihm auferlegt wurde und es war ein Befreiungsschlag gewesen, in den aktiven Dienst einzutreten. Plötzlich wurde er nicht mehr für jede Kleinigkeit kritisiert, plötzlich war er der Sohn, der es richtig machte und auf den man stolz war. Zwölf Jahre verpflichtete er sich als Feldwebel.

Bernd selbst hatte keinen derartigen Hintergrund, keine militaristische oder traditionelle Familie, eigentlich überhaupt keine richtige Familie. Nur eine Mutter, der Vater hatte sie noch während der Schwangerschaft verlassen, monatlich seinen Scheck geschickt und sonst nie Interesse an seinem Sohn bekundet. Der hatte es ebenfalls nicht ganz leicht gehabt, hatte früh lernen müssen, unabhängig zu sein, denn seine Mutter hatte Vollzeit gearbeitet und war nicht da, wenn er aus der Schule kam. Er hatte viel Zeit bei Klassenkameraden verbracht, hatte schon in der Grundschule gelernt, sich selbst sein Mittagessen zuzubereiten und sich alleine zu beschäftigen. Mit Legos und Autos oder Büchern, aufgeweckt war er gewesen, hatte früh angefangen zu lesen. Aber mit der Mathematik hatte er Schwierigkeiten gehabt, war mit den Rechenaufgaben nicht so gut zurecht gekommen und kein Interesse daran gehabt. Das hatte ihm seine Realschulempfehlung eingebracht, der er auch gefolgt war. Als Jugendlicher war er viel mit Bekanntschaften unterwegs gewesen, auf welche er heute nicht mehr stolz war. Hatte sich des Öfteren geschlagen, mit den anderen geprahlt, früh die erste Freundin gehabt und die Schule nicht zu ernst genommen. Hatte viel geschwänzt und auch mit der Polizei zu tun gehabt, hatte aber nie einen Eintrag ins Führungszeugnis hinnehmen müssen. Bernd hatte seinen Zorn und seine Unzufriedenheit, von der er nicht einmal genau wusste, woraus sie resultierte, gegen jene gerichtet, die ihn zwingen wollten, sich in ihre Gesellschaftsordnung einzufügen.

Heute dachte er manchmal, dass die Wut vielleicht daraus resultiert war, dass er nie seinen Vater kennengelernt hatte, aber heute wollte er das auch nicht mehr. Der Ärger der Pubertät war verraucht, er hatte oftmals seinen Mann gestanden, war mit sich im Reinen und wollte den Feigling, der ihn gezeugt hatte, auch nicht mehr kennenlernen. Für Bernd war die Karriere bei der Bundeswehr nach einem äußerst mittelprächtigen Schulabschluss dreierlei gewesen: Zum einen hatte er die Aufregung gesucht und keine langweilige Lehre oder Ausbildung antreten wollen. Zum anderen hatte der Bund ihm eine Möglichkeit geboten, schnell gutes Geld zu verdienen und er hatte unabhängig sein wollen. Vor allem aber war ihm die Möglichkeit für einen Neustart gegeben worden, von dem er selbst wusste, dass er erforderlich war. Die Jungs, mit denen er in den letzten Jahren herumgehangen hatte, schossen sich größtenteils auf recht offensichtliche Ziele ein. Kriminalität und Gefängnis oder Arbeitslosigkeit, beides von welchem ihn wenig reizte. Nur wenige schafften den Ausbruch, fügten sich in die Gesellschaft ein und schwammen in ordentlichen Bahnen. Und so hatte Bernd sich verpflichtet, gleich im Kreiswehrersatzamt bei der Musterung. Und war zur AGA in Erfurt eingerückt, wo er den Kameraden und heute guten Freund, Friedrich Wilhelm, kennengelernt hatte.

Die Grundausbildung war hart, danach wurde es einfacher. Wurde man nicht mehr vollkommen sinnentleert angebrüllt, den Verboten zum Trotz schikaniert und pausenlos gedrillt. Wurden nicht mehr die Sachen aus den Spinden gerissen, um fünf Minuten später eine Kontrolle derselben anzusagen. Beim Heer war scheint’s alles härter als bei anderen Waffengattungen, beim Heer fraß man Dreck und Staub bis man es gerne tat. Aber nach der AGA waren die Vorgesetzten plötzlich kameradschaftlich, fast jovial und das Soldatentum wurde zu einem Beruf wie jeder andere auch. Und dann hatten Friedrich Wilhelm und Bernd schon vor der Baracke in Afghanistan gestanden und Zigarette um Zigarette geraucht, um ihre Nerven zu beruhigen. Doch geholfen hatte das wenig, als sie auf Patrouille tatsächlich in einen Hinterhalt gerieten, aus dem Beruf wie jeder andere plötzlich etwas ganz Eigenes wurde. Tödlicher Ernst.

Aus dem Wagen raus, Kopf runter, rennen. „Deckung!“ brüllt der Gruppenführer, aber da hat Bernd schon die Orientierung verloren.
Eben noch waren sie langsam die Straße entlang gerollt, waren sie im geschäftigen Treiben versunken, das die Kabuler Innenstadt dominiert. Stand an Stand, Straße über Straße, Seitengassen und Plätze. Geschnatter in fremden Zungen, lautstarkes Feilschen, Frauen in Burka, Frauen ohne Burka, Männer, unzählige Kinder. Fremdartige Gerüche drangen durch bis in den gepanzerten Innenraum des Patrouillenfahrzeugs. Überall wurde gebraten und gekocht, lebendes Vieh, Stoffe und andere Waren aller Art und Güte gehandelt. An die Soldaten, welche die Flanken des Konvois auf Schusters Rappen decken, traten ununterbrochen Einheimische heran. Boten in gebrochenem Englisch und Zeichensprache Dinge zum Verkauf an, wollten sich unterhalten oder bedanken, viele Kinder bettelten oder waren schlichtweg neugierig. Die meisten der ISAF-Soldaten kannten dieses Spiel bereits, erwiderten freundlich aber ablehnend. Aber so leicht ließen sich die Menschen nicht beirren, sie bedrängten die Fahrzeuge, eine Gruppe von Jugendlichen klopfte Vehement auf das Fenster der Beifahrers ein. Bernd beobachtete interessiert und unbesorgt, wie sich zwei Kameraden den Jungen näherten, um sie von dem Dingo wegzubewegen, als der Frieden jäh endete. Drei Schritte waren die Soldaten noch entfernt, als ein Schuss die Stille zerriss und die Scheibe durch die Bernd hinausgeblickt hatte von Blut besprüht wurde. Detonationen, Gewehrfeuer.

„Raus, raus, raus!“ brüllt der Fahrer
Kugeln zischen in der Luft, er kann sie hören, glaubt den Luftzug einzelner zu spüren. In welche Richtung soll er, sie sind an zweiter Stelle gefahren, aber der Wagen vor ihnen ist nun in Brand und qualmt vor sich hin. Wo sind die Kameraden hin? Liegen sie zwischen den Fahrzeugen und von woher kommt das verdammte Feuer. Bernd schmeißt sich hinter dem Wagen, der an letzter Stelle gefahren ist, zu Boden. Aber der Staub und Sand, der um ihn herum aufwirbelt, dieses peitschende Pfeifen der Geschosse lassen ihn wissen, dass er hier nicht sicher ist! Nur wohin? Er presst sich an den Boden, legt die Arme schützend über den Kopf, hält sich die Ohren zu. Aber dann ist Friedrich Wilhelm schon bei ihm, drischt auf seinen Rücken ein, bis er aus der Starre erwacht. Bis er beginnt neben dem Kameraden unter das Fahrzeug zu robben, drunter hin weg und hin zur Mitte des Konvois. Sie sind fast aus dem Schussfeld als ein Projektil seinen Stiefel zerreißt. Er bemerkt es kaum, spürt nur einen dumpfen Schlag im Fußbereich. Hinter dem Fahrzeug nach rechts, um die nächste Ecke, da hocken die Männer in Deckung und beginnen das Feuer zu erwidern. Und nun feuert auch Bernd, worauf genau das weiß er nicht, nur dass er auf ein Gebäude am Ende der Straße zielt. Er sieht niemanden, kein Mündungsfeuer gar nichts. Aber ihr Schießen scheint Erfolg zu haben, denn als das Kommando „Feuer einstellen!“ kommt, sind die Schüsse der Kameraden die einzigen, die noch fallen. Als Bernd sich an seinen Fuß erinnert und hinab blickt, sieht er, dass die Kugel die Sohle durchschlagen hat und neben seinem großen Zeh den Stiefel zerrissen hat. Nur ein hauchdünner Kratzer ist an der Innenseite zurückgeblieben.

In dem Moment, in welchem Bernd aus den Bildern seiner Erinnerung zurückkehrte, holte sie ihn auch schon wieder ein. Der dumpfe Knall einer Explosion, panische Gesichter bei den Jungs, raus, aus dem Wagen! Déjà-vu: Das Fahrzeug vor ihnen rauchte, Gewehrfeuer begann auf die Kolonne zu regnen. Beste Deckungsmöglichkeit links hinter dem Konvoi. Auch aus den anderen Wagen kamen sie nun gerannt, der MG Schütze schwang die Lafette herum und zog den Kopf ein. „Hier lang!“ schrie Bernd. Friedrich Wilhelm rannte direkt neben ihm, sie kamen an, warfen sich in den Staub, robbten in Feuerposition. Bernd sah sich um, die drei Grünschnäbel fehlten. Wo waren die Idioten? Andere Soldaten schmissen sich links und rechts von ihnen nieder, aber darunter nicht ihre Bubis. Zurück, zurück, da hockten sie, hinter einem Fahrzeug, in direkter Feuerlinie von der Flanke. Friedrich Wilhelm ohrfeigte den einen, Bernd tat es ihm gleich, biss sich vor Schmerz auf die Lippe, als er seine Finger gegen den Helm des jungen Mannes drosch. Aber sie folgten jetzt, der Freund bildete den Abschluss. Wieder in Deckung, geschützt von zwei Seiten, die Kameraden bereits dabei das Feuer zu erwidern. Das MG fing endlich an zu schreien. Doch als Bernd sich erneut umblickte, um sicherzustellen, dass der Feind sie nicht umging, sah er Friedrich Wilhelm vielleicht zehn Meter hinter sich im Dreck liegen. Hin zu ihm, robben, springen, er und ein Grünschnabel zerrten den Kameraden mit sich, aber es war umsonst. Durchschuss durch den Helm, Frontaltreffer, Kopfschuss. Tot.

Als er an diesem Punkt, dem Ende seiner Erzählung angekommen war, hielt Bernd inne und wischte sich über die Augen. Ich schluckte, wusste nicht, wie ich mit dem gerade Erfahrenen umgehen sollte. Ob es galt, ihm mein Beileid auszusprechen oder einfach still zu sein. Das war nun wirklich nicht was ich erwartet hatte, als ich mit dem Projekt begonnen hatte, das waren Erlebnisse, die ich mit nicht ausdenken hätte können. Aber es gab hier wohl nichts mehr zu sagen, Bernd erzählte nicht weiter und als ich mich schlussendlich durchrang, dem Interviewten Fragen zu stellen, merkte ich selbst schnell, wie fehl am Platz sie erschienen. Er war sehr ruhig gewesen während er gesprochen hatte, bedächtig und nüchtern und nur bei meiner letzten Frage, war er kurz aus diesem Verhalten ausgebrochen. „Wie gehen Sie mit der Kritik der Bevölkerung an Ihrer Profession um?“ Das war ihm an die Nieren gegangen, er war kurz laut geworden, hatte betont, dass er hier war, um die Geschichte des Freundes zu erzählen. Nicht die Seine und nicht die eigenen Meinungen. Und ich begriff, dass es hier weniger um Politik oder Überzeugungen ging, als darum, dass dem Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, der Respekt abgesprochen wurde.

Ohne viele Umstände zu machen ging der Mann mit der geraden, korrekten Haltung und der nüchternen, ruhigen Art zu sprechen. Drückte mir nur kurz die Hand, verabschiedete sich und war fort.

Und ich, ich saß da und glotzte den Salzstreuer an. Es war ein schönes Exemplar, aus kleinen Glaskugeln, die im Sonnenlicht funkelten und Edelstahl, der die Strahlen reflektierte. Erst Wochen später machte ich mich daran, zu versuchen, Friedrich Wilhelms Geschichte zu erzählen. Es ist mir bis heute nicht in einer Form gelungen, die mich zufrieden stellte.

Fürs Erste war nun aber das Projekt vorbei, die Geschichten der Freiwilligen erzählt und ich fragte mich, ob es wohl einen Hauptnenner zwischen den Menschen gäbe, Etwas, das sie verband. Die Toten und die Lebendigen, die Armen und die Reichen, all jene Einblicke, die mir gewährt worden waren. Die einzigen Fäden zwischen ihnen, welche ich aber entdecken konnte, welche sie verbanden, waren jene, die bei mir endeten. Und wer war gerade ich, in dieser unendlichen Fülle von Möglichkeiten und Perspektiven, aus ihren Leben zu erzählen? Und würde wohl jemand einmal das Meine erzählen? Vielleicht geschah das ja gerade?