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Autor: Morgenstern

Erstellt am: 09.04.2013

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Nach Hause



Geschrieben von:   Morgenstern


Anmerkungen des Autors:
Das ist all den Kindern gewidmet.



Er war zufrieden. Das war nun nicht mehr ganz neu, aber dennoch an jedem Tag eine neue Überraschung. Denn wie konnte einer wirklich zufrieden sein, der doch sah was täglich in der Welt geschah und der das Gefühl hatte, zu vereinsamen. Zu vereinsamen weil er Schwierigkeiten hatte sich auf andere Menschen einzulassen, Schwierigkeiten sich auf nonverbale Signale zu reagieren. Oft ging er zu analytisch auf die Reize von Frauen ein, oft suchte er zu lange nach Motiven wo doch keine waren. Aber am Meisten fühlte er die zunehmende Einsamkeit, weil er sich sicher war durchschaut zu haben, was in dieser Welt wirklich und was wichtig war. Und die meisten anderen konnten das oder wollten es nicht und wichtig war eine subjektive Wertung.

Und all diesen Faktoren, einer Welt deren schlimmste Ausprägung im unnatürlichen Tod viel zu vieler Menschen lag, die aber in sich illusorisch und korrumpiert war, zum Trotze, war er zufrieden. Desillusioniert war er zwar lange, schon seit geraumer Zeit sah er wie die Freunde und andere nahe Bekannte sich in ein Leben fügten, das doch zeitlich so begrenzt war. Sich einfügten und anpassen ließen, weil es unendlich deprimierend sein konnte wenn man begann all jenes, was um einen herum geschah, zu hinterfragen. Beispielsweise darüber nachdachte warum sich nahezu alle in einen Teufelskreis aus hektischer, arbeitsamer Existenz stürzten, um für den Lohn dieser Tätigkeit Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchten. Aber das war nur die gegenwärtigste Ausprägung eines Verständnisses vom Sein, deren Strukturen überhaupt zu durchschauen, sich nur die wenigsten getrauten. Es war ja auch nachvollziehbar: Andere hatten versucht die Dinge zu verändern, große Bewegungen wie die 68er oder die Punks waren erfolglos geblieben und auch jetzt würde es den Wandel nicht mehr geben. Die Lügen zu betrachten war unproduktiv wenn man sie nicht verändern konnte, die gedanklichen Exkursionen brachten das Individuum in jenen Facetten, auf die im großen Konsens wertgelegt wurde, nicht weiter.

Schon früh hatte er die Fäulnis gerochen, aber nicht gewusst wo es faulte. Hatte Werke aus der Philosophie gelesen, um einzelne Komponenten aus der Materie herauszugreifen und zu betrachten, aber war immer nur unglücklicher geworden. Sich zurückgezogen, innerlich wie äußerlich verschanzt, mit Drogen den immer weiter nagenden Fragen zu entgehen versucht. Fragen, die zu Anfang vielleicht noch willentlich in die Hand genommen worden waren, jetzt aber unerwünscht sein Dasein dominierten. Aber dann waren sie zu Ende gedacht gewesen, dann war der Punkt erreicht gewesen an dem er all das, was man hinterfragen konnte, in Frage gestellt oder zumindest erkannt hatte, dass es da etwas gab, was man näher beleuchten konnte.

Und jetzt galt es mit diesem Wissen umzugehen, sich einen Platz in dieser (zweifellos fauligen) Welt zu finden, sich eine Stelle zu suchen an der er guten Gewissens stehen konnte. Und eben dies hatte er getan, arrangierte sich mit diesem Leben und fühlte sich nur manchmal einsam, weil es so wenige gab, die ihn verstanden. Aber ausgeglichen lebte es sich besser und so stand er am heutigen Morgen zufrieden in der Küche und bereitete sein Frühstück vor.

Bald würde er wieder einmal nach Hause fahren. Es war weit bis zur alten Heimat, nur selten besuchte er noch den Ort, an dem alles begonnen hatte. An dem seine Eltern und andere Teile der Familie immer noch lebten. Nur selten konfrontierte er sich mit den Dingen, mit denen er sich nicht mehr konfrontieren sollte, weil es zu nichts führte und nur die Stimmung in ein Tief riss. Aber es war wieder einmal an der Zeit seine Aufwartung zu machen, der Geburtstag des Vaters stand aus und den Schritt, um frei zu sein ganz zu brechen, schob er hinaus, immer wieder.

Zu Hause war er ein anderer Mensch gewesen. Jünger zwar, aber auch immerzu ein reagierendes Element, ein Kind welches sich an den Wünschen und Vorstellungen seiner Erzeuger, wiederum deren Erzeuger und seiner Geschwister orientierte. Dass schon früh den Eindruck gewonnen hatte den Anforderungen nicht gerecht zu werden und sich niemals nach unten orientieren durfte, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen. Und da waren der Zorn und das Temperament gewesen, die ihn vor den wirklich verletzenden Dingen bewahrt hatte, wenn in allabendlicher Runde die Familie beisammengesessen und in der Imitation eines Familienidylls gemeinsam zu Abend gegessen hatte. Und wiederum hierzu waren auf dem Gymnasium die Lehrer gekommen, die all die großen Geschwister unterrichtet hatten und ach so viel erwarteten. Den stillen Vergleich, den er auch hier wieder glaubte wahrzunehmen. Das Wissen schlechtere Resultate zu bringen als die anderen vor ihm. Selbstmitleid und noch mehr Wut, Pubertät und Anti-Haltung, immer in dem Versuch auszubrechen, zu fliehen, sich selbst genügen zu dürfen.

Noch lange nachdem er das Elternhaus verlassen hatte, blieb die Entwertung. Die unangemessene Reaktion auf Ereignisse, wie beispielsweise der Futterneid bei gemeinsamen Essen in irgendeiner Runde, welche sich in Form von Wut und Enttäuschung, Appetitlosigkeit und einer generellen Ablehnung manifestierte. Aber vor allem blieb die nagende Stimme der Eltern, welche lange nicht mehr die ihre, sondern die seines eigenen Geistes war und immerzu flüsterte: „Das, was Du tust, reicht nicht aus. Glaubst Du wirklich schon genug getan zu haben? Glaubst Du wirklich, Du könntest anständig schreiben? Aber irgendwann war auch jene als krankhaftes Verhaltensmuster erkannt worden und wenn sie schon nicht ganz auszumerzen war, dann half wenigstens diese Erkenntnis. Jeder einzelne Versuch, sich etwas Gutes zu tun, sich selbst in seiner Gesamtheit anzunehmen, war ein kleiner Sieg und würde sich nicht mehr fortnehmen lassen. Jedes Mal dass er sich sagte, ich muss nicht immer zu den Besten gehören, war ein Schritt in die richtige Richtung.

Denn er leistete, schrieb viel und trieb Sport, lebte gesünder und ging damit den Weg des Kompromisses, der in seinen Augen der einzige war welcher verblieb. Die Kurzgeschichten begannen an Anzahl zuzunehmen und auch der erste Roman war in der Rohfassung geschrieben und wurde von ihm überarbeitet. Die Lyrik litt ein wenig unter dem zunehmenden Einfluss der Prosa, aber war nicht gänzlich aufgegeben.

Er frühstückte wie immer gesund und umfangreiche Mengen, fütterte sich die Energie, die er für das Tagewerk benötigen würde. Schreiben, das war eine Tätigkeit die mehr erforderte als nur die auf der Tastatur tanzenden Finger, eine Tätigkeit die der unterbewussten Zunge, welche pausenlos am Flüstern war, eine Stimme verlieh. Sein Kompromiss zwischen Illusion und Realität, eine Gratwanderung, die jeden Tag aufs Neue begonnen werden musste. Aber eine Prozedur die vielleicht einmal anderen, die sich an den Lügen ihres Lebens aufrieben, eine konsolidierende Pause schenken würde. Vielleicht auch einmal die Freiheit, die er heute sein Eigen nannte. Sport, das war eine Beschäftigung, die das stille Gleichgewicht zwischen externen und internen Prozessen wieder herstellte, wenn er das Gefühl hatte, sich zu sehr in der Theorie und zu fern der Praxis zu bewegen. Ein jeder Tag, den er erlebte, beinhaltete diese beiden Komponenten aufs Neue und sie gaben seinem Dasein Form und Gestalt.

Ein Studium sollte bald auch wieder seinen verdienten Platz in diesem Alltag einnehmen, einen Weg bereiten, einmal Teil der arbeitenden Bevölkerung zu werden. Eines Berufes, dessen Ausübung ebenfalls eine Kompromisslösung zwischen dem war, was er für wichtig hielt und dem, worauf die Gesellschaft Wert legte. Mit Sprache musste es zu tun haben und irgendeinen Sinn und Nutzen beinhalten, dem es sich lohnte so viel der eigenen Lebenszeit zu schenken. Geld, das war nebensächlich. Überhaupt war Geld der Inbegriff der Illusion, der Gedanke dass ach so viele Menschen ihr Leben an der Menge die sie davon besaßen bewerteten, ein Gräuel. Aber es lohnte nicht, sich von diesem Grauen ins Bockshorn jagen zu lassen, man musste sich eben arrangieren.

Einige Tage später rollten die Räder auf dem verlegten Stahl, er saß am Fenster und blickte auf die vorbeiziehende Welt, von der er sich abgrenzte. Weil er es wollte, weil er es musste und weil dies auch eine Art war, sich zu definieren, wie es viele andere über die Dinge taten, die sie besaßen. All die Landschaften die vorbeirauschten und die Geschichte welche in ihnen geschrieben worden war. Die unzähligen Menschen, welche hier einmal gelebt hatten, boten so unermesslich viele Möglichkeiten. Angst keimte in ihm auf wenn er daran dachte, dass jeder von den Aber- und Abermillionen einen Geist besessen hatte, in den er sich hineinversetzen hätte können. Den er verstehen konnte wenn er es denn wollte, sei er nun komplex oder von einfachen Maximen geleitet. Die Felder, Hügel und Berge, die Wiesen und Wälder. Die Flüsse, die Auen, die Dörfer, all das hatte einmal eigene ungezählte Bücher füllen können. Und jede für sich Lebensspannen erfordert, um zu begreifen, um Teil davon zu sein. Und heute waren sie alle Teile einer so schnellen, kontinuierlich vorwärts hastenden Welt und die Menschen konnten sich die Zeit nicht mehr nehmen, um ihr Leben dort zu leben. Denn es gab den Beruf in der nächsten Stadt und Autobahn und Eisenbahn und Internet und Fortschritt, Fortschritt, Fortschritt.

Wann das wohl alles begonnen hatte, diese Jagd nach vorne? In Teilen bestand sie schon lange, die Menschheit hatte sich stetig fortentwickelt, nur ruhiger. Seit der Jungsteinzeit und mit der Sesshaftigkeit vielleicht. In Teilen war sie sicher durch die Industrielle Revolution und den damit verbundenen Veränderungen gekommen und in Teilen war sie ein Produkt der jüngsten Vergangenheit. Aber weiter durfte man die unendlichen Perspektiven und Fragestellungen nicht verfolgen, das wusste er nur zu gut.

Nicht unzufrieden stand er wenige Stunden später am Gleis eines Bahnhofs in einer großen Stadt und wartete auf den Anschlusszug. Dieser hatte Verspätung und er hörte schweigend zu, wie die Menschen um ihn herum schimpften, hektisch auf und abliefen, Fahrpläne verglichen und Bahnpersonal anpöbelten. Was für einen Unterschied machte es schon, ob sie gleich oder eine halbe Stunde später in dem Gefährt saßen, weitere Anschlüsse noch erreichten oder wieder warten mussten. Er lächelte ob der Ruhe, die er bewahren konnte, denn auch ihm waren Ungeduld und Unzufriedenheit nicht fremd. Das wäre schließlich auch nicht menschlich gewesen, aber der Unterschied bestand darin, dass er sich mittlerweile entscheiden konnte, ob er die Hast und die subjektive Missempfindung nährte oder es bleiben ließ. Meist verzichtete er darauf, denn was brachte es schon, sich selbst die Stimmung zu vermiesen, wenn es doch die Umstände nicht veränderte.

Als er in der Heimatstadt einrollte war es spät geworden, dunkel und lange nach der Zeit, zu welcher er gewöhnlich sein Abendbrot verzehrte. Brot, das war irreführend, denn schon seit einer Weile hatte er darauf verzichtet, abendlich Kohlenhydrate zu sich zu nehmen. Er brauchte sie nicht und hielt sich so an Salat und Proteine, die Ernährungsumstellung hatte ihm gut getan.

Suchend blickte er sich um, nachdem er die Bahnhofshalle verlassen hatte, in welcher auch zu dieser Stunde die Menschen noch von einer Stelle zur anderen strömten und sich unterhielten oder stritten, lasen oder über Kopfhörer laute Musik hörten. Hauptsache Beschäftigung schien der gemeinsame Nenner zu sein. Seine Augen wurden fündig als er den silbernen Mercedes sah, der zu seiner Abholung hier war. Es war ein kleines aber schickes Fahrzeug, die väterliche Tätigkeit erforderte eine gewisse Außenwirkung auf die Menschen, für die er arbeitete und so hatte es eben ein Mercedes sein müssen. Seine Mutter saß am Steuer und im Anschluss an die Umarmung, die er wenig suchte und doch kompromissbereit über sich ergehen ließ, verstaute er den Koffer im dafür vorgesehenen Raume und setzte sich neben sie auf den Beifahrersitz.

„War der Zug voll, trotz der Verspätung?“ begann ein Frage und Antwortspiel über Dinge, die keinerlei Bedeutung hatten, bevor er das kurze Gespräch auf ein Feld ihrer Interessen lenken konnte und dann nur noch zuhörte. Erst beim Aussteigen äußerte sie die Frage, die hatte kommen müssen, die er im Stillen schon eher erwartet hatte: „Wie geht die Jobsuche voran?“ Es bestand hier die einhellige Meinung, dass „nur Schreiben“ nicht genug sei, dass er etwas Sinnvolles zu tun hatte, bis er in einem halben Jahr das neue Studium aufnahm. Das Studium über das „man nochmal reden musste, um sicher zu sein, dass es das Richtige war, “ denn brotlose Künste waren nicht gerne gesehen. Die Begrüßung mit dem Vater förmlich wie immer, ein Wunder gar, dass man sich nicht wie zu Mozarts Zeiten siezte und mit dem Herrn Vater konferierte. Konferieren, das konnte man das Abklappern spärlichen, im beiderseitigen Interesse liegenden, Landes gerade noch nennen, kommunizieren war anders. Und hier auch der Bruder, der stand, weil er nicht gehen wollte, der, seinen Fähigkeiten zum Trotz, die Leere suchte und sich nicht anpasste, blind war, weil er nicht sehen wollte. Aber Gott, den hatte er.

Am Abend noch wurden alte Freunde eingeladen. Man spielte Tischtennis, erging sich in den alten leeren Kommentaren, den flapsigen Bemerkungen und zynischen Kommentaren, trank gemeinsam und in recht fröhlicher Runde. Die Dinge gingen voran. Die eigenen wie die anderen, das sah er und das sahen auch sie. In der ruhigen, neuen Gewissheit drückten auch die alten Gedanken nicht so sehr, die Verhaltenszüge, welche prompt wieder störten, denn er konnte akzeptieren, dass auch die anderen nur Menschen waren. Dass sie sich nicht ändern mussten und er sie nicht ändern konnte und auch nicht immer seine Reaktion auf ebenjenes Verhalten kontrollieren konnte. Es stand nicht offen Supermensch zu werden, aber seit er das akzeptierte, war es einfacher. Wenn man sich schon ärgern musste, dann konnte man diesen Ärger genauso gut dadurch lindern, dass man die eigene Machtlosigkeit ein Stück weit akzeptierte. Und es wurde spät, am Ende hatten doch wieder alle zu viel getrunken.

Der nächste Morgen erwartete eine übermüdete Kopie seiner selbst, die die eigene Missempfindung noch mit Fassung und Galgenhumor zu tragen wusste. Ja, das passierte eben, wenn man trank, kein Grund sich darüber jetzt den Kopf zu zerbrechen. Und dieser schien eh blank gefegt, nicht viel was zu zerbrechen wäre. An diesem Tag erwartete ihn noch Frieden, ein paar kleinere Aufgaben, die um das Haus zu erledigen waren, erfüllte er ausgeglichen und auch die Hiobsbotschaft war zu ertragen. Aber in sein Blickfeld begannen sich schon wieder ebenjene Angewohnheiten zu drängen, die ihn vor vielen, vielen Jahren so gestört hatten. Hier war er wieder Kind seiner Eltern, kein erwachsener Mann, keiner, der sein Schicksal selbst in der Hand haben durfte. Aber mehr als das: Hier störte ihn das Schmatzen, die Einsilbigkeit, die Unzufriedenheit und das Interesse der anderen an Belanglosem wieder. Korrektur: An Dingen, welche er als belanglos empfand. Um Himmelswillen, was hatten ihn schon die Probleme der anderen zu kümmern, hatte er nicht selber genug?

Verdammt, was störte er sich denn an der Blindheit, die doch nicht die Seine war? Zum Teufel, was ließ er sich denn plötzlich wieder von der Unzufriedenheit und Stille die Laune verderben, die er doch schon so oft rational betrachtet, bemessen und verlacht hatte? Und da war er wieder: Der Zorn. Der alte Kamerad, welcher einen vor wirklichem Schmerz bewahren wollte. Eine Reaktion nur, aber keine die er sich aussuchen und auch keine, die er akzeptieren konnte. Hier war er wieder Kind seiner Eltern, kein erwachsener Mensch, keiner der sein Verhalten gekonnt kontrollieren konnte. Der Diebstahl eines Stückes Orange, die er sich zurecht gemacht hatte, brachte das Fass zum Überlaufen. Eine Trivialität, über die er schon auf der Fahrt, weg von diesem Ort, wieder hatte lachen können. Nicht, dass das Obst genommen wurde, sondern wie. „Ihr habt euch alle überhaupt nicht verändert!“ rief er, als sein Zorn verlacht wurde. „Du doch auch nicht, “ kam zurück.

Und als er seine Sachen packte, schwor er sich, nicht mehr zurückzukehren. Nicht wegen ihnen, sondern dem, was sie aus ihm machten. Und für immer nagte es an ihm.