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Autor: Morgenstern

Erstellt am: 07.03.2013

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Das Bewerbungsgespräch



Geschrieben von:   Morgenstern


Als er am Morgen erwachte, fühlte er sich gut. Sonnenstrahlen fielen durch die Fenster, die in den vergangenen Wochen nur den Blick auf einen grauen, wolkenverhangenen Himmel feilgeboten hatten. Der erste Tag im Jahr an dem das kalte Winterwetter wieder dem Licht Lebensraum einräumte, der erste Tag im Jahr der bessere Zeiten versprach, den nahenden Frühling ankündigte.

Er war all das Grau so fürchterlich Leid gewesen, hatte genug von den Zweifeln gehabt, die es unweigerlich mit sich brachte. Die vielen Morgen, an welchen der Wecker geklingelt hatte, an welchen er aufgewacht, es registriert und dann das Aufstehen doch wieder nach hinten verschoben hatte. Wozu sollte man auch aufstehen, wenn es nichts zu tun gab, nur Rechnungen und keine Gehaltsschecks im Briefkasten auf einen warteten. Wenn die wenigen Aufgaben, die der Tag für ihn bereithielt auch noch am frühen Abend ohne Schwierigkeiten zu bewältigen waren, die Anrufe eben noch Menschen erreichten und zur Antwort zwangen, bevor sie sich auf den verdienten Heimweg machten.

Der verdiente Heimweg, Abende an welchen man sich gut gefühlt hatte, weil man leistete, seinen Teil beitrug und damit erfolgreich war, das Alles lag schon lange zurück. Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor seit er mit gutem Gefühl zu einer guten Stunde schlafen gegangen war. Aber so war das Leben eben, mit Glück und Pech hatte es nichts zu tun, von der individuellen Leistung hing es ab, das hatte er schon immer gewusst. Das, worauf es am Ende hinauslief war Qualifikation, Präsentation, Ehrgeiz.

Die Sonne lachte ihn an als er in die Küche schlurfte, um Kaffee zu kochen. Heute würde er die Wende schaffen, heute ging die Kurve die sein Leben repräsentierte wieder bergauf. Der Himmel versprach Erfolg, blau wie er war, die Stimmen der Vögel, die er selbst durch das geschlossene Fenster hören konnte, bestätigten das Recht, sich auf den Frühling zu freuen. Er hatte noch zwei Stunden bis zu dem Bewerbungsgespräch, es war nicht weit, Zeit genug in Frieden zu frühstücken, um dann zu duschen. Die billige Kaffeemaschine grummelte und spuckte dünnen Kaffee, tat zumindest aber das, was ihre Aufgabe war. Der Toaster, der auf der einen Seite zu heiß und auf der anderen zu kalt arbeitete, tat das, was er sollte. Er toastete.

Er hatte einmal in einer größeren Wohnung gelebt, in einer Küche sein Frühstück zubereitet, die einen nicht dazu zwang, sich an den Herd zu pressen, der nur zwei Heizplatten sein Eigen nannte, um die Tür hinter sich schließen zu können. Eine Espresso-Maschine besessen, die in der Lage gewesen war sämtliche koffeinhaltigen Wünsche zu erfüllen. Zwischen Wänden gelebt, die nicht von grauer Tapete mit nassen, fauligen Stellen bedeckt waren. Aber das war einmal gewesen und er rief sich zur Ordnung. Diese Gedanken taugten nichts, würden ihm nur die gute Laune, die ein so seltenes Ereignis war, ruinieren, es konnte auch alles wieder aufwärts gehen. So laufen wie es damals, nach den anfänglichen Schwierigkeiten, gelaufen war. Wenigstens der Eierkocher funktionierte einwandfrei.

Nachdem er gefrühstückt und geduscht hatte, zog er sich an. Es war jetzt neun Uhr und er hatte noch eine halbe Stunde Zeit bis er sich auf den Weg machen wollte. Zu Fuß war es nicht weit bis zu der Redaktion, die der einzige potentielle Arbeitgeber war, der auf seine Bewerbung reagierte hatte. Aber um einen guten Eindruck zu machen, schadete es nicht zehn bis fünfzehn Minuten eher zu kommen. Er wusste, wie man sich verkaufte. Schon vor Wochen hatte er Bewerbungsunterlagen an sämtliche Stellen gesandt, die seinen Arbeitswünschen- und Vorstellungen entsprachen. Es sollte etwas mit Sprache sein, in geschriebener Form, was genau war egal. Schon mit der Pubertät hatte er angefangen zu schreiben, mehr schlecht als recht zunächst, hauptsächlich Gedichte. Deprimierende Schriebe waren das gewesen, Werke, welche die von ihm wahrgenommene Welt wiederspiegelten: Hektisch, einsam und immer in Bewegung. Ohne echte Konstanten, an denen man sich orientieren konnte.

Seine Eltern waren nicht begeistert gewesen, als er auch die letzte Sportart als für ihn untauglich abschrieb. Als er begann sich mehr und mehr in schwarz zu kleiden und versuchte ihnen zu erklären, weshalb und was er fühlte. Und wenn sie tatsächlich verstanden hatten, hatten sie es ihm doch nie mitgeteilt, wenn sie je mit ihm zufrieden gewesen waren, hatte er davon doch nie erfahren. Die brotlose Kunst begleitete ihn durch seine ganze Jugend und auch noch als er ein durchschnittliches Abitur gemacht hatte und anfing, etwas Vernünftiges zu studieren. Jura, ein Kompromiss zwischen Geisteswissenschaften und Karriere, attraktiv durch das Fehlen von Naturwissenschaften, welche er hasste.

Während er den Mantel und die alten Lackschuhe anzog, die er am Vorabend gewissenhaft geputzt hatte, bereitete er sich auf das ausstehende Gespräch vor. Die regionale Zeitung suchte einen fest angestellten Redakteur, eine Rarität in einer Zeit, in welcher das Internet das alteingesessene Medium verdrängte, immer mehr Lokalblätter von der Bildfläche verschwanden und die noch Bestehenden immer weniger Mitarbeiter beschäftigten. Man konnte sich glücklich schätzen, wenn man als freier Mitarbeiter monatlich so und so viele Artikel in den Zeitungen unterbrachte, die einen dann pro Zeichen bezahlten. Darum hatte er gewusst, dass er die Stelle bekommen musste, als er das Inserat entdeckt hatte. Er wusste, er war der beste, positives Denken war der Schlüssel zum Erfolg, jetzt galt es nur noch den Personalchef von sich zu überzeugen.

Drei lange Jahre kämpfte er sich durch sein Studium, sechs Semester in welchen er die meisten Klausuren eben bestanden, aber doch zu wenig gelernt hatte, sechs Semester in denen er oftmals abendlich mit Bekannten und Freunden vor der Frustration geflohen war. Der Frustration des Lernens, welches den Berg dessen, was er nicht wusste, nur zu vergrößern schien, der Frustration der minderwertigen Ergebnisse, die es immer wieder zurückgab, obwohl er sich doch jeden Morgen aus den Federn quälte, um noch mehr Informationen in seinen Kopf zu prügeln, die ihn kaum interessierten. Meinungsstreits und Definitionen, Schemata und Fallbeispiele, das sollte sein Lebensinhalt sein, der Lebensinhalt eines jungen Mannes, der den Anspruch hatte, alles zu begreifen und zu durchschauen, aber auch das war nicht genug. Und so flohen sie abendlich vor der harten Realität, vor ihrem Alltag und irgendwann begann er auch alleine zu fliehen. Alleine zu trinken. Drei lange Jahre kämpfte er sich durch sein Studium, um dann zusammenzubrechen. Um schlussendlich dem ins Auge zu blicken, was er doch schon so lange gewusst, aber immer wieder verdrängt hatte: Jura war nichts für ihn. Und da hatte es zu Ende sein sollen, denn wenn Jura nichts war, die einzige Geisteswissenschaft, die keine brotlose Kunst war, so dachte er, und er Jura nicht schaffen würde, was blieb dann noch für ihn.

Ein verkorkster Suizidversuch, Therapie und Medikation und endlich, endlich Licht am Ende eines Tunnels, den er vor und hinter sich immer weiter zugeschüttet hatte. Endlich Freiheit von dem Studium, das ihn so nach unten zog, endlich Freiheit die ihn in den Limbus entließ. Er war unterwegs, heute windete es mal nicht, heute waren ihm die Dinge gewogen, heute würde endlich auch einmal er seine Chance bekommen: Arbeit, welche seine Interessen mit monetärer Absicherung verband, die Möglichkeit bezahlt mit Wörtern zu jonglieren, die Möglichkeit doch einmal das, was das einzige war, was er wirklich konnte, professionell und mit festem Gehalt zu betreiben.

Nach seinem Zusammenbruch hatte er wieder zu schreiben begonnen, hatte sich von der Lyrik abgewandt, welche sich bis dahin auf ein vielleicht gerade annehmbares Niveau hin entwickelte, um Prosa zu schreiben. Romane und Kurzgeschichten. Tatsächlich war ihm mäßiger Erfolg vergönnt gewesen, er hatte einige Werke verkaufen können und war phasenweise sehr gut über die Runden gekommen. Hatte sich eine schönere Wohnung mieten, unabhängig von der Familie, die sein Schaffen skeptisch betrachtete, überleben können und das nicht einmal so schlecht. Aber nach Anfangserfolgen war eben nie der Durchbruch gekommen, die schönere Wohnung war einer vom Amt verschafften gewichen, das neu gefundene Selbstwertgefühl drohte zu verschwinden. Aber drei Wörter, die der Inbegriff seines neuen Lebens geworden waren, hatten ihn nicht aufgeben lassen:

Qualifikation, Präsentation, Ehrgeiz. Er war qualifiziert, er wusste sich zu präsentieren und er wollte erfolgreich sein. Er war nicht faul, denn wäre er es gewesen, hätte er sich während all des Nichtstuns, all der grauen Tage nicht so wertlos gefühlt. Aber aufgegeben hatte er nicht mehr, er wusste sein Tag würde kommen.

Schicksal und Zufall, das waren Begriffe für Menschen, die nicht aus der Opferrolle herauswollten. Ob es nun Gutes oder Schlechtes war das einem widerfuhr, es nahm einem die Handlungsmöglichkeit, die Chance selbst etwas zu verändern. Man musste sich als Opfer betrachten, der eigenen Existenz eine unabänderliche Passivität einräumen, um an Begriffe dieser Art zu glauben. Und er hatte eins aus der Therapie mitgenommen: nicht das positive Denken, nicht Selbstakzeptanz und andere Begriffe mit denen die Quacksalber um sich warfen, das hatte er sich selbst aufgebaut. Dafür hatte er keinen Therapeuten gebraucht, der ihm bei einem Balance-Akt die Hand reichte, nein nicht dafür. Nur für den ersten Schritt, für eine absolute Relativierung eines jeglichen Befindens und Seins: Einstellungssache. Man konnte den Regen, der einem den Tag vermiesen wollte deprimiert betrachten oder man konnte sich darüber freuen, dass die Landwirtschaft von ihm profitieren würde. Man konnte als Bauer dem Hagel, der einem die Getreideernte vernichtete, resigniert zusehen oder sich daran freuen, dass es nicht die Rüben erwischen würde. Alles war eine Sache der Einstellung.

Und wenn man das akzeptierte, waren Schicksal und Zufall hinfällig. Wenn man beliebig mit einer Situation umzugehen wusste, dann war der Handlungseintritt, der den Umgang mit ihm erforderlich machte, absolut irrelevant. Denn im Extremfall konnte man ihn negieren, sich dazu entscheiden überhaupt nicht auf ein Vorkommnis einzugehen, ihm die Existenzberechtigung absprechen.

Einzelne Pfützen standen noch auf der Straße, ein weiteres Beispiel für das Relative. Da trafen sich Licht und grauer Asphalt, die Koexistenz von Feuer und Wasser, das ein Überbleibsel der letzten Tage war.

Am Ende der Straße tauchte das Redaktionshaus auf und er dachte an die Zukunft, die ihm nun offen stehen würde. Ein festes Gehalt, befriedigende Arbeit, die ihm noch genug freie Zeit lassen würde, um seine schriftstellerische Karriere weiter voran zu treiben. Qualifikation: Er war ein begnadeter Wortartist, das hatte er zur Genüge bewiesen. Präsentation: Man musste nur sein Bewerbungsdossier und sein adrettes Äußeres betrachten, um zu wissen, dass er der richtige Mann für den Posten war. Ehrgeiz: Er hatte sich nicht unterkriegen lassen und noch immer den Anspruch mit dem, was er so gut konnte, erfolgreicher zu sein als die Anderen vor ihm. Das große Haus, das teure Auto, Anerkennung und Ruhm.

Er überquerte die Straße und hielt auf den Eingang des Gebäudes zu, als, wie der Zufall es wollte, ein Sportwagen den Asphalt hinauf donnerte und durch die große, braune Pfütze jagte, die unmittelbar neben ihm den Rinnstein zierte.