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Autor: Morgenstern

Erstellt am: 05.03.2013

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München



Geschrieben von:   Morgenstern


Bill nahm sein Bier, trank einen ordentlichen Schluck und blickte in die Runde. Sie waren wieder alle beisammen, ein letztes Mal wohl heute, denn er hatte eine Ankündigung zu machen. Der Brief war heute gekommen, der Brief der alles verändern würde. Der Brief, der ihn aus dem Gefängnis des Nichtstuns befreien, diese Leidensgemeinschaft entbehrlich machen, seinem Leben neuen Sinn verleihen würde. Schade nur, dass er die Männer, die mit der Zeit doch so etwas wie Freunde geworden waren, zurücklassen musste.

Simon lehnte versunken in der braunen Couch, die von dunklen Flecken und Stellen übersät war. Sie hatte bessere Tage gesehen, bessere Stunden als diese jetzt, aber was und wann sie gewesen waren, wusste keiner. Das Sitzmöbel hatte schon immer hier gestanden, war aus dem verrauchten Kellergewölbe, in welchem sie sich trafen, nicht mehr wegzudenken. Die Stühle kamen und gingen, die billigen Ledersessel und die teuren Barhocker im Nebenraum, die Sitzpolster, die Ecktische und die hässlichen Lampen. Die braune Couch aber blieb, ertrug Jahr für Jahr neue Gesäße, junge und alte, knackige und aufgedunsene, meist aber wenig Attraktive. Sie war so zum Inventar geworden, wie Simon für Bill, Simon der sich fläzte, aber nie ganz gehen lassen konnte, Simon der mehr an die Decke als in die Runde zu schauen schien.

Ihm gegenüber saß Frederick, den alle nur Freddy nannten, woran er sich störte. Aber wann auch immer er ihnen sagte, dass sie ihn doch bitte mit seinem vollen Namen ansprechen sollten, „Frederick, “ wurde sein Wunsch zur Kenntnis genommen, erwogen und wieder abgetan. Freddy war der Jüngste und er wusste, dass er der Jüngste war, aber er glaubte mehr zu verstehen als die Anderen zusammen. Bill hasste die Art und Weise wie sich der junge Mann kleidete, seine engen Cordhosen und gebügelten Polohemden, seine Schaals und Lackschuhe. Und er hasste wenn der Junge seinen eigenen Namen aussprach, wie er zwanghaft darauf bestehen musste das erste E möglichst lang zu betonen. Freeederick. Aber hin und wieder hatte Freddy einen geistreichen Einfall, einen Wortwitz oder nur eine Feststellung, etwas was seine Aufmerksamkeit kurz gefangen nahm und von den Dingen ablenkte, mit denen er sich sonst konfrontierte. Aber dann exerzierte er seine Idee den Männern vor, weidete sie bis zur Unkenntlichkeit aus, sah sich genötigt sie so lange zu erklären, bis er sich sicher sein konnte, dass auch der Letzte sie verstanden hatte.

Thomas fing Bills Blick auf. Thomas‘ Augen sagten, was Bill dachte oder bestätigten zumindest die Vermutung, dass er in seinem Leid nicht alleine war. Soeben hatte Freddy lang und breit erklärt, warum er zu wissen glaubte, dass er nichts wusste, seinen beachtlichen Moment der Erkenntnis zelebriert. Aber Bill hatte den Denkschritt schon vor Jahren getan und störte sich an dem Gebaren des Jüngeren, der glaubte ihnen verbales Gold zu präsentieren. Oder Erkenntnistheoretisches oder wusste der Teufel was. Wenn er nicht so abstoßend darauf hätte bestehen müssen, solange auf Simon einzureden bis dieser ein „Ich hab’s verstanden murmelte, “ um kurz darauf wieder seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, Bill hätte sich für ihn freuen können.

Thomas zog die Augenbrauen hoch, zwinkerte ihm zu. Er nahm sein Bier in die Hand, prostete ihm durch den Raum zu. Der Gruß wurde erwidert, die goldgelbe Flüssigkeit die Kehle hinabgestürzt.

Alex und Sabine waren in ihre eigene Konversation vertieft. Ein kurzer Blick hinüber verriet dass sie mal wieder am Streiten waren. Wieso er sie immer noch mit hierher brachte, wenn sie sich doch jedes Mal stritten. Und wenn sie sich nicht stritten, dann auch nur, weil Alex sich nicht die Laune verderben ließ und ihr Schmollen ignorierte. Bill hatte keine Ahnung weshalb sich die beiden in den vergangenen anderthalb Jahren nicht getrennt hatten, denn wann auch immer man sie zusammen sah stritten sie sich oder Sabine schmollte. Er fühlte mit seinem Freund, der sich ausgerechnet in diese Frau hatte verlieben müssen. Sie sah toll aus, hatte einen beeindruckenden Körper und ein Gesicht, das anziehend und gleichzeitig mysteriös wirkte, aber es war alles Schall und Rauch. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sich Bill nichts sehnlicher gewünscht als sich in ihren dunklen Augen zu verlieren, durch ihre glänzenden Haare zu fahren, mit ihr wegzulaufen und woanders neu anzufangen. Aber dann, nachdem sie sich schon dreimal getroffen hatten, er sich zunächst stockend aber dann doch immer redseliger werdend mit ihr unterhalten hatte, lief ihnen bei ihrem vierten Date Alex in der Stadt über den Weg.

Er hatte sich geschworen, sie beim vierten Treffen zu küssen. Er hatte es schon vorher tun wollen, aber der Moment hatte nie richtig geschienen, wenn sie ihm Hinweise gegeben hatte, dann war er blind gewesen. Nur einmal auf dem Spaziergang, sie waren lange unterwegs gewesen, hatte er ihre Hand genommen, doch als er nach einigen hundert Metern gerade die Resolution gefasst hatte, sie jetzt an sich zu ziehen und zu küssen, hatte sie ihm ihre Hand wieder entzogen. Und da war die Chance vertan gewesen, da hatte ihn den Mut verlassen, da hatte er beschlossen bis zum nächsten Mal zu warten. Und beim nächsten Mal war ihnen Alex über den Weg gelaufen. Drei Tage später waren die Beiden ein Paar. Es hatte wehgetan, Alex der einzige wirkliche Freund in der Runde, sie kannten sich ewig, musste der sein, der ihm Sabine wegschnappte. Aber wirklich böse hatte er ihm nicht sein können, denn wahrscheinlich wäre die Sache eh nirgendwohin gegangen, wieso hätte sie das auch tun sollen, wenn es doch all die Jahre nicht funktioniert hatte. Das hatte Bill dem Anderen gesagt, als dieser versucht hatte, sich zu entschuldigen, ein klärendes Gespräch führen wollte. Wahrscheinlich war es besser so gewesen, Bill hatte nicht geglaubt, dass eine Frau verdiente, mit einem so unzufriedenen Mann wie ihm eine Beziehung zu beginnen.

Die Erinnerung holte ihn ein als Sabine seinen Blick auffing, der unwillkürlich auf ihrem tief ausgeschnitten Oberteil geruht hatte. Sie lächelte ihm zu, aber Bill wusste bereits, dass er sich auf die Gedanken, die jetzt Anlauf nahmen, nicht einlassen durfte. Nicht in dieses Lächeln interpretieren durfte, das so Vieles zu sagen schien, nicht über die Möglichkeiten seiner Bedeutung nachdenken sollte. Aber die Vergangenheit war dennoch da, all die Jahre, in denen er hin und wieder davon geträumt hatte doch noch die Richtige zu finden, aber die Wünsche dann doch abgetan, verdrängt und verraucht hatte. Das Bier kam gerade recht, ein paar ordentliche Schlucke dann war es leer. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, stellte das Glas zurück auf den Tisch. Etwas zu laut. Die Hand fuhr in die Tasche, zwängte die Zigaretten aus den zu engen Jeans, zog geübt eine aus der Schachtel, zündete sie an. „Bier jetzt, “ sagte Gerd.

Gerd war für diesen Satz bekannt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er „Saufen jetzt“ gesagt, aber seit sie keinen Schnaps mehr tranken, hatte auch diese Konstante dem Älterwerden weichen müssen. Gerd stand auf, Bill erhob sich ebenfalls, steuerte auf die Tür zu, die den kleinen Raum in dem sie saßen von dem weiteren Kellergewölbe trennte, in dem auch die Bar stand. Es war leer, nur ein paar Tische besetzt, Alkohol zumeist Bier, dünner Rauch der in Fäden aus wenigen Aschenbechern zog. Bill musste an der Bar nicht warten, prompt hatte er Nachschub in der Hand. Kurz überlegte er, ob er sich über das vorgezapfte Bier beschweren und frisches verlangen sollte, dann entschied er sich dagegen. War ja auch egal. Als er zurück in den Nebenraum kam, saßen nur noch Alex und Sabine dort, mit dem Rücken zu ihm, schenkten ihm keine Beachtung. Die Anderen waren wohl vor der Tür. Hätten ihm ja auch mal Bescheid geben können. Und richtig, die Tür auf, die Treppe hinauf und da standen sie im Kreis. Gerd drückte ihm den Joint in die Hand. Für einen Augenblick erwog Bill abzulehnen, kam dann zu dem Schluss, dass man nur einmal Abschied feierte. Nach dem Joint fühlte er sich besser. Die Vergangenheit, die ihn unten eben noch fast eingeholt hatte, trat zurück, der Moment gewann an Farbe. Die Unterhaltung wurde interessant, selbst Simon, zurück auf der Couch, auf der er immer saß, die Bill ohne ihn leer erschienen wäre, beteiligte sich.

Worüber sie redeten war irrelevant, alles war interessanter als Alex und Sabine beim Streiten zuzugucken. Einige Bier später war der Moment gekommen: „Ich hab‘ die Stelle bekommen.“ „Glückwunsch, “ sagten Thomas und Gerd unisono, „welche Stelle? “ fragte Simon. Freddy sagte gar nichts mehr, das letzte Bier hatte ihm nicht gut getan oder der Joint oder beides. Mit offenen Augen saß er in seinem Sessel, mehr aber zeugte nicht von geistiger Präsenz. „Na die in München, “ antwortete Bill, der nicht wusste, ob sich Simon einen Scherz erlaubte oder ob er tatsächlich die ganzen letzten Monate, wann auch immer Bill auf diesen seinen Traumjob zu sprechen gekommen war, nicht zugehört hatte. „Ach so, ja Glückwunsch!“

München, ein neues Leben, neue Chancen, gutbezahlte Arbeit. München, am anderen Ende des Landes, weg vom Grau und der Armut und den Windböen. Weg von der Stadt, in der so vieles schief gelaufen war, in der ihn die Erinnerungen peinigten, wann auch immer er auf die Straße ging. Weg von den Enttäuschungen.

„Morgen geht es los, “ sagte er und sah wie sie die Ohren spitzte. Wie sie zunächst ihr Gesicht weiterhin Alex zuwandte, aber dennoch ihre Aufmerksamkeit einzig und allein ihm schenkte. Ihren Kopf drehte und ihn ansah. Dieser Blick, dem er sich nicht entziehen konnte. Und die Fragen plagten ihn erneut.