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Autor: Morgenstern

Erstellt am: 04.03.2013

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Holz



Geschrieben von:   Morgenstern


Sie kam mit den ersten Strahlen des Tages den Weg zum Fluss hinab. Er sah sie von Weitem, sah ihre zögerlichen Schritte, ihren Kopf, der sich schreckhaft immer wieder umblickte, wie um zu sehen, ob ihr jemand folgte. Doch als sie die halbe Strecke des Weges hinter sich gelassen hatte, beschleunigte sie ihr Tempo, rannte strahlend auf die Stelle zu, an der sie sich schon häufig verabredet hatten.

Das Holz sah ihr gelassen entgegen. Mal wieder eines von den jungen Dingern, ein Kind noch fast, aber eben an der Schwelle eine Frau zu werden. Das Holz hatte es alles schon gesehen, es alles erlebt, die Kinder, die jungen Männer und Frauen, die in den besten Jahren und die Alten. Die Alten waren die angenehmsten Besucher, den Alten fühlte sich das Holz verwandt und verbunden. Sie waren sich ähnlich, in ihrem Gleichmut und ihrer Bedächtigkeit, in Nostalgie und Vergangenheit.

Sie war nur noch wenige Meter entfernt und er erhob sich, versuchte ruhig und gelassen zu wirken, während er doch innerlich so stark zitterte, so aufgeregt war.

Das Mädchen hatte glühende Wangen, der Reiz des Verbotenen gepaart mit den schnellen Schritten hatte den Gefühlen ungehindert Bahn gebrochen, Glück und Erwartung ließen ihr Herz wie wild geworden schlagen. Sie war gleich bei ihm, konnte sich in die ruhige Kraft seiner Arme werfen, würde im sicheren Schoß des Bekannten wie Unbekannten ruhen. Er war anders als die anderen Jungen, die sie kannte, er war keiner von denen, die auf dem Sportplatz umher stolzierten, sich durch diese oder jene Übung hervorzutun suchten und dabei möglichst laut, möglichst männlich wie sie glaubten, herumschrien. Er war keiner von denen, die sich auf die Art und Weise kleideten, die gerade in Mode war und auch keiner von denen, die immer über das gleiche Zeug redeten. Banales, Belangloses, Nichts, was mit den Fragen, die sie sich so oft stellte, zu tun hatte.

Er öffnete die Arme, ließ sich von dem Schwung ihrer Bewegung gefangen nehmen, wirbelte mit ihr einmal im Kreis, bevor sie zum Stehen kamen. Dies waren einer der wenigen Augenblicke in denen er das Leben leiden mochte, in denen er sich nicht der Angst vor den Unbekannten ergab. Der Duft ihrer Haare in seiner Nase, das glühende Gesicht an seiner Brust, das war das Leben, das war die Stunde in der er sich verstanden fühlte. Ihre Arme klammerten sich um ihn und er stand still und lächelte, gleich würde es wieder beginnen, dieses Reißen in ihm, dieses Sehnen nach mehr, mehr Umarmung, mehr Zärtlichkeit, mehr von ihr. Dieses Sehnen, welches das Leben lebenswert machte, das ihn wissen ließ, dass er lebte und es so etwas wie einen Sinn geben musste.

Sie war so ungehindert glücklich, so eingenommen von dem fragilen Moment, der mit der Umarmung begann und mit dem Lösen der sich umschlingenden Arme enden würde. Aber das war nicht schlimm, denn an den einen Moment reihte sich ein nächster und wieder ein neuer, Sekunden die sich langsam zusammentaten, mit jedem Herzschlag ein wenig wuchsen und zu guter Letzt im Gefüge einer vollen Stunde ihre Erfüllung erreichten. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, er aufgehört hatte mit seinen Händen über ihren Rücken zu streichen, eine Berührung die eine ungeahnte Wärme verströmte, saßen sie nebeneinander und blickten auf den Fluss. Er schwieg wie er es die meiste Zeit tat, aber sein Arm lag um ihre Schulter, ihr Kopf ruhte an seinem Hals und die Berührung sagte mehr als tausend Worte. In seiner Nähe schienen Worte unnötig zu sein, sein Schweigen ließ ihn umso interessanter erscheinen und sie fragte sich manchmal, was an ihm anders war. Denn es musste mehr sein als sein Schweigen, mehr als nur seine Kleidung, seine Interessen, er hatte etwas wirklich Fremdes an sich. Und wahrscheinlich war es das, was sie so anzog.

Jetzt gab es keine Angst und Unsicherheit mehr, durch seinen Geist strömte angenehme Leere. Die Fragen, die Antworten, die Spekulation und immer wieder die Angst traten zurück, mussten sich der Macht der Gefühle beugen, die uneingeschränkte Aufmerksamkeit verlangten. Da war nur er und sie und die Bank auf der sie saßen, das frühe Licht, der Fluss, alles eine einzige Momentaufnahme. Und dieses Rauschen und Zerren in ihm, welches rief: „Da muss mehr sein, mehr von dir, mehr von ihr, mehr von euch beiden!“ Und weil er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte, weil er keine Erfahrung mit dieser Stimme in ihm hatte, glaubte er sie küssen zu müssen. Das war es schließlich, was die Menschen taten, wenn sie sich nahe waren, wenn sie sich liebten. Und er liebte sie, da war er sich sicher, denn auf diese Weise hatte er nie gefühlt, das musste Liebe sein. Die Freiheit von den Fragen, die ihn doch sonst so peinigten, die ihn alles, was um ihn geschah und von dem er wusste bedenken und bewerten ließen, die von ihm verlangten, dass er die Gefüge, auf deren Art und Weise die Dinge abliefen und funktionierten, durchschaute.

Sie spürte, dass er unruhig wurde, konnte aber nicht den Grund seiner Unruhe spüren. Nahm ihren Kopf von seiner Schulter, ihr Gesicht von seinem Hals, setzte sich auf und sah ihn an, um zu erforschen was da in ihm vorging. Und nachdem er noch einige Augenblicke auf den leise fließenden Fluss geschaut hatte, wandte sein Gesicht sich ihr zu, bannte ihren Blick und lehnte sich dann langsam nach vorne. Sie wusste was kommen sollte und sie hatte sich innerlich darauf vorbereitet aber jetzt, da der erste Kuss erfolgen sollte, fürchtete sie sich ein wenig davor. Und dann entschied sie sich zu warten, stupste die Nase, die sich blind auf sie zubewegte leicht an, woraufhin er seine Augen öffnete. „Nein, “ sprach sie leise und unsicher aus, flüsterte es fast, wobei sie leicht den Kopf schüttelte.

Er nahm es hin, es blieb ihm nichts anderes übrig. Aber es verletzte ihn und er verstand nicht sofort, weshalb sie sich dem verwehrte, was doch wohl so natürlich war. Alle taten es schließlich. Die Stimme in seinem Kopf kehrte mit Macht zurück und gab dem Antrieb, welches den Keil immer tiefer in seinen Körper zu drücken schien, gab der stählernen Faust, die seine Eingeweide umklammerte neue Berechtigung ihn zu quälen und hatte all die Antworten parat, die er zu suchen glaubte. Die Antworten, die für den Moment vergessen gewesen waren: „Sie liebt dich nicht. Wie soll sie dich auch lieben, schau dich mal an. Was kannst du, was sie lieben könnte? Sie liebt dich nicht, sonst wäre sie dir nicht ausgewichen.“

Er verkrampft sich, hat vorher geahnt dass es passieren würde, aber doch gehofft dass es anders käme. Er starrt auf den Fluss, das friedliche Blau scheint ihn auszulachen, die Sonnenstrahlen erlauben erst den Schatten, den seine Seele wirft. Den Schatten, der ihn immer begleitet hat und immer begleiten wird.

Sie stupst ihn an: „Hey“
Hey was?
Sie legt ihren Kopf an seine Schulter, hätte gerne, dass es wieder ist wie zuvor. Aber er ist versteift, sein Kopf neigt sich ihr nicht entgegen, er starrt geradeaus. Nach einer Weile entscheidet sie, dass es Zeit ist zu gehen, bald gibt es ohnehin Frühstück, beim nächsten Mal kann alles anders sein: „Ich muss dann jetzt gehen.“
„Dann geh, ich bleibe noch eine Weile hier.“

Sie zögert: „Hey“
„Hey was verdammt?“ Er ist zornig, traurig, versinkt im Schatten seiner selbst.
Da geht sie, was bleibt auch zu sagen.

Das Holz blickt ihr nach, gelassen. Eines von den jungen Dingern, die eben an der Schwelle stehen eine Frau zu werden. Nichts, was man noch nicht gesehen hätte. Der Junge steht auf als sie am Ende des Weges verschwindet. Erleichtert streckt und räkelt sich das Holz, dann tritt er zu.