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Autor: MaschineBaby

Erstellt am: 03.02.2011

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Herbstnieseln



Geschrieben von:   MaschineBaby


Anmerkungen des Autors:
ist ein recht altes werk von mir, sicherlich mehr als 10 jahre. bin mal gespannt, wie ihr meine "anfänge" so findet...



Der Tag fing schon mies an. Als ich unterwegs war, um Peggy abzuholen, wurde der Wind heftiger und es hing dieses neblige Herbstnieseln in der Luft. Herbst ist sowieso eine komische Jahreszeit. Alles verblüht, verfällt, verliert seine Farbe, seinen Glanz. Die Welt wird um einige Nuancen dunkler, kälter, nasser, hässlicher. Bei Peg angekommen, verflüchtigten sich solche Gedanken natürlich sofort. Aufgedreht und fröhlich bis zur Schmerzgrenze plapperte sie gleich drauflos, womit sie fahren wollte, was sie essen wollte; was sie noch nie ausprobiert hatte und wo sie nie mitfahren würde. Auf dem Weg zum Auto wurde mir wieder einmal bewusst, dass sie genau deshalb meine beste Freundin war. Niemand kann sich im Alter von 22 Jahren noch so über einen Rummelbesuch freuen. Außer ihr! Sie schaffte es auch wirklich, ihren Monolog bis zum Einparken am Leben zu erhalten. Dieser erstarb jedoch sofort, als ich eine Grimasse schnitt und mit zwei Fingern meine Stirn rieb. Ich war schon immer ein recht wetterfühliger Typ und diese Waschküche aus Nebelnieseln und Kälte schrie direkt nach einer Hirnembolie oder wenigstens Kopfschmerzen. Zweiteres kroch kaum eine Minute nach unserer Ankunft meine Schläfen entlang nach vorn. Peggy schlug leicht enttäuscht einen klassischen Rückzug an die Heimatfront vor, aber nach einem kurzen, klaren Blick in ihre Augen zeigte ich mein bestes Heldengrinsen und nestelte meine Aspirinpackung aus der Jackentasche. Ich schluckte zwei trocken, dann schlossen wir den Wagen ab und stapften los. Die diesige Wolkendecke lag tief und wurde ringsum zum Horizont hin nur noch dunkler. Der Rummelplatz vor uns war durch die Nieselwand irgendwie verschwommen zu sehen, sogar die Musik klang hohl und schien zu leiern. All das vermittelte mir einen beängstigenden Eindruck, alles hatte so einen Twilight-Zone-Charakter. Neben mir griff Peggy ihre Ansprache zur großen Auswahl der gebrannten Nusstypen wieder auf und unwillkürlich stahl sich doch ein Lächeln auf mein Gesicht. Mit dieser Frau an meiner Seite konnte der Nachmittag gar nicht schlecht laufen. Auf dem Rummel angekommen, wandte sich Peg gleich rechts dem ersten Zuckerwattestand zu und hängte sich in die Schlange. An ihrer Seite ließ ich meinen Blick schweifen, als sie mich in die Seite knuffte und raunte: „Da gehen wir als nächstes hin, oder?“ Ich keuchte, als hätte sie mir einen tödlichen Streich versetzt, worauf sie nur mitleidig lächelte, dann blickte ich in die angedeutete Richtung. Zwischen dem Losstand und dem WELT DER NÜSSE stand, ein wenig ins Halbdunkel abgerutscht, eine Fotowand. Das Bild war nur undeutlich zu sehen, einzig die Löcher für die Gesichter der Fotografierten stachen deutlich hervor. „Das wäre doch ein tolles Erinnerungsfoto.“ Hörte ich im Hintergrund Peggys Stimme. Dann schob sich eine große, weiße Wolke in mein Blickfeld, der süße Geruch von Zucker stieg mir in die Nase und Peg fragte: „Willste mal?“ Ich lehnte dankend ab und schlenderte mit meiner mampfenden Freundin quer über den Platz zur Losbude. Eigentlich wollte ich gar keine Lose kaufen, sondern mir diese Fotowand aus der Nähe anschauen. Sie hatte etwas Seltsames an sich, nicht nur, weil sie viel zu alt und völlig deplaziert aussah. Wir kauften ein paar Lose und während Peggy sie eifrig aufpulte, starrte ich auf die Fotowand. Das Bild zeigte einen dicken Mann in einem langen, schwarzen Badeanzug, ein deutlicher Beweis für das hohe Alter der Wand, hatte man doch diese Bademode in den Fünfzigern getragen. Zu seinen Füßen saß ein Hund und der Hintergrund zeigte einen Strand. Der Hund war vermutlich ein Pitbull, er war massig gebaut, hatte hellbraunes Fell und eine weiße Pfote. Aber die fehlenden Gesichter hatten etwas Düsteres, Gruseliges an sich. Keine Augen, die fröhlich strahlten, kein Mund, der lachte, keine Stirnfalten, Grübchen, lustige Bärte – nur ein schwarzes Loch. Sie kamen mir vor wie Masken und hinter Masken versucht man doch immer etwas von sich, von seiner Person zu verstecken, als wäre der Makel oder Fehler zu krank, zu schwarz und zu dunkel, um ihn zu zeigen und sich der Öffentlichkeit zu stellen. Der Hund könnte ein tollwütiges Fletschen entblößen, der dicke Mann die Maske des Wahnsinns tragen... Peggy zerrte an mir, riss mich aus meinen Gedanken. Wir stolperten fast hinüber zu dem morbiden Fotoatelier. Hinter der Wand trat eine Frau hervor, einen alten Fotoapparat mit einem Standfuß unter dem Arm. Sie war vielleicht sechzig und hatte das freundliche, aber oberflächliche Auftreten eines Händlers. Ein rasches Nicken in unsere Richtung, dann hab sie die Hand für eine universelle Geste - drei Scheine pro Foto. Peggy begann sofort in ihren Taschen zu wühlen, ganz in ihren kindlichen Fantasien von kauzigen Erinnerungsfotos gefangen. Ich seufzte nur und holte mir noch eine Aspirin aus der Tasche. Meine Kopfschmerzen kamen wieder zurück, wellenartig. Mein Blick legte sich magisch angezogen auf die Fotowand und ihre seltsam dunklen, leeren Gesichterflecken. Mich fröstelte. Ich beschloss, mir die Rückseite der Wand anzusehen, um meiner Hirngespinste Herr zu werden. Vielleicht fühlte ich auch, dass es für mich eindeutig beruhigender wäre, die Wand von hinten zu sehen. Einfach nur eine Bretterwand mit zwei Löchern darin, kein Gedanke an die zwei skurrilen Gestalten aus einer längst vergangenen und toten Zeit mit einem schwarzen Loch als Gesicht. Also trat ich dahinter und erblickte wirklich nur verwittertes Bretterwerk, das aussah wie aus Restholz der Arche Noah gemacht. Durch das obere Loch konnte ich Peggy sehen, wie sie das Kleingeld in ihrer Hand zählte. Gerade wollte ich mein Gesicht durch das Loch stecken und etwas Geistreiches sagen wie: „Sag mal, ist der Badeanzug wirklich der letzte Schrei?“, als eine langbeinige Spinne sich vom oberen Rand herunterließ. Angeekelt schreckte ich zurück und dabei durchzuckte mich in all seiner abstoßenden Grazie das Bild des dicken Mannes mit seiner fossilen Badehose, seinen kurzen Beinen, den schlaffen Oberarmen und plumpen Händen. Nein, wenn schon, dann wollte ich den Hund auf dem Foto machen. Gerade als ich mich abwenden wollte, schoss eine Hand durch das obere Loch und griff nach meinen Haaren. Ich stolperte rückwärts und landete auf meinem Hintern, als ich auch schon Peggys fröhliches Lachen hörte und mir total verarscht vorkam. Sie trat hinter der Fotowand hervor und reichte mir ihre Judashand zum Hochhelfen. Ich presste sie ordentlich zusammen beim Aufstehen und ihr Grinsen wurde so eisern wie mein Griff. Mein Gesicht kramte postwendend sein bestes „Leckmich“-Grinsen heraus und ich presste ein „Clown gefrühstückt?“ zwischen den Lippen hervor. So starrten wir uns an, um gleich darauf laut los zu prusten und uns zu umarmen. Hinter der Fotowand hörten wir die Fotografin rufen: „Wollen Sie jetzt Ihr Foto oder nicht?“ Peggy wurde von Hektik ergriffen, sie schob mich zur Wand und fragte: „Straßenköter oder Bikinimodel?“ Meine Wahl fiel wegen vorheriger Situation natürlich auf den Hund und ich wies sie noch dezent an, doch vorher die Spinne zu entfernen, ja mach ich, danke sehr, null Problem. Für den Hund musste ich mich hinhocken, also beugte ich mich hinunter, als ich hinter mir ein vages Knurren hörte, wie von einem Hund, aber doch irgendwie wilder, gefährlicher, bösartiger. Ich warf einen panischen Blick nach hinten, gerade als Peggy sich auch umdrehte. Doch da war nichts, nur der Platzzaun. „Was war das denn?!“ fragte sie „Hast du das gehört?“ Ich nickte. „Mmh... na ja, wer weiß. Vielleicht irgend so ein kranker Arsch hinter dem Zaun.“ Ich stimmte zu. „Perverse, alte Männer.“ murmelte sie, dann lauter: „Egal jetzt, the show must go on, oder?“ und wir wandten uns wieder der Wand und dem Foto zu. Ich steckte mein Gesicht in das Loch, als meine Kopfschmerzen plötzlich wieder heiß aufleuchteten. Der Schmerz war fein und hell, wie ein Sandstrahl, der meine Stirnlappen abschmirgelte. Mein ganzer Körper erstarrte, die Welt vor meinen Augen trübte sich und ich spürte einen vagen Geruch in der Nase wie Blitze, Eisen und Blut, irgendwie rot und hart. Mein Adrenalinspiegel sprang hoch und in meinen Ohren setzte ein zartes Säuseln ein, das mehr und mehr zu einem starken Rauschen anschwoll. Meine Sinne schwanden, als mich ein letzter, klarer Gedanke durchfuhr: Peggy hatte von einem alten Mann gesprochen. Aber es war doch ein Hundeknurren gewesen. Also welcher Mann? Dann glitten meine Gedanken ins Nichts ab und ich wurde ohnmächtig.




Es ist kurz vor 22 Uhr. Der Rummel schließt. Unter den letzten paar Gästen bleibt ein dicker Mann mit seinem Hund zurück. Er ist in einen schwarzen Anzug gekleidet, seine Gesichtszüge wirken fast ein bisschen feminin. Der Hund ist ein Pitbull-Mischling, braun mit einer weißen Pfote. Scheinbar ziellos schlendern sie am Kettenkarussell vorbei, dann am WELT DER NÜSSE, wo es herrlich nach gebrannten Mandeln duftet. Die Fotowand daneben ist schon halb abgebaut. Man sieht gerade noch, dass es zwei Leute sind, ein Junge und ein Mädchen. Beide stehen Arm in Arm vor einem Strandhintergrund und tragen Bademode aus Zeiten der Knickebocker und Monokel. Der Mann und sein Hund bleiben eine Weile davor stehen. Sie sind die letzten auf dem Rummelplatz und sehen ein wenig aus, als wären sie in ein Gespräch vertieft. Beim Gehen streicht der Mann kurz über die alten Bretter und für einen Moment wandelt sich das Bild, wirken die Augen der Beiden barbarisch dunkel und kalt, als würden sie nur aus Schwarz bestehen und unter einem kurzen Lächeln, das dem Mann über das Gesicht huscht, sehen seine Zähne furchtbar falsch aus, viel zu spitz und die Rummelbeleuchtung blitzt in einer metallischen Reflektion hinter den Lippen. Dann nimmt er die Finger von dem Schrein und vielleicht war das alles auch nur schlechtes Licht, zuviel Alkohol und Süßigkeiten am Abend oder flatterige Nerven. Denn es ist inzwischen schon dunkel auf dem Platz und die Stadt ist nur als Lichterkette zu sehen, der Wind ist frisch und dann dieser herbstliche Nieselschleier...
Der Mann und sein Hund sind inzwischen am Ausgang angelangt. Schon verlieren sich ihre Silhouetten in der Nacht.