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Autor: Anetreus

Erstellt am: 06.01.2008

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Jenseits des Großen Loches



Geschrieben von:   Anetreus


Anmerkungen des Autors:
(geschrieben April 2004)



Jenseits des Großen Loches

Das Universum ist ein unendlich großer Festkörper, jedoch nicht von völlig gleichmäßiger Beschaffenheit. Manchmal bilden sich kleine Blasen, wenn sich ein Teil des Materials zu einer pulsierenden, leuchtenden Kugel zusammenzieht und den dabei entstehenden kugelrunden Hohlraum ausleuchtet.

Auch das Große Loch war so entstanden. Es maß etwa zwölftausend Kilometer im Durchmesser und die komprimierte Leuchtkugel im Zentrum pulsierte im 24-Stunden-Rhythmus. Das reiche Vorkommen an Sauerstoff und Wasser, beides Abfallprodukte der Entstehung des Großen Loches, führten in Verbindung mit dem pulsierenden Licht zur Entstehung von Leben.
Und dieses rätselhafte Leben fand seinen Höhepunkt in der Spezies Mensch.
Zwei dieser Menschen hatten sich einen besonderen Beruf erwählt, denn sie waren Lithonauten. Andere nannten sie Gräber oder Wühler. Ihre Aufgabe bestand darin, sich durch den Großen Festkörper zu graben und nach anderen Welten zu suchen.

Enei, groß und kräftig, stellte die Schaufel ab und sah zu Veri herüber.
„Darf ich eine Frage stellen, Dame Veri?“
Veri, nicht ganz so groß und kräftig, aber als Frau selbstverständlich die Anführerin der Mission, schaufelte etwas langsamer.
„Was ist, Mann Enei?“ fragte sie, ohne Enei anzusehen.
Enei hatte schon als Kind darunter gelitten einerseits dem niederen Geschlecht anzugehören und andererseits schrecklich neugierig zu sein. Für einen Mann schickte es sich nicht Fragen zu stellen. Dementsprechend war für ihn jede Frage ein Kampf.
„Verzeihen Sie, Dame Veri, ich frage mich nur, warum wir gerade in diese Richtung graben.“
„Das ist eben so.“
„Aber was ist, wenn wir an der anderen Welt vorbeigraben?“
Veri warf dem Mann einen belustigten Blick zu.
„Mann Enei, Sie machen sich zu viele Gedanken. Hochqualifizierte Frauen aus dem Ausschuss für Lithonautik haben uns diesen Kurs vorgegeben und daher ist es der richtige Kurs.“
„Entschuldigen Sie meine Neugierde, Dame Veri, aber wie haben die Damen diesen Kurs berechnet?“
„Es ist ein wenig spät, jetzt darüber nachzudenken. Graben Sie weiter und überlassen Sie das Denken mir.“
„Verzeihen Sie, Dame Veri.“
Enei begann wieder zu schaufeln. Er war stolz darauf, der schnellste und sorgfältigste Schaufler im ganzen Großen Loch zu sein. Und er war natürlich stolz darauf, die erste männliche Berühmtheit in tausend Jahren Menschheitsgeschichte zu werden.

Nach einer Stunde machten die beiden Lithonauten Pause.
„Verzeihen Sie, Dame Veri“, sagte Enei, als er seine Ration aufgegessen hatte.
„Was?“ fragte Veri und zündete sich eine Zigarette an.
„Warum sind Sie eigentlich Lithonautin geworden?“
Veri blies Zigarettenrauch in die Luft und sah in die Ferne.
„Weil ich gern grabe.“
Enei nickte. Dann fragte er: „Und warum?“
„Eine Frau braucht keinen Grund, um gern zu graben.“
„Ach so“, antwortete Enei leise und schwieg daraufhin.

Zwei Tag später wurde Enei von neuen Zweifeln geplagt.
„Dame Veri?“
„Was?“
„Woher wissen wir eigentlich, dass wir geradeaus graben?“
„Wollen Sie mir vorwerfen, ich könnte nicht gerade graben, Mann Enei?“
„Oh nein, entschuldigen Sie meine Anmaßung. Es war dumm von mir.“
„Hören Sie einfach auf, mir dumme Fragen zu stellen.“
Das traf Enei und er arbeitete von nun an besonders hart, um keine Zweifel an seiner Qualifizierung für diese Mission aufkommen zu lassen.

Die nächsten Jahre wurde Enei von seiner inneren Unruhe geplagt. Warum wollte er Fragen stellen? Männer stellen keine Fragen, sondern tun, was Frauen ihnen sagen. Was war los mit ihm, dass er soviel nachdachte? War er krank? Hatte er einen Gehirntumor?
Er konnte nichts dagegen tun, irgendwann platze es aus ihm heraus.
„Dame Veri?“
„Was?“
„Glauben Sie, dass es da draußen wirklich noch anderes, intelligentes Leben gibt?“
„Ja.“
„Wie wohl die Gesellschaft dieser Außergroßlochischen aussieht.“
„Keine Ahnung.“
„Ob es wohl eine Gesellschaft gibt, die von Männern dominiert wird?“
Erschrocken hielt Enei inne. Was hatte er da gerade gesagt? Mit großen Augen sah er zu Veri herüber, die nun das Graben einstellte.
Dann lachte sie schallend.
„Lustig, was in euren kleinen Köpfen so vorgeht.“
„Entschuldigung, ich wollte nicht -“
Veri schüttelte grinsend den Kopf.
„Männer!“
Dann schaufelte sie weiter.
Enei tat es ihr mit großer Erleichterung gleich.

Es vergingen weitere Jahre. Veri und Enei schaufelten und schaufelten.
Und plötzlich brach die Erde vor ihnen auf und gewährte den beiden überraschten Lithonauten den Blick auf einen gigantischen Hohlraum, erleuchtet von einer glühenden Kugel im Zentrum.
„Meine Fresse!“ rief Veri.
„Wunderschön“, sagte Enei.
Die Welt schien ebenso groß zu sein, wie die Heimatwelt der beiden Lithonauten. Auch gab es Seen und Wälder, also musste es Leben geben.
Enei war ganz aufgeregt. Eine fremde Welt mit fremden Leben! Er hätte beinahe seine Schaufel weggeworfen und wäre sofort auf Entdeckungsreise gegangen, doch Veri erinnerte ihn an die vorgeschriebene Prozedur.
Sie tarnten den Tunneleingang mit speziellen Planen und versteckten ihre Ausrüstung. Sie wuschen sich und legten Kleidung an, die farblich zur Umgebung passte. Erst dann marschierten sie los.
Die Landschaft war schön und ließ heimische Gefühle aufkommen. Sie entdeckten sogar Tiere, die es auch im Großen Loch gab. Enei war sich sicher, dass es auch Menschen hier geben musste.
Und am nächsten Tag, nach einer Nacht am Lagerfeuer, machten sie die nächste sensationelle Entdeckung. Als sie einen Hügelkamm überschritten, sahen sie ein Dorf. Ein bewohntes Dorf! Enei jubelte. Veri zog ihre Waffe.
„Glauben Sie, dass sie feindlich sind?“ fragte Enei mit Blick auf das Mordinstrument.
„Vielleicht.“
Der Höhepunkt der Entdeckungsreise wurde erreicht, als sie den ersten Dorfbewohner ansprachen: Die Menschen hier sprachen sogar die selbe Sprache wie die Lithonauten!

Dann wandelte sich die Begeisterung in peinliche Enttäuschung.
Es war kein Zufall, dass hier alles so wie im Großen Loch war. Denn es war das Große Loch.
Irgendwie haben sich die beiden Lithonauten wieder in ihre Heimatwelt gegraben.

Der Fall wurde natürlich untersucht und Enei und Veri wurden vom Ausschuss für Lithonautik befragt.
„Und was glauben Sie, was geschehen ist, Mann Enei?“ fragte die Vorsitzende.
„Vielleicht haben wir einen Bogen gegraben. Ein Mensch kann nicht ohne Hilfsmittel und Messinstrumente völlig gerade graben –“
„Und Sie, Dame Veri?“
„Ich grabe gerade. Alles andere ist männliche Unsicherheit.“
Enei hatte Glück für seine Anmaßung nur eine Rüge zubekommen.
Der Ausschuss kam zu folgender Erkenntnis: Das Universum ist unendlich groß, aber auch in gewisser Weise beschränkt. Wenn man sich lange genug in eine Richtung geradeausbewegt, gelangt man wieder zum Ausgangspunkt. Anders ausgedrückt: Überschreitet man die Grenze in der einen Richtung, gelangt man zur anderen Richtung wieder hinein. Damit sei bewiesen, dass das Große Loch der Mittelpunkt des Universums ist. Die Große Gebärmutter - nur hier kann Leben entstehen.
Das Erdfahrtprogramm wurde eingestellt.

Enei verstand es nicht. Er fand seine eigene Theorie plausibler, aber die Erklärung der Hohen Damen klang professioneller. Vielleicht hatten sie Recht. Was wusste er schon – er war nur ein Mann.