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Autor: Anetreus

Erstellt am: 26.08.2007

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Der Tod des Publikoid - Kapitel 2



Geschrieben von:   Anetreus


Teil des Episodenwerkes: Der Tod des Publikoid

  - Einleitung
  - Kapitel 1: Der Tod des Publikoid - Kapitel 1
  - Kapitel 2: Der Tod des Publikoid - Kapitel 2
  - Kapitel 3: Der Tod des Publikoid - Kapitel 3


Das Dorf Berojill schien sich ständig im Auge eines Hurrikans zu befinden. Hier herrschte ständig der Moment des Luftholens, die Pause zwischen zwei Worten und die Sekunde des Schreckens.
Die schwere Kirchturmuhr hatte keine Zeiger, die vier Ampeln an der großen Kreuzung standen ständig auf Gelb und das dorfweit einzige CD-ROM-Laufwerk, eingebaut in den Computer des einzigen menschlichen Bewohners schien ständig kurz davor zu sein, die eingelegte CD zu erkennen.
Jizzor seufzte. Es war so schwer, hier etwas zum funktionieren zu bringen. Dabei wollte er nur einen guten Porno sehen. Nun, darum würde er sich später kümmern.
„Zeit habe ich ja genug“, sagte Jizzor und kicherte über seinen Witz. Dann wurde er schlagartig ernst. Selbstgespräche? Verrücktes Kichern? Verlor er den Verstand?
Jizzor sprang auf und schaute in einen der vielen Spiegel, die er überall in seinem Haus, in jedem Raum, an jeder Wand aufgehängt hatte. Er atmete auf, als er seine Gestalt erblickte. Alles noch da. Sein knapp zwei Meter großer Körper, die zerbeulten Jeans, der löchrige Pulli, der schmale Kopf mit dem seltsam kleinen Gesicht. Das linke Auge hatte noch immer eine weiße Hornhaut und blaue Iris, in deren Zentrum sich die Pupille langsam ausdehnte, da es hier vor dem Spiegel etwas dunkler war als vor dem Computermonitor. In der rechten Augenhöhle war noch immer das silberne Zifferblatt der einzigen funktionierenden Uhr in diesem Universum zu erkennen. Jizzor blinzelte und seine Lider verteilten neue Flüssigkeit über die Hornhaut des linken Auges und über das Glas der rechten Augenhöhle. Die Zeiger der Augenuhr zeigten an, dass es sechs Minuten nach dreizehn Uhr war.
Es war Zeit, Zeit zu machen.
Jizzor verdrängte die Gedanken über Wahnsinn und Einsamkeit, prägte sich sein Spiegelbild ein und wandte sich ab, um das Haus zu verlassen.

Über dem Dorf Berojill stand eine unregelmäßig geformte Sonne, die flackerndes Licht in orangefarbenen und roten Farben über die Häuser und Straßen warf. Es war die brennende Leiche Gottes, die als Ersatz für eine Wasserstoffsonne herhalten musste. Der Vorteil an Götterleichen war, dass sie länger als die Ewigkeit brennen konnten. Der Nachteil war die unregelmäßige Lichtentwicklung und das eingeschränkte Spektrum. Doch die meisten der Pflanzen, die Jizzor hatte retten können, nahmen den heiligen Schein als billigen Ersatz für fruchtbare Fusion recht gut auf.
Jizzor ging auf den staubigen Bürgersteig entlang. Die Luft war angenehm warm, wie immer. An den schwachen, allgegenwärtigen Geruch nach heißem Metall hatte sich Jizzor längst gewöhnt. Nur der Staub kitzelte ihm gelegentlich in der Nase und reizte ihn zum Niesen. Das Schöne am Niesen war, dass es in unberechenbaren Abständen kam - ein wenig Chaos in diesem durchkalkulierten Konstrukt, dachte Jizzor und hielt dann inne. War man verrückt, wenn man Niesen als angenehme Ablenkung betrachtete? Schnell zog er einen Taschenspiegel aus seiner Hosentasche und schaute in sein rechtes Auge. Dreizehn Uhr und zehn Minuten. Jizzor hielt den kleinen Spiegel in seinen verkrampften Händen, bis der winzige Minutenzeiger in seiner Augenuhr auf die elfte Minute sprang. Nein - er war noch nicht verrückt. Eilig setzte er seinen Weg fort.
Nach sieben Minuten hatte Jizzor den Rand des Dorfes erreicht und stand vor der Kante. Er schaute den Abgrund hinunter und betrachtete die Maschinen, die an der Wand hingen, die sich unter seinen Füßen in die Tiefe erstreckte. Neun mal Neun Kilometer, genau wie die Grundfläche des Dorfes. Jizzor setzte auf den Boden und schwang die Beine über die Kante. Er hatte lange Zeit Spaß gehabt an dieser Empfindung. Wenn man die Augen schloss, hatte man das verrückte Gefühl, dass die Beine gleichzeitig auf dem Boden lagen und trotzdem nach unten hingen. Aber Langeweile ist eines der unbeliebteren Kinder der Zeit und konnte jeden Spaß verderben. Jizzor rutschte in routinierter Bewegung vor, kippte um neunzig Grad und saß nun auf der anderen Seite der Würfelwelt. Er erhob sich, klopfte den Staub von seiner Jeans und stand auf der Ebene der Maschinen. Hinter ihm hingen die Häuser des Dorfes an der Wand des Abgrundes, der noch wenige Augenblicke zuvor Jizzors subjektiver Boden gewesen war. Auf dieser Seite der Würfelwelt war es deutlich kühler, denn die brennende Leiche stand nur über der Seite des Dorfes Berojill. Hier war Nesretor, das Quadrat der Maschinen, die die Existenz dieses Universum ermöglichten. Jizzor fühlte die kalte Luft durch die Löcher seines Pullis und nahm einen Geruch ähnlich wie den von Pflaumen war. Eine leichte Luftbewegung aus dem Zentrum des Maschinenquadrates trug diesen Geruch vom nahen Quecksilberspeicher heran, ebenso wie die vertrauten leisen Geräusche der Maschinen, vom flüsternden Zischen bis zum dumpfen Klopfen.
Jizzor bemerkte, das der Pflaumengeruch heute stärker war, als sonst. Er zog die Augenbrauen zusammen und ging langsam auf den Quecksilberspeicher zu. Unterwegs warf er noch schnell einen Blick in den Spiegel. Dreizehn Uhr neunzehn.
Der Quecksilberspeicher war ein etwa zwölf Meter hohes Gebilde, dass sich als überdimensionale Gießkanne mit mehren Tüllen ohne Brauseköpfe beschrieben lässt. An jeder Tülle saß eine riesige Kugel, die wie eine Seifenblase in allen Regenbogenfarben schillerte. Diese sogenannten Kollektorblasen absorbierten bestimmte Partikel, leiteten sie durch die Tüllen, wo sie in Quecksilber umgewandelt und zur Speicherung im Hauptkörper weitergeleitet wurden.
Der Hauptkörper hatte ein Leck.
Aus einer Seite quoll in fünf Metern Höhe ein kleiner Strom Quecksilber und hatte bereits einen kleinen See am Fuße des Gebäudes gebildet. Am Rande dieses wogenden Spiegels hockte eine kleine Gestalt und schien vom flüssigen Metall zu trinken.
„He!“ rief Jizzor und erschrak vor seiner eigenen Stimme. Wie lange ist es schon her, dass er so laut gerufen hatte? Wie lange, dass er mehr als nur vor sich hingemurmelt hatte? Es hatte lange Zeit keinen Grund dazu gegeben, denn außer Jizzor hatten nie andere Bewohner des Würfels existiert. Wobei das Wörtchen 'nie' hier kaum mehr seiner ursprünglichen Bedeutung gerecht werden konnte.
Die fremde Gestalt erhob sich ruckartig, wurde kurzzeitig zu einem dünnen, flimmernden Strich und nahm dann menschlichen Formen an.
Jizzor blinzelte. Hatte er das gerade wirklich gesehen? Er spürte wieder den Drang in den Spiegel zu sehen, doch er wollte den Fremden nicht aus dem Auge lassen. Er ging darauf zu. Er spürte das dumpfe Klopfen der Maschinen durch den Boden und ein leichter Windhauch trug noch intensiveren Pflaumengeruch herüber.
Die fremde Gestalt entpuppte sich aus der Nähe als ein schlechtes Abbild eines Menschen. Jizzor konnte nicht sagen, ob männlich oder weiblich. Die Kleidung wirkte sackförmig, die Proportionen falsch. Das Gesicht war flach und ohne Züge. Jizzor kam die Gestalt mehr wie eine Zeichnung oder ein schlechtes Gemälde vor. Und als er noch ein paar Schritte genähert hatte, war er sogar überzeugt, nur das Bild eines Menschen vor sich zu haben.
Der Fremde wandte sich kurz zu dem Quecksilbersee um und Jizzor erstarrte vor Schreck. Als die Gestalt sich gedreht hatte, sollte sie ihm das Profil zuwenden – doch stattdessen erblickte Jizzor wieder nur einen flimmernden Strich. Es war tatsächlich nur ein Bild - oder? Es bewegte sich aber dennoch wie eine lebende Gestalt. Der Fremde schien eine aus einem Bild herausgelöste Figur zu sein, die sich wie durch Magie verselbstständigt hatte. Ein Stück bemalte Leinwand, die keine Lust mehr gehabt hatte, ein eingefanger Moment der Zeit zu sein und nun seine eigenen Spielchen spielte.
Und plötzlich bestand das Spielchen darin, Jizzor anzuspringen.
Zum Glück bewegte es sich dabei sehr schnell, so dass Jizzor die Zeit bekam, sich wieder zu fassen und eine Ausweichbewegung zu starten. Das zweidimensionale Wesen sprang an Jizzor vorbei und gab ein verärgertes Knurren von sich, das klang, als käme es aus einem uralten Lautsprecher. Es steigerte seine Bewegungsgeschwindigkeit noch weiter und wirbelte herum, schlug mit einem seiner papierdünnen Arme nach Jizzor. Offenbar wusste es nicht, dass Jizzor immer mehr Zeit bekam, je schneller sich etwas auf ihn zubewegte. Jizzor wich mit noch größerer Leichtigkeit aus und nutzte die Zeit das Wesen eingehender zu betrachten. Die Augen waren kaum mehr als Kreise, der Mund nur ein Strich. Und doch drückte sein einfaches Gesicht Wut aus. Und Gier. Gier nach was? Außerdem bemerkte Jizzor, dass das Wesen doch etwas Dicke hatte. In seiner Magengegend schien es sich ganz leicht auszuwölben, sowohl nach vorn als auch nach hinten – vielleicht das Quecksilber, das es aus dem See getrunken hatte?
Erst im letzten Moment bemerkte Jizzor das zweite Wesen, das sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Nur knapp wich er dem Schlag aus und erhielt von der scharfen Handkante des Angreifers einen schmerzhaften Schnitt am linken Oberarm. Mit geweiteten Augen wich Jizzor zur Seite, um nicht mehr zwischen den beiden Gegnern zu stehen.
Dann bemerkte er den dritten Fremden, der sich aus dem Schatten des Kollektors löste.
„Was wollt ihr von mir?“ schrie Jizzor.
Die Antwort war eine weitere Attacke durch seine beiden Gegner, während das dritte Wesen knurrend herangelaufen kam, um sich seinen Artgenossen anzuschließen.