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Autor: knochengott

Erstellt am: 19.11.2006

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explosion/implosion



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Es war Nacht als sie kamen. Seit sie Ashok mitgenommen hatten war einer gewisse Zeit vergangen, ohne da sich das genauer definieren könnte. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht eine Woche. Höchstens zwei. Wir taten unser bestes damit fertig zu werden aber es war nicht leicht. Ashok war unser Draht zum realen Leben, unsere Brücke zwischen Realität und Irrsinn, zur Normalität. Ohne ihn fingen wir an uns aufzulösen.
Ich spülte die meiste Zeit mit Tabletten weg und konnte so die age auf dankbare zwei bis drei Stunden erträglich gefilterte Realität beschränken. Die restliche Zeit war ich weg. Einfach nicht da. Owen und Henry ging es genauso, aber mich traf es am härtesten denke ich. Ich hatte weder Owens Härte noch Henrys Zynismus. Also bleib mir nur die Chemie. Die geringe Zeit, die ich da war verbrachten wir im Dive oder fuhren mit Owens altem Ford Siesta durch die Nacht, von Tanke zu Tanke trieb es uns. Wenn wir raus musste, dann nur nachts.
Im Nachhinein kann ich mich an keinen klaren Augenblick Tageslicht erinnern.

Lärm weckte mich. Jemand schrie und fluchte. Ich zuckte im Bett zusammen, doch die chemische Dämpfung ließ keine koordinierte Bewegung zu. Plötzlich Licht in meinem Gesicht, dann eine Lageveränderung, der ich geistig nicht folgen konnte. Aber als ich auf den Boden aufprallte half alle Chemie nichts – es tat verflucht weh. Klarheit bemächtigte sich meiner, aber zu langsam.
Der Druck und die ansteigenden Schmerzen zwischen meinen Schulterblättern ein Knie, die kalte Enge an meinen Handgelenken Handschellen. Mein Gehirn versorgte mich langsam aber nachdrücklich mit Eindrücken, realen Eindrücken. Das Bild von Owen, der mit auf dem Rücken gefesselten Händen und nacktem Oberkörper über den Flur geschleift wurde und dabei aus vollem Hals fluchte blieb mir im Gedächtnis. Mit Blut vermischter Speichel tropfte ihm vom Kinn. An Henry erinnere ich mich nicht. Dann riß man mich an meinen ebenfalls gefesselten Armen hoch, unbekannte und unbeliebte Schmerzen belästigten mich.
Meine Realität zersplitterte.
Bruchstückhaft erinnere ich mich noch, dass ich durch eine Mischung aus stolpern, getragen werden und fallen die Wohnung verließ oder besser gesagt dazu gebracht wurde sie zu verlassen. Eine Fahrt mit vier vermummten schwarz tragenden Bullen, einem tobenden spuckenden Owen und einem verwirrt aussehenden Henry, die offensichtlich in vollem Tempo durchgeführt wurde, da wir von einer Seite zur anderen flogen. Dabei kamen wir den Bullen sehr nah. Einer roch nach Moschus. Ein Bulle, der mir irgendwas erklärte. Die Wand hinter ihm war mit grauem Klarlack gestrichen und von unebener Oberfläche.
Schwarze Fingerkuppen. Blitzlicht, Seitenwechsel, Blitzlicht. Ein andere Bulle, andere Ansprache, selbe Wand hinter ihm. Und schließlich weiß lackierte Gitterstäbe, von denen sich der Lack schon löste. Eine dünne Matratze über hartem Bett unter mir. Gesellschaft um mich, möglicherweise real. Und in jeder Szene Owen, dessen Toben sich akustisch oder optisch einschlich. Nur Henry glänzte mit kompletter Nichtstätigkeit. Ein seltsamer Zustand.

Vier Schritte. Meine Zelle war vier Schritte lang. Voller erschreckender Klarheit stellte ich das fest, während ich immer wieder diese vier Schritte zwischen Wand und Gitter machte. Am Anfang beobachtet mich noch einer der Bullen amüsiert, doch verlor er schnell das Interesse an mir und sich in dem Papierstapel vor sich. In regelmäßigen Abständen brachte man mir Essen. Ich stellte keine Fragen, wozu auch?
Das sowohl Henry als auch Owen in einer ähnlichen Zelle hockten lag auf der Hand. Das wir am Arsch waren ebenso. Manchmal ging das Licht aus und ich schlief. Dann ging es wieder an und ich wanderte meine vier Schritte vor und vier Schritte zurück.

Als sie mich aus meiner Zelle holten, war ich fast dankbar, daß sich mir endlich etwas anderes bot als die dumpfe Zelle. Das Licht war drei- oder viermal ausgegangen, also hatte ich wohl vier Tage in ihr verbracht. Ich schwitze stärker als ich sollte und manchmal zuckte etwas von mir unkontrolliert. Mir ging die Chemie aus und ich mochte es nicht, aber ich musste es wohl oder übel hinnehmen.
Es waren drei Bullen, die mich holten, einer der die Zelle aufschloß und zwei die mit einsatzbereiten Schlagstöcken auf unsoziales meinerseits warteten. Ich tat ihnen den Gefallen und einen blutige Lippe später schleiften sie mich in einen Raum mit einen Tisch und ein paar Stühlen. Er roch nach kaltem Rauch. Sie setzen mich auf einen der Stühle, ohne die Handschellen zu lösen und dann kamen noch drei Bullen herein, so das wir zusammen sechs waren. Die drei Bullen, die mich hergebracht hatten, redeten kurz mit den Neuankömmlingen und ließen mir Zeit, einen Klumpen blutige Spucke neben den Stuhl fallen zu lassen. Keiner reagierte, was mich ärgerte.
Dann begann die Folter.

Ich hatte mit allem gerechnet, mit Stromstößen, Schlägen, Anbrüllen, doch womit ich nicht gerechnet hatte war, dass sie Löcher in meinen Kopf bohrten.
Nicht mit Maschinen, sondern mit Fragen. Dutzenden, hunderte, millionen Fragen, immer wieder neu verdreht, anders präsentiert, umformuliert, neu geschärft. Immer und immer wieder Fragen, die sich wie ein unaufhörliches Rinnsal in meinen Kopf bohrten. Sie arbeiteten meine Antworten durch, jedes Wort, jede Silbe wurde umgedreht, um- und in meinen Kopf hineingearbeitet. Einmal schlug ich aus Verzweiflung solange mit dem Kopf auf den Tisch, bis sie mich zwangen aufzuhören. Die gesegnete Verschwommenheit, die die Kopfstöße erzeugt hatten verschwand, während sie meine linke Augenbraue nähten und den Tisch abwischten. So ging es eine Weile. Sei stellten ihre Fragen, ich versuchte nicht verrückt zu werden. Sie verstanden offensichtlich nicht, dass ich kaum jemals viel geredet hatte. Und meine Verstocktheit spornte sie an, ließ sie immer länger und länger bohren.
Bis zu der Sache mit dem Tisch. Danach verbrachte ich eine lange zeit in einer Zelle mit weichen Wänden. Wolkenwänden. Wie lange weiß ich nicht, dort gab es kein Licht. Danach waren sie vorsichtiger, beobachteten meine Reaktionen genau, schlossen mich an ein paar Maschinen an, überprüften, analysierten mich bei jeder Folter genau. Sie bohrten langsamer, aber immer noch unerbittlich.

Als erste fiel es mir bei den drei Bullen auf, die mich von mal zu mal mit Fragen folterten. Ich nannte sie im Geist Fetti, Wichser und Valium. Warum müsste ja klar sein. Bei Fetti fing es an. Er tauchte eines Tages nicht auf. Und kam auch nicht wieder. Dann war Valium dran. Er fing an sich zu kratzen. Erst nur gelegentlich, dann immer stärker, am Hals und an den Unterarmen. Sie waren ständig gereizt und mit roten Striemen überdeckt. Gleichzeitig ertappte ich ihn öfters dabei, wie er gedankenleer vor sich hin starrte. Eines Tages erwachte er aus einer dieser Trancezustände, sprang Wichser an und verbiss sich wild heulend in seine Schulter. Sie machten ihn mit drei Leuten los. Mussten ihm den Kiefer brechen. Wichser war zwar ein verdammt harter Wichser, bekam davon nichts mit, war weggetreten. Danach blieb ich erstmal eine lange Weile in meiner Zelle und konnte meinen Kopf ausruhen lassen. Und wieder wusste ich nicht wie lange genau, das Licht spielte verrückt. Die meiste zeit flackerte es nur, ging mal aus und dann wieder an. Also keinen Hinweis auf Tageszeiten.

Als sie mich wieder holten saß Wichser allein am Tisch. Er trug den einen Arm in einer Schlaufe und sah mies aus. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen und bekam dafür eins über den Schädel. Meine Gegenwehr war nur kurz, dann schleppten sie mich mal wieder mit auf dem Rücken gefesselten Händen in die weiche Zelle. Ich gewöhnte mich allmählich daran, so transportiert zu werden.
Diesmal kam mir die zeit ewig vor, die ich dort verbrachte. Die Dunkelheit ließ mich Dinge hören und sehen. Schreie auf dem Flur, kratzen und schaben an der Tür, die mir Bilder von riesigen Klauen suggerierten. Monstren, die in den nichtsichtbaren Ecken des Zimmers hockten. Kalte, fischig stinkende Hände an meinen Füßen. Violette Mondlicht, das sich auf dem Linoleum des Flures spiegelte und unter meiner Tür hindurch haarige Beine des zischenden, schnaufenden, rotgeschuppten Drachen beleuchtete, der mir die Augen nehmen wollte.
Solche Sachen halt.

Ich schreckte hoch, setzte mich auf und atmete tief durch. Es war nicht in Ordnung. Die Welt, meine Welt war nicht in Ordnung. Ich verharrte und versuchte es zu erkennen, als es mich wie ein Schlag traf.
Owen und Henry.
Sie waren weg. Einfach weg. Nichts mehr zu spüren.
Ich starrte die Wand an, ausdruckslos starrte sie zurück. Rieb mir unbewusst den Oberarm, wo Owen mich immer geknufft hat und schmeckte Salz. Mir schien es, als ob mein Herz langsam schlagen würde. Ganz langsam. Ich wischte mir über das Gesicht, rieb es mit dem Ärmel trocken.
Owen mit seinen warmen Händen, den starken Händen und seinen liebevollen Kopfnüssen.
Henry mit seinem schiefen Lachen, dem affektierten Gehabe und seinen dreckigen Witzen.
Einfach weg.
Meine Schultern zuckten unkontrolliert, seltsame Laute verließen mich stoßweise.
Owens funkelnde Augen.
Henrys verteufelter Trick mit den Ohren zu wackeln.
Owens Kuß, warm, feucht und bierschwanger.
Henrys Umarmung, Rippenbogen an Rippenbogen mit mir.
Schubserei auf der Tanzfläche, lachen bis das Gesicht weh tat, ums letzte Stück Pizza knobeln, rauchgefüllte Abend vor der plärrenden Glotze, mitternächtliche Tankstellenbesuche, quetschende Reifen, quietschender Henry, laute Musik, lachen, weinen, schreien, schweigen – alles ist weg.
Ein Abgrund dehnte sich endlos vor mir und nicht seine Größe erschreckte mich. Nein, es war sein Leere, die absolute Abwesenheit von irgendetwas ließ mich zittern zusammenbrechen. Ich umklammerte meine Knie, fiel zur Seite, zog die Knie näher heran, noch näher, fest, so fest ich konnte und konnte doch nicht verhindern, dass ich zitterte.

Mich weckte ein quietschendes, klackendes Geräusch, das meine Zimmertür machte, die gegen den verzogenen Rahmen schlug. Ich rappelte mich auf, schleppte mich hin, stieß sie mit den Fingerspitzen auf und schloß geblendet die Augen. Flackerndes Licht beleuchtete den Flur, niemand zu sehen oder zu hören. Ich entdeckte Löcher in den Wänden, tiefe Kratzer auf dem Boden und massenhaft aufgebrochene Türen. Aber keine Menschen.
Ich wanderte herum bis ich zufällig den Aufenthaltsraum der Pfleger fand. Der Süßigkeitenautomat war aufgebrochen. Ich stopfte mich mit Snickers, Raider und TooPops voll bis ich glaubte zu platzen. Packte ein was ich tragen konnte und suchte den Ausgang.
Als ich ihn fand sah ich mich zwei unerwarteten Dingen gegenüber.
Stille und der Mond, der violett schien.

Ich stand eine Weile vor der Tür und schaute nur nach oben, schaute den Mond an. Sah mir sein vernarbtes Gesicht an, entsetzlich zugerichtet. Er zeigte mir alles was passiert war, alles was ich wissen musste. Ich brach in die Knie und fand mich am Rand des Abgrunds. Weit und leer dehnte er sich vor mir. Ich blickte hinein und verlor mich, nichts mehr übrig von mir. Ich war der Abgrund, gefüllt mit Nichts, nichts sagend, nichts bedeutend. Und ich nahm mich auf, stieß mich ab, fiel ohne zu landen, ging in der Leere verloren. Ein Heulen hallte über den Platz ehe ich richtig bemerkte, dass ich diesen Laut machte. Etwas im Dunkeln antwortete mir lang gezogen und rau. Ein zweiter fiel ein. Und noch einer und noch weitere und auch ich heulte lang gezogen und rau mit brennender Kehle, brennende Augen. Der Abgrund ragte um mich empor und trug mein Heulen aus sich heraus, ließ nichts zurück, das selber Nichts das zu ihm gehören zu schien.
Dann langte ein Hand in den Abgrund hinab und legte sich auf meine Schulter.

Es war Ashok, der genauso kaputt und zu Grunde gerichtet wirkte, wie alles um ihn herum. Seine Augen waren gerötet, das linke zuckte unkontrolliert. Er reichte mir die zitternde Hand, zog mich hoch und legte einen stützenden Arm um mich.
Ein paar Meter hinter ihm standen Owen und dahinter Henry.
Wieder war es, als ob mein Herz langsam, ganz langsam schlagen würde. Owen sah müde zu mir herüber, sein Kopf war mit Stoppeln übersäht, die Ärmel seiner Jacke fehlten. Henry trug keine Schuhe, nur Fetzen, die die Farbe von Owens Jacke hatten. Ich stieß einen kratzigen Schrei aus, machte einen Schritt auf sie zu und stürzte. Doch ich erreichte den Boden nicht, Hände fingen mich auf.
Ich wurde aufgerichtet und zerrte die beiden zu mir heran. Solide, real und echt drängten sie sich mir zu beiden Seiten. Ich zitterte und zog sie näher an mich heran, fester heran. Es dauerte eine Weile, da bemerkte ich, dass auch sie zitterten. Und dann ließ es nach. Das Zittern ließ nach, doch wir ließen uns nicht los. Es gab auch keinen Grund dafür. Keinen verdammten Grund. Owens raue Wange kratze an meiner Schläfe und endlich fiel etwas in den Abgrund und bleib darin liegen, drängte ein Stück der Leere hinaus.
Owens rechte Hand war blutüberströmt und baumelte kraftlos herab. Ich kramte ein paar Riegel aus meiner Tasche und sofort leuchteten alle Augen auf. Sie schlangen sie herunter.
„Woher hast`n die?“ fragte Henry mit vollem Eifer kauend. Ich deutete mit dem Daumen auf das Gebäude. Fast alle Fenster waren zerstört, die obersten Stockwerke waren ausgebrannt und rauchten noch. Henry warf einen Blick auf das Gebäude und sah dann das Papier in seiner Hand an.
„Ach Scheiß drauf, so hungrig bin ich nun auch wieder nicht!“ brummte er und begann, die Schokoladenreste vom Papier zu lutschen. Dann warf er es weg und der aufkommende Wind schleppte es über den Beton weg.
Wir schleppten uns in die andere Richtung davon.

Wir sind im Dive. Es hat erst vor kurzen wieder eröffnet und ist dementsprechend knallvoll. Die Luft ist stickig, der Abend bis jetzt lau. Ich stehe an eine der Wände gelehnt und beobachte die Leute. Ashok taucht kurz in der Menge auf, ein Spot lässt kurz den Knopf an seiner linken Schläfe aufblitzen. Sie haben ihm etwas eingesetzt, was sein Konzentration stört. Er ist niemandes Herr und Meister mehr. Die meiste zeit ist er nicht einmal mehr er selbst.
Ich hebe eine Hand und er erwidert den Gruß. Es ist schön ihn lebendig zu sehen. Dann verschwindet er in der Menge.
Und dann passiert es plötzlich. Ich sehe etwas Weißes im Augenwinkel und erstarre. Drehe langsam den Kopf und da steht sie. Sieht mich an, lächelt und alles verwandelt sich in Eis. Und mit einem mal schließt sich der Kreis und es ist wie beim ersten mal. Mein Herzschlag setzt wieder ein und er ist viel zu schnell. Sie dreht sich um und verschwindet um die Ecke. Ich will ihr folgen, doch die Wand lässt mich nicht los. Mit kalten Fingern greife ich in meine Tasche und zeihe die Tüte heraus. Ganz ruhig sage ich mir und hole zwei Tabletten aus der Tüte. Ich schlucke sie trocken, das kann ich inzwischen problemlos. Schweiß auf den Armen, das Shirt klebt mir am Körper, es ist furchtbar heiß. Und während mein Denken dank der Droge ruhiger wird, bemerkte ich daß sich mein Körper bewegen will. Ich halte mich weiterhin an die Wand und warte ab.
Ein reibendes Geräusch setzt ein und ich bemerkte nicht, daß es meine Zähne sind, die langsam aufeinander reiben.