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Autor: knochengott

Erstellt am: 16.11.2006

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desensibilisation/resensibilisation



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Die Kapseln haben eine seltsame Farbe. Eine Hälfte kotzgrün, die andere grellviolett. Ich habe sie von einem Kerl, von dessen Gesicht ich kaum mehr als das Kinn gesehen habe. Er trug die Mütze tief ins Gesicht gezogen, war also wohl kein besonders schöner Anblick.
Ich kichere.
Ein besserer Grund fällt mir momentan nicht ein und das ist gut so, deswegen habe ich ja mit dem Kerl geredet. Um das denken zu vergessen. Oder etwas Ähnliches.
Das vorspringende Kinn nannte die Kapseln Jokers. Keine Ahnung warum, ist mir auch egal. Mir war nur wichtig, dass sie billig waren. Kein so guter Stoff wie den, den mir die Uniformclowns reingedrückt hatten, kein XHT-0023, aber wenn es hilft…
Ich denke nicht weiter nach, werfe zwei ein und würge sie trocken herunter. E Viola! Sofort schlagen sie an und hemmen den Speichelfluß. Ich schmatze ein paar mal, was mit einem „Schmeckt`s?“ aus der Nebenkabine kommentiert wird, dann stehe ich auf und entriegle die Tür. Vorher atme ich tief ein und versuche der Hoffnung Herr zu werden, die mich unsinnigerweise immer wieder packt.
Sie wird nicht da sein.
Die Tür wird mir von einem fetten Kerl mit schulterlangen Haaren aus der Hand gerissen, ich fliege durch den kurzen Ruck hinterher an ihm vorbei. Kalte fliesen fangen mich auf. Hinter mir knallt die Tür, klirrt ein Gürtel. Sanftes Plätschern wird von einem schon fast wollüstigen Stöhnen überdeckt. Ich stoße mich von der Wand ab und verlasse das Klo. Werfe an der Tür nochmals einen Blick zurück. Das Stöhnen hält an.
Wohl bekomm´s.

Donnernde Bässe fordern mich auf meine Körper in sinnlose Muster zu zerschlagen. Ich widerstehe, strebe an der Tanzfläche vorbei und suche Big-O. Henry ist vor etwa eine halben Stunde mit einer Weiblichen abgezogen. Kein großes Ding, nur einmal Rücksitz und zurück nehme ich an. Sollte wohl bald zurück sein. Unablässig und ohne es kontrollieren zu können halte ich Ausschau.
Nach ihr. Es ist derselbe verdammte Club, derselbe Abend, aber meist…
Meist ohne sie.
Und, so bizarr es schein, es schmerzt mich.
Ich entdecke Owen, der allein in einer Ecke hockt. Auf dem Sofa, das er in Beschlag genommen hat ist noch jede Menge Platz, aber Owen hat schlechte Laune, was nur allzu deutlich zu erkenne ist. Ein paar seiner Fingerspitzen sind mit Heftpflaster umwickelt.
Hellblau mit Käfern.
Marienkäfern.
Daher die schlechte Laune. Neuerdings knabbert er Fingernägel wenn er nervös ist. Bis aufs Nagelbett und noch darüber hinaus. Muß höllisch weh tun. Ich kann sehen wie er an den Pflastern zupft und kratzt. Und immer wieder wandert eine seiner Hände gedankenverloren an seinen Mund. Wie gesagt er ist nervös. Wir alle sind es und wir alle haben so unsere Macken um damit klar zu kommen entwickelt. Ich habe den Stoff, die Chemie für mich entdeckt, Owen das unter seinen Heftpflastern und Henry bumst sich die Seele aus dem Leib. Der Grund dafür sind SIE. Der nächste Termin steht an. In vier Tagen soll es weitergehen und wir haben noch nichts von ihnen gehört.
Das macht uns nervös.

Henry kommt zurück, trägt einen zufrieden losgelösten Ausdruck im Gesicht, der an den Rändern schon anfängt zu bröckeln. So ist es immer – es hält nie lange vor, das Gefühl der ruhe. Ich fange ihn ab und deute stumm auf Owen.
„Hat schlechte Laune was?“ brüllt mir Henry ins Ohr. Ich nicke.
„Scheiß was drauf. Gott haßt Feiglinge!“ Ich verzeihe das Gesicht zu einem grinsen. Die Jokers fangen an in meinem Hinterkopf zu kribbeln. Wir schmeißen uns neben Owen, der uns kurz und aggressiv mustert. Kaum erkennte er uns verschwindet alles aggressive aus seinem Blick. Henry brüllt ihm etwas ins Ohr und Owen nickt. Sie stehen auf, Henry macht zu mir eine Kipp-Schluck-Bewegung und hebt die Augenbrauen. Ich winke ab. Dann verschwinden sie Richtung Bar.

Sie sind kaum in der Masse untergegangen, als ich in meine Tasche greife und sie innen abtaste. Drei kleine Kapseln bleiben mir noch, weiterer hirnfreier Spaß für die nächsten Stunden. Ich ziehe das Handy hervor um die Zeit zu erfahren, als sich jemand neben mir aufs Sofa wirft. Ich blicke kurz hoch und erstarre.
Unglaublich blaue Augen. Aber nicht allein. Ein muskulöser Kerl hat seinen Arm um sie gelegt und befingert ihre Taille. Er sitzt zwischen uns und strömt eine Mischung aus scharfem Durfwasser und noch schärferer Eitelkeit aus. Beide beugen den Kopf nach vorn und küssen sich. Ich kann den Blick nicht abwenden. Mir ist schlagartig wieder glühend heiß. Er hebt eine Hand und legt die Fingerknöchel sacht gegen ihre Wange, eine Geste, die hart erarbeitet Zärtlichkeit auszudrücken scheint.
Und mitten im Kuß öffnet sie die Augen und sieht mich direkt an.
Ein Stöhnen, fast ein Seufzen entfährt mir ungewollt und sie muß es trotz des Lärms gehört haben, denn ihre Mundwinkel verzeihen sich leicht nach oben. Der Kerl bekommt die Veränderung mit und dreht sich zu mir um. Uns trennt kein halber Meter und aus dieser Entfernung sieht er unglaublich stupide und häßlich aus. Ein Würgreflex rollt über mich hinweg, als ich seinen Atem riechen muß.
„Gibt’s n da zu glotzen?!“ fährt er mich an und will sich ganz zu mir herumdrehen, doch einer ihrer Zeigefinger dreht seine Kopf zurück, während sie ihm etwas ins Ohr flüstert. Ihr beider Lächeln lässt auf wenig schmeichelhaftes schließen.
Wieder küssen sie sich, diesmal heftiger, fordernder, weniger ein Kuß als vielmehr schon die Einleitung oder das Vorspiel. Und dabei sieht sich mich an, lässt mich nicht aus den Augen, während ihr Mund, ihre Lippen, ihre Zunge mit ihm spielen.
Es ist zuviel, ich stehe taumelnd auf, stoße den flachen Tisch mit einem hektischen Tritt beiseite und renn weg.
Ich laufe nicht schnell, ich beeile mich nicht wegzukommen – ich renne.

Ich will raus hier, nur raus aus diesem Club, der zu heiß, zu eng, zu stickig ist. Ich stoße mit Leuten zusammen, schiebe mich an ihnen vorbei und laufe weiter. Bemerke nur am Rande, dass ein albernes Grinsen mein Gesicht überzogen hat und ich unkontrolliert kichere.
Die Jokers.
An der Tanzfläche remple ich gleich eine ganze Gruppe Leute an, die mich mit unzähligen Händen wegstoßen. Ich taumle ins Leere, als mich eine kräftige Hand am Arm greift und zur Seite zeiht.
Owen. Big-O. Ich kichere blöd.
„Alles klar Stuart?“ brüllt er mir ins Gesicht.
„Hihihi!“ ist alles was ich hervorbringe. Owen sieht mich nur einmal genau an, dann löst er die Hand von meinem Arm und legt sie mir um die Schultern. Lautes Gegröle hinter uns, doch Owen hält seine Aufmerksamkeit stur auf mich gerichtet. Er kommt ganz nah an mein Gesicht heran, bis auf ein paar Zentimeter und sieht mir dabei ununterbrochen in die Augen. Mir vergeht das Kichern und dafür bin ich ihm dankbar.
„Du setzt dich jetzt hin Stuart und ich hole uns zwei Kaffee. Dann gehen wir raus und reden.“
Ich nicke wortlos, bin mit einem mal leer und weich. Owen dirigiert mich in eine Ecke, lässt mich dort. Ich falle hinein.
„Och, gib deiner süßen einen Bussi!“ ruft jemand laut, aber Owen steht vor mir, verdeckt mir die Sicht und eigentlich ist es auch nicht wichtig.
„Bleib hier.“ sagt er, seine Stimme sanft und ruhig. Er dreht sich um und geht zur Bar, verwundert sehe ich ihm nach.
Ist das Owen? Kann ich ihn nach all der Zeit so wenig kennen?
Ein paar Kerle beobachten ihn, lachen und werfen ihm eine Bemerkung zu, doch er ignoriert sie. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und gleite in das weiche Polster hinein. Weitere Spottrufe lassen mich die Augen wieder öffnen. Owen kommt zurück, hat zwei Kaffee bei sich. Er gibt mir einen Becher, hockt sich vor mich hin. Legt seine rechte Hand auf den Oberschenkel. Sie ist warm.
Ich trinke den Kaffee, er ist süß und heiß, voller Zucker, genau wie ich ihn mag.
„Besser?“
Ich kann nur den Kopf schütteln. Mir tut alles weh, innen drin. Kein klarer harter Schmerz, eher so eine art dumpfes Pochen. Ich möchte weinen. Kann man mir da ansehen?
Owen kann es.
„Los wir gehen `ne Runde und du erzählst was los ist.“
Er steht auf und zieht mich mit einer Hand hoch.
„Jetzt gib ihm doch endlich seinen Kuß Großer!“
Weiteres Grölen hinter Owen.
„Halt mal.“ Er drückt mir seinen Kaffeebecher in die Hand. Ich packe zu und er schlendert zu den wild grölenden Kerlen rüber. Einer sieht ihn kommen, macht die andere auf ihn aufmerksam. Köpfe drehen sich herum.
„Na Schwuchtel, willste paar aufs…“ sagt der Kleine in der Mitte als Owen näher kommt und Owen schlägt ihm den Satz mitten aus dem Gesicht. Er geht zu Boden, die anderen starren sprachlos.
Owen nickt ihnen nicht unfreundlich zu und dreht sich wieder mir zu. Da löst sich die Starre.
„Verdammter…“ Sie hatten zwei Chancen und haben keine genutzt. Mehr gib Owen nicht her. Innerhalb kurzer Zeit liegen die anderen neben ihrem Kumpel. Owen kommt zu mir, ich gebe ihm seinen Kaffeebecher.
Von seiner Rechten tropft Blut.
Wir gehen.

Es ist arschkalt draußen, doch die Kälte schafft es wenigstens, dass meine Kopf das letzte bißchen Klarheit zurückgewinnt, die mir der Kaffee noch nicht gebracht hat. Wir gehen eine Weile schweigend nebeneinander her, passieren McDonald und werfe die Becher in den Papierkorb davor. Die Hände tief in den Taschen meiner Hose beginne ich schließlich stockend zu erzählen, von meinen Eltern, meinen Träumen, den Pillen.
Und Owen schafft mühelos, was Henry nie schaffen würde – er hört mir einfach nur zu.
Ich kann mich frei reden. Und es dauert.
Schlußendlich sind wir physisch im Stadtpark und geistig beim heutigen Abend angelangt. Wir sitzen jeder auf einer Schaukel, schaukeln sacht und ich beende meine Geschichte genau hier.
Owen schweigt. Schweigt lange. Dann hält er seine Schaukel an.
„Ich muß mal.“ Er verschwindet ein paar Schritte beiseite und pisst. Den Gürtel schließend kommt er züruck und mir schein, dass er endlich etwas sagen will.
Ich täusche mich nicht.
„Die Jokers kannste wegwerfen, da kenn ich bessere Sachen gegen deine Träume. DSMO, LazyTigers und so was. Besorg ich dir. Und die Kleine…“
Er sieht mich zweifelnd an, den Kopf schief gelegt.
„Sicher?“
Ich nicke und mehr braucht er nicht.
„Also nach dem, was du so erzählst… Erst schießt sie dich hoch, höher als jemals zuvor,“
Das waren meine Worte gewesen und aus seinem Mund klangen sie kitschig und platt, aber entsprachen sie deswegen etwa nicht der Wahrheit?
„und dann gibt sie dir `nen Tritt, dass du doppelt so schnell wieder unten landest. Also ehrlich man, vergiss sie!“
Ja, denke ich, klar - einfach vergessen. Als ob das so leicht wäre. Doch ich nicke.
Ich schwinge langsam aus, springe ab und schweigend gehen wir zurück.