Benutzer
Passwort

Beitrag   2 Bewertungen  
Autor: knochengott

Erstellt am: 16.11.2006

Beitrag für Buch vorschlagen

Zufälliger Beitrag



Artikelliste


Direkter Link zum Artikel



fragmentation/ rekombination



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Ich taste die Decke ruckartig mit meinen Blicken ab. Links oben fange ich an und recht unten höre ich auf. Wenn ich dort angekommen bin blinzele ich einmal und fang wieder links oben an.
Wieder. Und wieder.
Es ist eine schwere Sache gleichmäßig die Decke abzusuchen, denn sie ist glatt, ohne Flecken, Fehler oder Makel. Aber es ist gut, dass es schwer ist. Es hindert mich am denken. Hindert mich daran zu denken, was…
Nein. Von links oben nach rechts unten. Und zurück.
Noch einmal. Und zurück.
Noch einmal.
Wieder. Und wieder. Und wieder.
Irgendwo piepst ein Apparat synchron zu meinem Puls. Er piepst langsam. Eine Nadel steckt in meinem Arm und tropfenweise fließt eine wassergleiche Lösung in mich. Mein Mund ist trocken, der Hals fühlt sich heiß und rau an.
Aber ich habe keinen Durst.
Nicht weil ich auf eine heroische Art des Leidens bestehe oder weil ich auf etwas aufmerksam machen will.
Nein das sicher nicht. Nicht einmal weil ich zu faul bin.
Es ist mir nur scheißegal. Ein Glaß Wasser steht direkt neben meinem Bett, ich kann es gerade noch sehen ohne den Kopf zu drehen und auch das ist mir scheißegal.

„Wo´sn Ashok?!“ blaffte Owen den Kerl an, noch ehe wir richtig durch die Tür waren. Der Kerl schenkte uns einen langen Blick, während dessen ich die verdammten Metallknöpfe auf seiner Schulter entdeckte und sah dann wieder in sein Buch.
„Weg.“ Mehr sagte er nicht und mehr gab es offensichtlich auch nicht zu sagen. Das kapierten wir auch von ganz allein. Sogar Owen.

Wir sahen Ashok erst eine Woche später wieder, beim Mittagessen. Henry stieß mich mit dem Ellbogen an, während Owen seine Gabel nebst Essensportion in der Luft harren ließ. Er glotzte anstatt weiterzuessen. Ashok sah müde aus, dunkle Ringe unter den Augen, der Anzug faltig. Er nahm sich ein Tablett, ließ sich die Proteingrütze geben und kam zu uns. Laut klapperte das Blechtablett auf unseren Tisch und Ashok war nicht weniger laut, als er sich ächzend setzte.
„Mann siehst du scheiße aus.“ meinte Henry fassungslos.
„Danke Miss tausendschön!“ gab Ashok giftig zurück. Als Henry zurückzuckte seufzte er leise und fuhr sich mit der Hand mehrmals übers Gesicht.
„Erflehe eure Verzeihung.“ kam es hinter der Hand hervor. „ Die zurückliegende Zeitperiode war ein bißchen zuviel für diesen Sohn meiner Mutter. Übt Nachsicht in Gedanken und Taten angesichts meiner Unzulänglichkeit.“
„Schon gut.“ murmelte Henry und starrte dabei unablässig auf seinen Teller. Kratzend schob seine Gabel die Grütze hin und her, ohne Sinn. Nichts war gut.
Gar nichts.
Ashok hörte auf sich übers Gesicht zu streichen, worüber ich froh war. Es machte mich nervös.
„Euer geschätzter Herr und Meister hatte einen Disput mit der elitären Führung dieser geschätzten Einrichtung, die in der zurückliegenden Zeiteinheit von verbalen in physische Aspekte überwechselte, wie man meinem äußeren Erscheinungsbild wohl ansehen kann.“
Er sah uns nicht an, betrachtete beim reden seinen Jackenärmel, entdeckte etwas und begann mit dem Daumen darauf herumzureiben.
„Somit war ich unkooperativer Gast dieser Einrichtung und durfte einen Großmeister der körperlichen Züchtigung und damit verbundene Tendenz zur Wahrheitspreisgabe überzeugen, es nicht mit einem kollaborierenden Subjekt der Spezies Mensch zu tun zu haben. Ein Unterfangen dessen Einzigartigkeit nur durch seine beängstigende Grundsätzlichkeit übertroffen wurde. Nichts desto trotz war euer kleines Drachentöterlein erfolgreich und hat einen lächerlich geringen Ausschnitt seines alten Integrationsstatus wieder.“
Keiner sagte ein Wort. Wir hingen an seinen Lippen, die zögerlich und für uns ungewohnt aggressiv die Geschichte hervor brachten.
„Der Sohn meiner Mutter wird für absehbarer Zeit niemandes Herr und Meister mehr sein, ist aber noch im Genuss von Aufenthaltsprivilegien der gehobenen Art. Was für ein glück!“
Er zischte den letzten Satz zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und warf den Löffel auf den Tisch. Klappernd sprang er zurück und fiel zu Boden. Glücklicherweise verfehlte er einen Teller. Köpfe drehten sich, wechselten aber schnell die Richtung als Henry, Owen und ich sie unsererseits fixierten. Das hier war privat.
Ashok hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Arme verschränkt. Er sah uns einen nach dem anderen an, dann löste er die Arme und sah sich rasch um. Niemand schenkte uns übermäßige Beachtung. Uns mit einer Hand heranwinkend beugte er sich vor. Unsere Köpfe bildeten einen Kreis über dem Tisch.
„Hört mir zu, hört mir gut zu, denn ich werde mich nicht wiederholen. Ich weiß ihr haltet die Augen offen, wie ich es euch gelehrt habe. Aber jetzt müsst ihr mehr sehen, als man euch zeigt. Ihr müsst hinter das offensichtliche sehen. Es wird Krieg geben. Ich weiß nicht warum, oder wer gegen wen, aber ich weiß, dass ihr eine Rolle spielen sollt. Also öffnet die Augen und lernt zu verstehen.“
Offenen Mundes starrten wir Ahok an. Niemals hatte er so zu uns gesprochen.
Er lehnte sich wieder zurück, zog sein Tablett heran überblickte den Tisch auf der Suche nach seinem Löffel. Er fand ihn nicht, warf ein fröhliches Grinsen in unserer Gesichter und stand auf.
„Die augenblickliche Unpässlichkeit meiner Nahrungszufuhreinheit zwingt mich den eben genannten Vorgang abzubrechen. Ich empfehle mich.“
Er nahm sein Tablett auf und hatte sich schon halb abgewandt, als ihn wohl noch etwas einfiel.
„Und ihr drei würdet gut daran tun, diesen Ausdruck geistiger Umnachtung aus euren Visagen zu entfernen. Er fügt sich nur mühsam in das sonst so smarte Bild, das man hier von euch hat.“
Tippte sich kurz an die Stirn und ging. Wir schlossen die Münder und sanken in unsere Stühle zurück.
„Was…?“ setzte Henry an, die Augen noch glasig. Mir ging es genauso. Owen hob eine Hand und sah Henry scharf an. Seine Augen waren schon wieder klar.
Klarer als jemals zuvor.
Henry riß sich zusammen und auch ich schüttelte meine Verwirrung ab. Wir standen auf und räumten unsere Tabletts weg. Der spärliche Appetit war uns vergangen.

Es folgten weitere Trainingseinheiten, die jetzt ihren wahren Charakter zeigten. Die PMA waren umstrukturiert worden. Es standen mehr Aktivmanifestatuionen und Bannungen auf dem Lehrplan, dafür wurden die Stigmatisierung für Ebenen acht und neuen gestrichen. Owens Autofokusation, Henrys Physisstabilisierung und meine Zerebralausrichtung schritten mit riesigen Schritten voran. Und sie hatte ebenfalls gelernt. Weniger Ausfälle passieren. Und noch mehr veränderte sich. Assistenten, die sonst hektisch über die Gänge eilten verschwanden nach und nach, stattdessen dominierte bald olivgrau die Kleidung der Angestellten. Die Anforderung wurden höher und höher geschraubt, die Anweisungen kürzer und Fragen wurden ganz übergangen.
Die Maschinerie hatte uns.

Ashok trafen wir oft beim essen. Wie alle anderen musste er auch oliv tragen und fühlte sich darin sichtlich unwohl. Wir plauderten, redeten uns den Frust vom Leib. Tauschten Neuigkeiten aus. Er war der einzige Mensch, der sich auch so benahm und damit für die Maschinerie wertlos. Schematas passten nicht auf ihn.
Und doch fanden sie noch eine Aufgabe für ihn.

Ein Klicken an de Tür ließ mich aus dem Schlaf hochschrecken. Sofort regulierte das Training meine mentale Blockade und den Adrenalinausstoß hoch. Meine Linke krümmte sich zur Dreidornenklaue und kanalisierte Energie kribbelte über die Haare meines Unterarms. Dann schwang die Tür auf und die Silhouette im Licht des Flurs ließ Ashok erahnen. Schnell trat er ein, die Tür schloß und verriegelte sich wieder, während ich die Energie zurückfließen ließ. Er bemerkte es natürlich.
„Ein beachtlich aktives und hohes Destruktivpotential, junger Freund.“ Er lächelte wie immer mit Stimme und Augen, das Gesicht ansonsten reglos.
Mein Blick streifte die Uhr – 23.08. Ich öffnete den Mund um zu fragen war er jetzt hier wolle, da fiel mir etwas auf.
Seine Hände.
Sein Gesicht war reglos, der Blick klar, die Züge offen. Doch da waren seine Hände und die waren nicht in Ordnung. Aus mir unbekannten Gründen hatte er seinen Harry Potter dabei und seine Hände taten dem Buchrücken unaussprechliches an. Er wrang das Buch, als wollte er es erwürgen. Mein Mund fiel zu und ich richtete mich im Bett auf. Und ehe er anfing zu sprechen wusste ich schon was er sagen würde.
Schlechte Nachrichten.

Der Alte.
Ich hatte ja immer schon gewusst, daß er mit seinen Wutausbrüchen die Familie kaputt machen würde. Oder das ihn die verdammten Reval vorher umbringen würden. Aber das er beides so effektiv erledigen würde…
Er pennte auf dem Sofa ein. Mit der unvermeidlichen Reval in der echten. Das Sofa brannte wie Zunder und er mit ihm.
Ich hoffe, dass meine Mutter nicht leiden musste. Sie hatte doch nie jemandem etwas getan. Ich hoffe sie ist einfach nicht aufgewacht. Hoffe sie hat einfach weitergeschlafen.
Aber seitdem schlafe ich schlecht. Schrecke immer wieder aus dem Schlaf hoch und dann ist mir heiß.
So verdammt heiß.

Verdammte Decke. Es hat nichts genützt, ich habe wieder daran denken müssen. Und jetzt ist es nicht mehr nur mein Hals der heiß ist, ich bin es, der zu brennen scheint. Ich kann die rostroten Hitzeschwaden förmlich sehen, die unter der Decke hervorschlagen. Also senke ich den Blick von der Decke und stehe auf. Meine Beine sind recht wackelig und meine Hände zittern, ich stoße das Glaß um, als ich danach greifen will. Wasser ergießt sich über mein Kissen. Auch egal.
Ich drehe mich zum Bad und das bringt einen kurzen aber heftigen Schmerz an meinem rechten Arm mit sich. Hinter mir scheppert es. Verwundert sehe ich an mir herunter und entdecke ich eine roten Strich auf der Innenseite meins Unterarms. Er wächst und hat meine Hand zum Ziel. Dann sehe ich mir den Ursprung genauer an und verstehe.
Die Infusion.
Bis zum Bad sind es nur ein paar Schritte, aber ich brauche doch eine Weile ehe ich es erreiche. Taste lange nach dem Lichtschalter, begnüge mich schließlich mit dem Restlicht das durch die offene Tür ins Bad fällt.
Drehe den Wasserhahn auf. Herunterbeugen geht nicht, wenn ich den Oberkörper neige gleitet das Gleichgewicht ab, also lasse ich mich einfach auf die Knie fallen.
Knapp verfehlt mein Kinn das Waschbecken. Ich schöpfe mit der Hand Wasser an den Mund, bespritze Kinn, Nase und Mund ohne wirklich etwas zu trinken. Dann recke ich Oberkörper und Hals und mit den Rechten als Schräge benutzend gelingt es schließlich – Wasser läuft in meinen Mund.
Mein Magen scheint kein Freund von Wasser zu sein oder ich bekomme es schon zu lange direkt, auf jeden Fall kommen mit die ersten gierigen Mundvoll wieder hoch und spritzen als schleimige Brühe zurück ins Waschbecken. Mich hebt es noch einmal und dann nochmals, diesmal trocken. Ich rülpse laut und hohle keuchend Luft. Klappe den Mund zu und atme langsam durch die Nase ein um meinen rasenden Herzschlag zu beruhigen. Der Geruch trifft mich wie ein Hammerschlag, ich würge nochmals trocken, und dann verkrampf sich etwas und ich würge weiter und weiter, kann nicht mehr aufhören, kann nicht mehr atmen. Den Kiefer zusammengebissen versuche ich es zu unterdrücken und schlagartig hört das Würgen auf.
Ich atme ein, langsam, ganz langsam. Mein Magen verkrampft sich noch einmal, dann gibt er Ruhe.
Und akzeptiert die nächste Ladung Wasser.

Ich schleppe mich aus dem Bad, klammere mich am Türrahmen fest. Das rotgoldene Licht fällt mir nicht auf, ich bin zu sehr mit Festhalten beschäftigt. Das Zittern meiner Hände ist in die Beine übergegangen, sie tragen mich kaum noch. Unsicher sehe ich an mir herab und unter meinem Blick wird das Zittern weniger, stabilisiert sich die Lage etwas. Ich kann einen weiteren Schritt aus dem Bad heraus tun.
Und erstarre.
Mit aufgerissenen Augen überblicke ich das Zimmer, während meine linke Hand hinter mir nach dem Türrahmen sucht, dem Türrahmen, der relative Sicherheit verspricht.
Mein Bett brennt.
Der Schrank brennt.
Der Teppich brennt.
Gierig lächelnde Hitze schlägt mir entgegen. Am Rande bemerkte ich, dass ich normal atmen kann und kein Alarm zu hören ist, aber das Feuer ist so nahe, so nahe, das ich die Hitze spüren kann.
Oder etwa nicht?
Meine Fingerspitzen berühren den Türrahmen, ich will mich ins Bad zurückziehen. Aber meine Beine scheinen andere Absichten zu haben, sie verweigern sich, ich stürze mitten in der Drehung. Der Türrahmen rast mir entgegen, ich kann einen scharfen Kratzer in der Oberfläche näher kommen sehen, dann pralle ich dagegen. Mein Nacken knackt laut. Eine Stelle über meinem linken Auge wird sofort taub, dann packt mich Dunkelheit und trägt mich fort.

Ich starre an die Decke. Piepsen um mich herum. Schläuche in den Armen, von uniformierten Pflegern über den Fixiergurten sorgsam verlegt. Die Gurte sind für mich allein da, sind mein ganzer Stolz und Besitz. Und das Nachthemd natürlich. Und die lähmende Kälte, die mir neuerdings zueigen ist.
Sie kommt nicht von mir, sie kommt aus einer der aufgehängten Beutel, tropft unablässig in mich hinein. Ich mag diese Kälte, möchte sie fast freudig begrüßen, was mir aber leider nicht gelingt.
Habe ich leider gesagt?
Auch egal. Die Kälte ist eigentlich nur ein Synonym für die Emotionslosigkeit, die der Beutel mit der Aufschrift XHT-0023 mir verabreicht. Und emotionslos kann ich natürlich weder freudig begrüßen, was XHT-0023 mit mir anstellt, noch mein Unvermögen das zu tun bedauern.
Dennoch. Ein fernes Echo ist noch da. Und insgesamt gefällt mir XHT-0023.
Es ist jedenfalls um Längen besser als die Decke.