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Autor: knochengott

Erstellt am: 15.11.2006

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infektion/immunisation



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Ich frage mich immer noch wie Owen diesen Schuppen hier aufgetrieben hat. Der Boden, die Wände, sogar das Klo ist, ausgenommen die Fliesen, schwarz gestrichen. Die Fliesen sind blutrot. Zur Unterteilung der Räume hängen schwarze Tarnnetze, wo auch immer herbekommen, von der Decke.
Aber die Musik ist laut und grob, die Leute sind schräg, die Getränke kalt. In der Luft das Aroma von Patchouli, Schweiß und Verzweiflung. Ich lasse mein Glas auf den Tisch sinken, sehe mich um und atme tief ein. Vor mir auf der Tanzfläche schreit sich irgendjemand die restliche Seele aus dem Leib, übertönt dabei sogar die Musik und es ist okay.
Es passt hierher.
Ich passe hierher.

Henry rempelt mich leicht an, als er sich neben mich auf das Sofa fallen lässt. Ach ja, noch so etwas cooles – kleine Bar, großer Raum voller Sessel und Sofas. Big-O, Henry und ich teilen uns eins. Wir haben alle drei ein kaltes Getränk und schon einen mitlaufen. Also sind wir technisch gesehen zu sechst.
Wieder brüllt der Typ vor uns los, nichts sinnvolles, einfach nur Mund auf und „AHHHH!“ wie beim Zahnarzt. Schon irgendwie komisch, aber keiner scheint sich daran zu stören. Und wo wir grad dabei sind – vor uns steht ein flacher, runder, im Durchmesser etwa 2 Meter großer Tisch auf dem, seit dem wir gekommen sind, ein Kerl liegt und offensichtlich seinen Rausch ausschläft. Das halbvolle Bierglas steht noch neben ihm, keine zehn Zentimeter vor seinem Gesicht. Meine Schuhe auch. Nichts davon beeindruckt ihn oder jemand anderen. Interessant.

Bei Beginn des nächsten Songs lichtet sich die Menge auf der Tanzfläche und mit einem einzigen Klacken landen drei Gläßer auf dem Tisch, leisten General Koma Gesellschaft. Wir erheben uns wie ein Mann und umrunden im Gänsemarsch den Tisch. Viel Platz auf der Tanzfläche. Wir nutzen ihn großzügig aus und verscheuchen schnell die anderen um uns herum. Humorloses Grinsen verzieht mein Gesicht. Dann lasse ich alles hinter mir und das Schwitzen setzt ein.

Unsere Gläßer sind bei der Rückkehr unversehrt. Nicht so das Sofa. Drei Zwiebackstecher von höchsten achtzehn Lenzen beanspruchen unser Territorium. Falsche Zeit, falscher Ort. Henry und ich bremsen uns automatisch und sozusagen vorbereitend schon mal ab, fallen hinter Owen zurück, der sich der Sache nur allzu gern annimmt. Owen eröffnet das Gespräch. Er spricht zu leise, als das ich ihn verstehen könnte, aber sein Tonfall lässt einiges schließen. Die Zwiebackstecher werden zu einer fischäugigen Front. Henry und ich stehen etwas abseits, er kramt gerade nach der unvermeidliche Packung Blams und der Rest des Disputes geht im allgemeinen Lärm unter. Ich werfe noch mal kurz einen Blick rüber, Big-O beugt sich gerade aggressiv vor, die drei verschmelzen scheinbar mit dem Hintergrund, alles im Normbereich. Ein Krebsstäbchen tangiert mein Blickfeld, ich pflücke es aus He-Mans Hand und beuge mich zu ihm heran, um Feuer zu bekommen. Leise vermeine ich einen dumpfes klatschen und einen Schrei zu hören, da eilen die Stecher auch schon an uns vorbei. Einer hält sich die Fresse und tropft. Big-O grinst uns an und schwenkt einladend die Arme. Wir nehme in noch warmen Arschtälern platz, ordnen unsere Gläser einander zu und platzieren die Füße auf dem Tisch. Der jetzt leer ist wie mir auffällt. Vereinsamt wartet das halbleere Bierglaß auf die Rückkehr seines Herren.

Während einer Geräuschpause seitens des Pultonkels ist etwas links von mir ein lautes Schniefen zu hören. Ich blicke rüber, sehe eine vermutliche Dame im Korsett, die sich vornüber gebeugt hat und mir einen unglaubwürdigen Ausschnitt präsentiert. Rote Haare verdecken ihn nur teilweise. Sie schnieft nochmals heftig, hält sich mit der linken Hand etwas unter die Nase. Die andere Hand verschließt das andere Nasenloch. Plötzlich reißt sie den Kopf nach oben und fällt rückwärts in den Sessel hinein. Ihre Augen sind geschlossen, der Mund offen, schnelle feuchte Atemzüge lassen den Busen gegen die Korsage wogen.
Es wogt tüchtig.
Ich reiße meinen halbhypnotisierten Blick davon los und finde das Fläschchen in ihrer Hand. Scheint mir Pepper zu sein. Mein Blick geht herum, keiner nimmt Notiz davon oder scheint sich daran zu stören. Ich schaue genauer hin. Entdecke eine dicke Selbstgedrehte. Einen Kerl mit ungeduldigen Blicken und noch nervöseren Fingern, die dem Hosenbein einen stetigen Takt vorgeben. Unabhängig von der Musik natürlich. Blicke wieder zurück zu ihr. Und da fällt mir etwas auf, was ich in einer Million Jahre nicht erwartet hätte – ein Weinglas in ihrer hand. Halbvoll von dunklem Rotwein.
Ich versuche geistig eine Verbindung zwischen gutem Rotwein und Pepper herzustellen, bekomme aber nur einen Kurzschluß.
Verlotterte alte Welt.

Während ich noch starre und mein Gehirn funken schlägt rauscht jemand durch mein Blickfeld. Automatisch geht der Kopf mit, denn das Weiß bildet einen zu starken Kontrast zur Umgebung. Weiß ist ihr Kleid, zudem eng und lang geschnitten. Ihre Hüfte wiegt beim gehen von links nach recht, sie ist rundlich und einladend. Dann ist sie auch schon verschwunden, noch ehe ich Zeit hatte ihr mit offenem Mund hinterher zu glotzen.
Es war nur ein Augenblick, nur ein winziger Augenblick sage ich mir. Nichts Besonderes.
Nu eine von vielen.
Ich sehe mich um. Ja nur eine von vielen.
Und dann stehe ich auf, stelle mein Glaß ab und folge ihr.
Nur eine von vielen. Nichts Besonderes.

Sie steht an der nächsten Ecke und sieht mich direkt an.
Als ob sie mich erwartet hätte.
Ihr Gesicht ist fein geschnitten, ihre Augen von einem unmöglichen blau. Sie lächelt leicht und ich zucke innerlich zusammen. Schnell schlage ich den Blick nieder, stoße eine Hand in die Hosentasche als suchte ich etwas und gehe durch die erste Tür auf der linken. Rote Fließen kreischen mir entgegen. Nach einem Moment des Entsetzens entdecke ich Pissbecken an der Wand und atme auf. Wenigsten das ist mir erspart geblieben.
Ich drehe mich zu dem einzigen Waschbecken um und betrachte mich im Spiegel.
Kurze dunkle Haare, hageres blasses Gesicht und Augen in einer Mischung von grau und blau.
Kalte Augen.
Ich wende den Blick ab, drehe das Wasser auf und schöpfe es in meine hohlen Hände. Eiskalt berührt es mein Gesicht, schafft Klarheit. Noch einmal schöpfe ich Wasser. Und noch einmal.
Ich stütze die nassen Hände links und rechts am Waschbecken ab, lasse den Kopf hängen, Wasser tropft.
Nur eine von vielen.

Dass sie hinter mir steht bemerke ich erst, als ihre Hand meine linke Schulter berührt. Ich zucke zusammen, doch es ist eigentlich nur eine Art Reflex, denn hatte ich das nicht irgendwie erwartet?
Irgendwie erhofft?
Ihre Hand streicht den Arm herunter, ich lasse den Kopf gesenkt, drehe ihn nur zur Seite und folge ihr. Die Fingernägel sind bis auf den Zeigefinger kurz geschnitten und schwarz lackiert. Einen Moment frage ich mich nach dem Sinn, dann beugt sie sich näher heran und flüstert mir ins Ohr. Ihre Stimme ist dunkel, aber nicht rau, weich und tief. Alles denken verschwindet.

Die Musik dröhnt und meine Augen sind geschlossen, ich habe angst zu träumen, den Traum zu verlieren würde ich sie öffnen. Sie berührt mich, überall gleichzeitig. Eindrücke stürzen auf mich ein. Ihre blauen, dunkel umrahmten Augen, die weißen kleinen Zähne.
Küsse auf meiner Haut, auf meinem Mund, der Brust, dem Bauch und dann noch tiefer, großer Gott noch tiefer und keine Küsse mehr, nein sicher keine küsse mehr.
Augenblicke, da ich vermeine zu sterben.
Wärme, die mich umschließt, süße, heiße Wärme, die mich schmerzhaft erschauern lässt, während mein Körper Dinge tut, die ich nicht steuere. Noch mehr Augen und Zähne, beides funkelnd, die Haut jetzt zartrosa verfärbt, meine Finger, die sie packen und hellrote Abdrücke hinterlassen. Nur für einen Augenblick, alles ist nur für einen Augenblick, genau wie sie nur eine von vielen ist. Nichts Besonderes.
Also gebe ich mich hin und stürze tief. Zu tief, wie mir scheint.
Die Musik dröhnt und meine Augen sind geschlossen, doch dies ist kein Traum.

Dumpf wummern Bässe, dumpf bin auch ich. Sie ist weg, der Augenblick war so flüchtig wie er schien. Mein Kopf ist voller Süße, doch sie wird langsam von der Kälte verdrängt, die vom Boden in mich eindringt.
Gute sichere Kälte.
Ich stehe langsam auf, die Beine sind unsicher. Meine Hose ist offen, alles ist glitschig verschmiert und einen Moment blicke ich hilflos und verwirrt an mir herunter. Dann fällt es mir wieder ein.
Das süße Sterben.
Ich wische mich mit Klopapier ab, knöpfe die Hose zu und schließe den Gürtel darüber. Meine Gang ist unsicher, der Spiegel zeigt einen Fremden mit wirren Haaren und glänzenden Augen.
Fiebrig.
Irgendwie erreiche ich die Tür und als ich sie öffne drängelt sich jemand fluchend an mir vorbei, stößt mich mit der Schulter zur Seite und rückt die Welt wieder gerade.

Henry und Owen haben sich nicht bewegt, ich vermute es hat nur wenige Minuten gedauert. Ich nehme wieder platz und kurz darauf mein Glaß auf. Es ist noch kalt.
„Pissen?“ fragt Henry, ich nicke nur und trinke. Meine Blicke sind unruhig. Nirgendwo kann ich etwas Weißes sehen.
Und die Süße in meinem Kopf scheint langsam mehr und mehr wie Scheiße.

Mein Glaß ist schnell leer, eine willkommene Abwechslung, die mich kurzzeitig davon abhält zwischen zwei Schlucken wieder und wieder den Raum mit Blicken abzusuchen. Nicht das es etwas zu sehen gäbe. Also schwenke ich meine leeres Glaß vor Henry und Owen. Big-O drück mir seins in die Hand, es ist ebenfalls leer. Henry hat noch.
„Bier.“ meint Owen noch unnötigerweise. Er trinkt nie etwa anderes.
Ich stehe auf und gehe zur Bar, manövriere mich an der Irrensanstalt genannt Tanzfläche vorbei, glücklich etwas tun zu können. Die Musik hat kurzfristig das Niveau gesenkt und spricht mich nicht an. Keinen von uns.
Die Bar ist gottseidank nur halbvoll, ich dränge mich zwischen schwitzende Leiber und donnere die Gläser auf den Tresen. Pfandscheiße. Schnell bemerkt man mich und eilt näher. Ich nehme die nasse, aber durch Laminierung unversehrte Karte hoch und tippe nacheinander auf Bier und Wodka-O. Man kapiert und nimmt die Gläser an sich. So long Kameraden. Ich drehe mich halb zur Tanzfläche um und beobachte. Alles düster. Nebenbei bemerke ich, dass das Niveau langsam aber stetig wieder steigt. Gläßer knallen hinter mir auf, ich riskiere einen Blick, die Farbe lässt O-Saft und Bier vermuten, Geld wechselt die Hände, ich nehme die Gläßer auf. Gehe zurück und achte nicht auf die mir folgenden Rufe.
Wechselgeld-Schmeckselgeld. Scheiß was drauf!

Ich schaffe es gerade so Owen sein Glaß in die Hand zu drücken, da lässt eine Rhythmikphrase meinen Adrenalinspiegel steigen und ich lasse mein Glaß zurück, stemme mich aus dem gerade in Anspruch genommne Sessel und entere die Tanzfläche. Es ist voller als vorhin, unverdrossen stoße ich zur Mitte vor und falle automatisch in den Takt ein. Verzerrte Gitarren, aggressive Riffs, schnelle Drums – genau mein Ding, Baby! Ich spacke ab, vergesse alles um mich herum und rase durch die Gegend. Meine Füße hasten leichtfertig über den Boden, ich lasse sie mit der Musik spielen, lasse sie mich bewegen, mal hierhin, mal dorthin. Die Augen sind offen, ich nutze jeden noch so geringen Platz der sich bietet. Kollisionen scheitern stellenweise nur ab Zentimetern. Um mich herum bewegt sich der Mob mit, jeder anders und alle gleich.
Und da penetriert etwas meine Euphorie. Eine Schmerz, eine Brennen auf meinem Rücken. Ich trenne mich vom Mob und verpisse mich zurück zu Big-O und He-Man.

Das Klo hallt von Owens lautem Lachen wieder. Er hängt brüllen über dem einzigen Waschbecken und schnappt mühsam nach Luft. Fände es toll seine Freude teilen zu können, aber der Lacher geht leider auf meine Kosten. Meine Lippen sind fest verschlossen, fester, fester noch als meine Fäuste. Ich habe es aus dem Augenwinkel heraus im Spiegel gesehen. Rote Striemen. Über den ganzen Rücken.
Ihre langen schwarzen Fingernägel. Und ausgerechnet der Rücken.
Trivialität ahoi.
Owen beruhigt sich langsam, ganz langsam und ich tu es ihm gleich.
Verdammt warum ist Henry nicht hier, der hätte nicht so einen Zirkus wie Owen gemacht. Aber der musste ja auf sein verfluchtes Glaß aufpassen. Verdammter Wichser. Owen wird mir das ewig und drei Tage vorhalten. Schöne Scheiße.
„Man Stud, das ist ja der Brüller! Hat sich’s wenigstens geloht?“
Ich mache eine wegwerfende Bewegung. Owen weiß zwar was hier los war, aber er weiß nicht alles.
Aber irgendwie bin ich wohl auch nicht der Typ dem das im Himmelbett nach langen Gesprächen und mit viel leiser Musik und Kerzenschein passiert. Und jetzt ist es eh egal – gelaufen ist gelaufen.
Auf einer Toilette mit einer Unbekannten. Zwei Minuten. Ich schüttele den Kopf. Wie trivial.

He-Man klebt noch in der Couch, ein glückseliges Grinsen im Gesicht und streichelt sein Glaß. Als wir näher kommen hebt er fragend eine Augenbraue.
„Was´n los?“
Ein breites Grinsen sitz Owen mitten im Gesicht. Unter Schnauben bröckelt das ganze stückweise aus ihm heraus. Also er ungefähr weiß was los war ist Henry sofort wach und dafür bin ich ihm dankbar, denn er weiß genau was es mit mir und dieser Sache auf sich hat.
Oder hatte.
Mit einem Blick erreiche ich sein Schweigen, er sinkt ins Sofa zurück.
Später.
Grölend haut mir Owen auf die Schulter und setzt sich neben Henry. Ich zeihe mir den Sessel heran und unsere Füße vereinen sich wieder auf dem Tisch.
Mein Rücken brennt.