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Autor: knochengott

Erstellt am: 15.11.2006

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initiation/adaption



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Die Maschine verursacht ein Gefühl von Wärme in meinem Mund und kitzelt meine Augen. Ich weiß nicht woher das kommt, aber es hilft mir beim denken. Sie hilft mir beim denken. Gedanken werden rasiermesserscharf, glaßklar und können unendlich weit in jede Richtung bewegt werden. Ich denke ich weiß warum ich liege und nicht Henry oder Owen. Man erwartet von mir, daß ich viel denke, weil ich ja kaum spreche.
Ich hoffe sie bemerken ihren Fehler nicht gleich.
Obwohl ich nichts sehen kann, meine Augen werden vor Beginn der Behandlung mit weißem weichem Zeug abgeklebt, erkenne ich Henry klar und deutlich. Es ist eine Art Erkennen, die zwischen sehen und fühlen liegt. Das macht auch die Maschine, aber nicht nur sie allein. Ich denke ich steuere auch einen Teil bei.
Henry strengt sich verdammt an. Sie verlangen das von ihm. Seine Muskeln werden wie Stahl während der Behandlung und seine Gelenke machen das gerade noch so mit. Sie müssen sie verstärken um das auszuhalten, müssen seine Knochen verstärken.
Owen ist zu weit weg, den kann ich nicht sehen. Aber er wäre eh nicht so klar wie Henry zu sehen, denn bei Owen sind sie im Kopf, genau wie bei mir. Aber er lernt nicht denken, er lernt... es ist schwer zu erklären. Sie bringen ihm bei wie ein Stein zu sein.
Hart.
Ja das ist das richtige Wort.
Ich lerne wie gesagt denken. Und ich lerne sprechen. Neue Worte. Lange, mir unbekannte Worte, die Dinge tun. Für mich und mit mir. Es ist schön sie Dinge tun zu lassen. Zu Sprechen. Die Maschine hilft mir dabei. Wenn ich es richtig mache belohnt sich mich. Mein Mund wird dann ganz voll, sie füllt mich bis zum Rand an.
Ein Gefühl wie Hochwasser im Kopf.

He-Man kommt langsam über den Gang zu mir geschlichen. Wir wollen zum Essen. Seine Lippen sind zu einem blutleeren Strich zusammengepresst und er hebt die Füße kaum an, schlurft wie ein alter Mann. Ich kann Hand-, Ellbogen- und Fußgelenke sehen, die violett verfärbt sind. Das kommt von den Spritzen. Unter seinem Shirt ist eine Beule zu sehen. Ich deute darauf als er bei mir ist.
Henry verzieht die Lippen zu der Karikatur eines säuerlichen Lächelns.
„‘n Pissbeutel. Die machen sich nen kopf wegen dem hier.“
Er hebt kurz das Handgelenk, das wie eine einziger blauer Fleck aussieht.
„Also analysieren sie alles, Blut, Schweiß und auch meine geliebte Pisse, um rauszukriegen warum ich so auf die verfluchten Spritzen reagiere!“
Ich will ihm auf die Schulter klopfen, doch er sieht mich nur müde an, als sich die Hand hebe, also lasse ich sie wieder sinken.
„Und du?“ Sein Kopf ruckt einmal nach vorn und sofort ziert eine senkrechte Linie seine Stirn als er die Augen zu Schlitzen zusammenkneift. Aber er gibt keinen Ton von sich.
Ach ja, mein Auge.
Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. Soll heißen „nichts weiter...“
Aber bin ich da sicher?
„Sieht nach ner geplatzten Ader aus.“
Ich nicke und zucke gleichzeitig mit den Schultern. Ich bekomm davon kaum was mit. Drückt nicht und zu sehen ist nur ein leichter rosa Schimmer, wenn ich das rechte Auge zukneife.
„Na mal sehen, ob Owen im Rollstuhl angekarrt wird.“ Meint Henry und versucht ein Lächeln.
Matt und klein, aber immerhin ein Lächeln.

Owen kommt nicht im Rollstuhl. Er kommt überhaupt nicht. Ist zusammengeklappt. Ist schon das dritte Mal. Komisch, denk ich beim Essen, eigentlich nimmt man immer an, daß er der härteste von uns ist. Immerhin ist er so groß, etwas über 180. Und neben ihm sehen Henry und ich immer schmal und etwas krank aus. Ohne weitere Worte ist klar, daß wir die letzte halbe Stunde unserer Pause opfern und zu ihm gehen werden. Der Fraß schmeckt eh widerlich. Proteine, Mineralien, Eisensulfate, was weiß ich denn aus was dieses Zeug zusammengekleckst ist. Ich lasse den halben Teller stehen, aber Henry ißt alles auf. Man könnte meinen er wäre noch im Wachstum.

Ein Rollstuhl wäre besser gewesen als das. Big O ist leichenblass. Um sein Bett herum stehen piepsende Geräte und sein Gesicht ist von einer Maske und Schläuchen halb bedeckt.
Henry rückt näher heran, beugt sich über das Bett.
„He Big O ich bin’s. Und Stuart ist auch da.”
Ich klopfe mit dem Knöchel gegen das Bettgestell. Sie haben es seitlich hochgeklappt, wahrscheinlich damit er nicht rausfällt. Owen versucht den Kopf zu heben, kriegt ihn aber nur zu uns herumgedreht. Er sieht schrecklich aus. Sie haben seine Augen zugeklebt. Das kommt mir irgendwie falsch vor.
Entwürdigend.
„War’s schlimm dieses Mal?“ fragt Henry und muß sich einen Stoß von mir gefallen lassen. Blöde Frage!
Owen nickt langsam auf und ab und sagt dann ganz leise „Scheiße“.
Wir bleiben noch die restlichen Minuten, stehen nur neben seinem Bett. Dann ist die Pause vorbei und wir müssen gehen.

Das Zimmer in dem ich schlafe ist fensterlos und ohne persönliche Note. In dem schmalen Schrank hängen nur die Trainingsklamotten. Ich habe mir die Bettdecke bis ans Kinn hochgezogen und starre an die Decke. Obwohl ich todmüde bin kann ich nicht schlafen. Von irgendwo höre ich ein leises Summen. Es könnte ein Insekt sein, ist es aber nicht. Zu gleichmäßig und lang anhaltend. Vielleicht irgendeine Art von Überwachung. Ich drehe mich nach links, Rücken zu Wand und sehe zur Tür. Ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür. Dahinter bewegt sich nichts. Ich möchte aufstehen und die Gänge entlangwandern, immer weiter und weiter, einfach zielloses Laufen. Ohne Zeitplan, Fortschrittstabellen und Korrekturmessungen. Aber die Tür bleibt bis morgens 6:30 Uhr geschlossen. Ich starre sie lange an, bin in meinem Geist jenseits von ihr und laufe. Schritt für Schritt. Irgendwann schlafe ich ein.

Beim zerebralen Training erwartet uns eine Überraschung – Owen ist wieder da. Müde lächelnd sitzt er in einem Rollstuhl an seinem Platz und läßt sich gerade von einem Assistenten die Kontakte ankleben. Mir fällt auf, dass es hier nur Assistenten, keine Assistentinnen gibt.
„Owen!“
Das ist Henry, der seine Müdigkeit abwirft und auf Owen zustürzt. Er wirft sich ihm schier um den Hals, umarmt ihn ohne auf die Kabel, Kontakte oder den missbilligenden Blick des Assistenten zu achten und das ist in Ordnung so, es gibt der Szene eine einfache Realität. Glassklar und ohne Schnörkel. Kannst die die Liebe spüren Baby?!
„Ist ja gut, He-Man.“ Murmelt Owen, löst sich langsam von Henry und tätschelt ihm liebevoll den Kopf. Dabei verliert er noch die Kabel am Handgelenk, wird aber als Ausgleich mit weiteten mürrischen Blicken des Assistenten reichlich beschenkt. Geben und nehmen. Der Assistent würde sicherlich gern etwas sagen, seine Meinung pocht hart unter der Gesichtshaut, dringt fast durch die Poren nach draußen, aber er traut sich nicht. Nicht mehr.
„Drück mich nicht so fest!“ stöhnt Owen und verdreht die Augen. „Was du kaputt machst, musst du auch bezahlen.“ Owen grinst Henry an, der wiederum strahlt wie eine Supernova und auch ich ertappe mich dabei, dass ich grinse.
Nur der Assistent steht mit verschränkten Armen und finsterer Miene dabei.
Ich wünschte er würde sich verpissen.

Jedes Mal wenn ich angestöpselt werde habe ich das Gefühl einen Kopfsprung in eiskaltes Wasser zu machen. Zuerst prallt man mit dem Kopf voran auf das Wasser auf und für einen Moment widersteht das Wasser und drückt zurück. Dann ist man durch, bricht durch die Oberfläche, schießt ins Wasser, wird davon aufgenommen. Und dann wiederum bemerkt man, dass man hier nichts zu suchen hat, dass man fremd ist und paddelt wieder nach oben um wieder hinaus an die Luft zu kommen.
Das erste Mal tauchst du nur ganz kurz ein und ertrinkst trotzdem fast. Es ist so unglaublich viel was sie in dich hineinstopfen wollen. Doch langsam halte ich es länger und länger aus. Irgendwann werde ich wohl endlich unter Wasser bleiben können.
Ohne Luft.

Der Einstieg ist auch dieses Mal wieder wie erwartet: hart und knapp. Scheinbar grenzenlose Masse um mich, drängt von allen Seiten gegen meinem Kopf. Direkt vor mir kann ich das hektisch flackernde Band aus gefilterten Informationen sehen, dass mir zufliest.
Doch dann passiert etwas Neues. Unter dem Druck an meinem Schädel kann ich etwas spüren, eine Sache die wichtig ist. Sie presst sich wie ein Stempel auf Papier gegen mein Denken. Ich drehe mich um, drehe meinen Geist herum und gerade als ich es packe, kann ich aus dem Augenwinkel sehen wie der Strom Informationen abreißt. Eine Sirene beginnt zu kreischen. Und einen Moment presst sich die Sache noch fester gegen mich und unter einem stechenden Schmerz kann ich sie in mich einsinken spüren. Für einen Augenblick lässt der gleichmäßige Druck nach, als würde sich eine Welle vom Strand zurückziehen, dann prallt er wieder gegen mich und beginnt meinen Geist zu zermahlen. Langsam wird der Druck größer und verschiebt mich hin und her. Tausende Informationen pressen sich an mich und wollen eindringen. Weitere Sirenen fallen in die erste ein. Eine Crescendo der Schmerzen. Es tut weh, sogar verdammt weh. Und während ich zerrieben werde sehe ich mich nach der Infokette, der Brücke, dem Halt für mich um. Und kann ihn nicht finden. Es scheint heller und heller zu werden. Ein mit unbekanntes und doch vertrautes weißgoldenen Licht.
Und es singt.
Schrecklich und schön zugleich, wie der Traum eines Irren. Und als es mich mitnimmt möchte ich schreien, doch ich habe hier drinnen keinen Mund.
Ich ertrinke.

Henrys Augen sind so weit aufgerissen, als er zu mir herunterschaut, das ich Angst habe sie könnten herausfallen und mir gegen die Stirn klatschen. Ich gebe ein röchelnde Husten voller Kupfergeschmack von mir und plötzlich hat Henry kleine rote Punkte überall im Gesicht. Soviel zum Thema lachen.
„Stuart?“
Diese Scheiße zweimal in zwei Tagen hintereinander, erst Owen und jetzt offensichtlich ich ist mehr als er ertragen kann. Seine Augen schimmern zu sehr und er klimpert wie verrückt mit den Augenlidern. Das alles nimmt ihn ziemlich mit. Ich sehe Owen der sich hinter Henry ins Bild beugt. Und noch mehr rosa in meinem Blickfeld, jetzt schon ehe blutrot. Ich muß wieder husten und ein klumpen Kupfer landet in meinem Mund. Auch meine Nase ist voll und ich kann noch mehr Feuchtigkeit in meinem Nacken spüren. Wie viel ist da rausgelaufen?
Ich ziehe die Nase hoch, räuspere den Klumpen zu dem anderen in meinen Mund und drehe den Kopf zu Seite. Mit einem schmatzenden Kuss berührt mein Ohr den Boden. Ich spucke aus, eigentlich huste ich den Klumpen eher heraus, der zum größten Teil einfach an meiner Wange zu Boden rutscht.
Neben mir bemerkte ich den Assistenten, der gerade versucht den Rekord im schwitzen zu brechen. Und wohl mich zu stabilisieren, auf jeden Fall haute er mir Spritze auf Spritze rein und bringt in mir alles durcheinander. Erst ein Blocker der mein jagendes Herz beruhigt. Dann noch einen Nervenbrecher, durch den ich praktisch in meinen Körper hineinschrumpfe und alles nur noch schwach wie Echos durchdringt. Es ist als ob man am Boden eines lange Schachtes liegt und nur ein kleiner heller Ausschnitt weit über einem etwas von der Außenwelt erzählt. Der Zustand ist gut, ich schließe meine Augen, außen wie auch innen und lasse mein Training arbeiten. Langsam, unter konzentriertem Wiederholen des Initiationsmantras sinke ich herunter auf die vierte Ebene. Für einen Schlag setzt mein Herz aus, dann schlägt es weiter im veränderten Rhythmus. Meine Augen öffnen sich, diesmal nur innen. Hier ist es schwarz, schwarz mit feinen Spuren glutrot dazwischen. Ich sehe an mir herunter. Ein paar geplatzte Adern, hauptsächlich im Schädel. Keine im Gehirn und das ist gut. Die Wunden schließen sich bereits. Es ist für mich immer noch überraschend wie effektiv mein Körper das tut. Geist über Materie. Ich schließe wieder die Augen und steige langsam auf in die erste Ebene. Owen und Henry sehen mich noch immer an, als ich sie wieder öffne, beide wirken ruhiger, nur der Assistent fährt hektisch mit einem Handscanner an mir auf und ab. Er hat von alledem nichts mitbekommen, wie könnte er auch. Für ihn wird die Welt immer nur aus einer Ebene bestehen, der so genannten Realität. Nun ja wir wissen es jetzt besser oder? Er bemerkt, dass meine Augen offen sind und stürzt förmlich auf mich los. Sein Schweißgeruch überrollt mich, aber nur sanft, ich habe immer noch genug mentalen Abstand zu ihm.
„Alles okay?“ schreit er und hält plötzlich eine Spritze in der Hand. Er holt aus und rammt sie irgendwo in mich rein.
Schlagartig ist jeder Abstand, physisch als auch psychisch, weg, ich bin da, hier, real, auf Ebene null und beißend salziger Schweißgeruch sticht mir in die Nase, feuchte Finger grabschen über meine Stirn, ein Augenlid wird hochgerissen und Licht blendet mich.
„Er ist stabil!“ ruft er, Triumph schwingt in seiner Stimme mit. Kann mal bitte jemand applaudieren? Das Licht verschwindet und er beugt sich näher an mein Gesicht heran, ein Schweißtropfen hängt an seiner Nasenspitze.
„Alles okay, das wird schon wieder!“ sagt er mit breitem, falschem Lächeln und ich rieche neue salzige Wellen. Der Tropfen löst sich von seiner Nase und landet auf meiner Wange.
Gott, warum konnte er sich nicht verpissen?

Der Raum kommt mir bekannt vor, ich komm nur nicht drauf warum. Weiße Wände, weiße Bettdecke, weißer Boden wie in einem verdammten Kranken…
Ach ja, da war ja noch was.
Erklärt auch das Zischen, Piepen, Gurgeln um mich und die Schläuche. Aber – Überraschung – klares Blickfeld, null rosa in sicht. Die vierte Ebene bringt’s eben.
Ich habe überlebt. Überlebt?
Irritiert grüble ich über den Gedanken nach, der so plötzlich in meinem Kopf ist. Überlebt? Aber war das nicht nur wieder einer dieser Maschine über Körper geteilt durch Scheißpech gleich Bettchen plus Schläuchen-Faktoren? Oder nicht? Irgendwie denke ich das die antwort einen schlechten Nachgeschmack mit sich schleppen würde?

Owen und Henry waren gerade da, Owen mit so einer Art Gehhilfe, die er mürrisch Schritt für Schritt vor sich herschob. Der hat vielleicht eine Fresse gezogen! Henry kam hinterher und äffte ihn nach, was mich zu einem hustenden Lachen reizte.
Wir unterhielten uns kurz, also Henry redete wie ein Wasserfall und ich hörte zu. Owen trottete derweilen durch mein Zimmer und tatschte alles an. Er war nervös, ich weiß nur nicht warum.
Henry erzählte das sie endlich was neutrales für ihn gefunden hatten. Selber Effekt, weniger Nebenwirkungen. Ein hurra auf die moderne Genwissenschaft. Zum Beweiß zeigte er mir gleich seine Handgelenke. Sahen immer noch violett aus aber er meinte sie täten ihm nicht mehr so weh. Ich nickte und sah wieder nach Owen, der gerade neben meinem Bett stand und an den Schläuchen rumfingerte. Nichts ernstes, er strich nur irgendwie gedankenverloren darüber. Ich brummte fragend, doch er bekam es gar nicht mit, stierte nur weiter vor sich hin und streichelte die Schläuche. Erst als ich Henry auf mich aufmerksam gemacht hatte und er seinen Namen rief wachte er sozusagen auf, schaute uns beide an und schenkte uns ein komisches Lächeln.
Eines wie das hab ich noch nie gesehen.
Kurz darauf mussten sie auch schon gehen und ich versuche derweilen zu schlafen.

Ashok, der uns ATP beibringt passt so überhaupt nicht hier rein. Vielleicht können wir deswegen so gut mit ihm. Er trägt keinen Kittel, hat nie ein Memoboard oder Klemmbrett dabei und arbeitet mit uns ohne Maschinen. Die lenken uns nur ab meint er. Er trägt immer eine art dunklen Anzug, sehr lässig und weit geschnitten und schleppt eine Tasche voller zerfledderter Bücher mit sich herum. Aus den Büchern ließt er meistens vor, manchmal in verschiedenen Sprachen. Nur eins ließt er für sich im Stillen, wenn Henry, Owen und ich unsere Übungen machen. Irgend einen der neuen Harry Potters. Und lacht sich dabei kaputt, ich versteh ums verrecken nicht warum.
Heute ist einen neue KMB-Übung dran. Und hier spielt alles zusammen, denn nur auserhalb der nullten Ebene ist das überhaupt machbar. Also sinken wir auf die zweite Ebene herab und werden von Ashok schon erwartet. Er erklärt uns mit wenigen Worten was er von uns erwartet und verschwindet wieder nach oben. Er lässt einen Seher als Überwachung bei uns und während wir Konzentration aufbauen hallt schon sein Lachen herab.

Wir teilen uns die Aufgaben ein, jeder dient als Sicherung für den anderen. Ich konzentriere mich auf die Beschwörung, Owen bereitet die Abschirmung vor und Henry verfällt in den Bannspruch. Nach endlosen zeitlosen Gesten, Worten bin ich soweit, ist auch die Sicherung und der Bann sicher, wir schweben zwischen dem hier und dem nichts, Körper und Geist nur noch durch einen dünnen Strang zusammengehalten. Ich beende die Beschwörung. Ein Dämon der Ebene 2 ist ein fast freier Dämon, nahe genug an der Realität um sich ihrer bewusst zu sein, und real genug um seine Form selber wählen zu können. Höhere Dämonen sind schwerer zu beschwören, man muß sie an etwas binden, ihnen einen Körper geben. Dieser hier erscheint als Wolke feiner Eiskristalle und versucht sofort aus Owens Abschirmung auszubrechen. Wir sind noch nicht weit genug, um den Dämon nur durch rufen an uns zu binden und das kann er spüren. Er schlägt wild um sich, versucht den Bannkreis zu durchbrechen. Dann wäre er frei und alle Dämonen streben nach Freiheit. Ihre Dimension oder Vorhölle oder was auch immer ist ein ereignisloses Schwarz. Würde er entkommen könnte er von hier aus mühelos in die Realität eindringen und dort mächtig viel Spaß haben. Und nur das wollen Dämonen. Sinnlosen, hirnlosen, geifernden Spaß. Sie sind wie diese kleinen Köter, die ohne Sinn und Verstand alles und jeden ankläffen. Man muß sie kurz halten und notfalls etwas würgen.
Aus Henrys Bannflüstern wir ein halblauter Singsang, ein einschläferndes Gemurmel während die Zeigefinger seiner fest verschränkten Hände aneinander reiben. Der Bannkreis leuchtet ein klein wenig auf, silberweiß, und als der Dämon das nächste mal dagegen hämmert lernt er etwas neues kennen – schmerz. Er zuckt zurück und hätte er ein Gesicht würde es sich jetzt verzeihen. Kristallkaltes Geschrei ertönt, während Henry wieder ins unhörbare übergeht. Später soll das alles einer von uns allein in Gedanken tun können, doch noch müssen wir es zu dritt tun und die Worte sprechen. Es sind einfache Worte, eher Laute, die sogar mir flüssig über die Lippen kommen. Nicht nur dank der Maschine. Wir alle drei haben die passende Begabung dafür.
Der Dämon zetert noch eine Weile, doch er weiß das er nicht entkommen kann und erkennt uns schließlich widerwillig an. Man kann seine Missfallen deutlich spüren und ich kann es ihm nicht verübeln. Er ist älter als die Zeit und muß sich jetzt uns dreien, die wir vor ein paar Jahren noch Kinder waren, beugen. Doch es gibt für ihn keinen anderen Weg., also tut er es und Henry schliesst die Bannung ab. Der Dämon verschwindet mit einer Explosion aus Eissplittern, verstimmt weil wir ihn für sein kommen weder gedankt noch entlohnt haben. Das mussten wir auch nicht, wollten wir doch keinen Dienst von ihm. Er hat auf unseren Befehl hin zu kommen und zu verschwinden. Nur bei den oberen Dämonen sollte man nur einen Dienst einfordern, wenn man auch eine passable Entlohnung in Aussicht stellen kann. Denn sie können von ihrer Ebene aus die Realität beeinflussen. Da sollte man nicht befehlen sondern bitten.
Denn die sind nachtragend und ewig. Böse Kombination.

Als wir wieder auf Ebenen null, der so genannten Realität angekommen sind liegt der Harry Potter aufgeschlagen auf dem Boden und Ashok hat den Kopf in der Armbeuge auf dem Tisch liegen. Sein Körper bebt, seine linke Faust schlägt dumpf auf den Tische ein, während er versucht einen Lachkrampf unter Kontrolle zu bekommen. Owen zieht ein Packung Blams hervor und sie geht herum, jeder nimmt sich eine. Bei Ashok dürfen wir rauchen, er macht als einziger eine Ausnahme. Rauch steigt auf, wir warten. Endlich hebt er den kopf, wischt sich die feuchten Augen, seine weiße Zähne blitzen im dunklen Gesicht.
„Die simpel koordinierte Strukturierung in dieser Kollektion pseudo-unterhaltender Wortkombinationen erleichtert einfach ungemein mein synaptisches System, lässt den Kortex sozusagen in paralytischer Euphorie eingehen.“
Wir glotzen blöde, weil keiner kapiert was Ashok gerade von sich gegeben hat. Er redet immer so, eine Tatsache die unsere Kommunikation stark erschwert.
„Häh?“ gibt Henry zum besten.
Ashok nimmt seine Brille ab, wischt sich übers Gesicht und setzt sie wieder auf.
„Psionisch telegen koordinierte Elementmanifestation…“ murmelt er dabei und bricht wieder lachend zusammen. Das wird wohl nix.
„Geschenkt.“ Henry winkt ab. Wir kapieren eh nicht was ihn an dieser Kinderkacke so amüsiert.
Unsere Kippen sind aufgeraucht, er hat sich wieder gefangen und der Harry Potter liegt geschlossen auf dem Tisch. Ashok zitiert seine Seher herbei, sie unterhalten sich in seltsamen Geräuschen, wir strecken lässig die Glieder, obwohl wir aufgeregt sind wie Kinder. Die Tabellen, Verlaufskurven und das ganze Zeug ist uns egal, aber ein Lob von Ashok wiegt schwer. Er ist eben der einzige der uns wie Menschen behandelt.
Die für uns unverständliche Unterhaltung wird beendet und Ashok dreht sich zu uns um. Er grinst breit, wir entspannen uns.
„Mein Tach-Me informierte mich über Durchführung und Ausgang eurer Kooperation. Die Integration meiner vermittelten Sachverhalte scheint Früchte zu tragen, sozusagen aufzublühen, man mag dass Wortspiel entschuldigen, da eure Interaktionen stetig an Tiefe und Präzision gewinnen. Ein zufrieden stellender Eingriff in das astraltemporäre Zeitgefüge.“
Wir nicken, denn nachdem er sein Doktor-Superschlau-Level etwas gesenkt hat können wir ihn fast verstehen. Denken wir jedenfalls. Auf jeden Fall klingt es positiv.
Ashok lehnt sich in seinem Stuhl zurück, seine Füße landen auf dem Tisch. Er blickt zu Owen.
„Drum nimm deine verfluchten Krebsstäbchen und verteile sie unter den Armen und Mittellosen.“
Ein Augenzwinkern, dem wir nichts abgewinnen können. Am wenigsten Owen. Schweigen dehnt sich, während er einen nach dem anderen fixiert und schließlich wieder bei Owen landet.
„Und wer wäre ärmer dran und mit weniger Mittel geschlagen als ein Mann dem nicht geblieben ist und der nichts zu geben hat als Wissen.“
Es knackt hörbar als Owen kapiert worauf Ashok hinaus will. Die Blams reichen gerade noch für alle, wir haben alle die Füße auf den Tischen und die Köpfe in einer Rauchwolke und Ashok beginnt Geschichten zu erzählen.
Er muß tausende kennen.

Es folgen weitere Tage, die wir mit regressiver Impulspeilung, atonalem Gesang, zerebraler Stimulation und anderem Scheiß verbringen. Sie schleppen sich dahin, diese Tage, werden zur Routine, nur unterbrochen von Ashoks Menschlichkeit, die uns mit Geschichten berührt und der maschinellen Menschlichkeit, die sich durch Fehler, Zusammenbrüche und neue Nebeneffekte zeigt.
Neue Tabletten, manche rund, manche eckig, einige weiß, einige rosa.
Spritzen, die grün leuchten.
Eines nachts wache ich auf, weil ein lautes murmeln meinen Kopf füllt. Unter der Haut leuchten meine Adern in spritzengrün. Am nächsten Morgen ist es vorbei und ich bin mir nicht sicher, ob es nicht nur ein Traum war. Unsere Augenringe werden dunkler, die Gespräche kürzer, die Worte härter.
Wir werden künstlich an die Grenzen getrieben und es ist ein Wunder, dass wie nicht brechen.

Der letzte Tag ist auch der längste.
Zwischenbilanz. Reflexadaptionsgeschwindigkeit. Mantragleichnis. Konzentrationsvermögen. Neuralstabilität – Worte, Worte, nichts als Worte. Wir sind müde und zerschlagen, Owen trägt den linken Arm in Gips, hat ihn sich im Paragaten gebrochen. Er war ja auch wieder an der Reihe. Henry hinkt leicht und seine Knie sind geschwollen. Diesmal nur die Knie. Wieder eine Gegenreaktion, die sie aber bis zum nächsten Mal sicherlich im Griff haben. Sagen sie.
Ich habe rasende Kopfschmerzen, wieder rote Sicht, diesmal sogar stereo und der Rest ist monochrom. Ein neuer Schaltfehler in meiner Zentrale. Die Umstrukturierung ist im vollen Gange.
Wir geben ein trauriges Bild ab und es ist klar – wir sind fertig. In jedem Sinne.
Doch wir sind wieder Zivilisten, keiner Versuchsobjekte mehr und es wurde verdammt noch mal auch langsam Zeit dafür!
Zischend öffnet sich die Glastür und warme Herbstluft strömt uns entgegen. Wir schleppen uns hinaus. Es fühlt sich an als hätten sie das letzte aus uns herausgeholt, wir stürzen uns gegenseitig.
Und trotzdem werden wir wiederkommen wenn sie anrufen.
Weil wir zu dumpf sind zum leben.
Und zu gierig zum sterben.