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Autor: MaschineBaby

Erstellt am: 09.09.2006

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Selbstaufgabe



Geschrieben von:   MaschineBaby




Der Autor hat folgende Stimmungen f�r sein Werk angegeben:
melancholisch
verliebt



Die meisten Entscheidungen im Leben sind schwer, besonders wenn sie endgültig sind.
Das jedenfalls ist meine Meinung. Und sie wußte es auch. Ihre schreckgeweiteten Augen verrieten es mir, das Flattern der Nasenflügel, der verzerrte Mund. Eigentlich ist es ein schöner Mund, voll und breit, mit einer sinnlichen Linienführung und einem rosafarbenen Kontrast unter der Haut. Doch jetzt zogen sich die Mundwinkel nach unten, die Oberlippe hob sich leicht und zitterte, fast so wie bei einem Hund, der zu Knurren beginnt. Oder zu Winseln. Sie tat zweiteres, ein gepreßter, qualvoller Laut hing hinter ihren Zähnen, sickerte nur langsam durch und es verstrich eine halbe Ewigkeit, in der das Wimmern allmählich anstieg. Ein Schluchzen schüttelte sie und für einen winzigen Moment weiteten sich ihre Augen noch ein wenig mehr, als würde sie vor Panik nicht wieder zur normalen Atmung zurückfinden und hier vor mir ersticken. Die Pupillen zitterten leicht, Licht brach sich in einem hellen Blau wie Bergwasser, schimmerte auf reinem Weiß. „Bitte“ brachte sie hervor und ich hatte die ewig gleichen Dialoge satt, immer wieder dieses ‚Was wollen Sie?‘; ‚Tun Sie mir nichts‘; ‚Nehmen Sie sich, was Sie wollen‘; ‚Ich habe Frau und Kinder‘; , Ich gebe Ihnen Geld‘ all das rührte nach acht Jahren in diesem Job keine einzige Zelle in mir, außer der kalten Wut, daß alle Menschen so gleich waren, so berechenbar. Es war auch das Letzte, was sie sagte. Aber der Moment bis dahin war die Hölle. Denn so ist doch die Hölle, oder? Ein einziger Augenblick dauert eine Ewigkeit in ihr. Und er dauerte ewig.
Bei meiner nächsten Zielperson sollte ich mit einem Klemmblock auftauchen, sie oder er würde ihn einfach, schnell und präzise ausfüllen und beim Unterschreiben unten rechts würde ich sie erledigen, oben rechts. Ich wette, bei vier von fünf Menschen würde das klappen. Aber es muß nun mal nach der alten Schule gehen, mit dem Flehen und Betteln, dem Anbieten und dem verrotzten Geheule. Manchmal könnte man die Uhr danach stellen, wie sich die einzelnen Zustände nacheinander abwechseln, wie vorgeschriebene Programme.
Trotz all der Bio-Electronics in meinem Kopf und meiner Hand frage ich mich viel zu oft, ob sie nicht in Wirklichkeit die Maschinen sind. Vielleicht definiert in diesem Jahrtausend nicht Blut und Knochen Intelligenz, sondern grüne Dioden und Software-Upgrades. Besser künstliche Intelligenz als gar keine.
In meinem zweiten Jahr in der Enklave, also sozusagen in meinen Ausbildungsjahren, fragte mich 827, ob ich schon mal mit einer Frau beauftragt worden bin. Mit einer Frau sei das anders, erklärte er, man könne das nicht so schnell und sauber machen wie bei einem Mann. Jeder zehnte Bote sei anfällig für die Mentalität von Frauen und Kindern, er zögert, zweifelt und wartet bis zum letztmöglichen Augenblick. Wenn man ihn nach dem Botengang befragt, reden die meisten von „hinter sich gebracht“, eine „riesenschweinerei“ und dergleichen mehr. Jede Spur von Professionalität fehlt, die Berichte sind schlampig und ungenau, als könnte oder wollte man sich nicht wirklich an den Auftrag erinnern.
Als wäre es etwas Persönliches gewesen.
Etwas Familiäres.
Damals hatte ich darüber gelacht.

Aber heute ist es etwas Persönliches, kein Botengang, kein bezahlter Auftrag. Sie ist meine Frau und die Exekution ist meine Privatangelegenheit. Um sie nicht zu verletzen. Das macht keinen Sinn, denken Sie. Wir werden ja sehen.
Sie liebt mich, müssen Sie wissen. Julia liebt mich für jede gute und auch schlechte Seite an mir. Lange Zeit hat es gedauert, bis wir zusammen gekommen sind. Julia ist jung, war es damals noch mehr, als wir uns kennen lernten. Ich wußte vom ersten Augenblick an, daß sie etwas besonderes war. Etwas für mich. Aber schließlich dauerte es über drei Jahre, bis ich zu ihr fand. Ich dachte anfangs nicht, daß es klappen würde. Nicht ihre Jugend schreckte mich ab, eher mein Alter. Was wollte sie denn schon mit mir? Aber wir waren sehr lange Freunde und sie war verliebt in mich. Wie lange schon, hat sie mir nie verraten. Manchmal ahne ich es, wenn ich in ihre Augen schaue und sie mir diesen Blick zuwirft, als wäre die Welt ein Irrenhaus und ich der einzige, der vor den Gittern steht. Der bei klarem Verstand ist. Das sind die Augenblicke, in denen ich erahne, wie sehr und wie lange sie mich schon liebt.
Eigentlich ist unsere Liebe perfekt. Julia ist nicht der typische Fall von Frau, macht nie was sie soll und reagiert nie so, wie man es von Frauen erwartet. Sagte ich schon ‚eigentlich perfekt‘? Denn leider war ich für einen kurzen Augenblick typisch männlich und habe damit alles zerstört. Aber sie wird es nie erfahren.
Sie darf es nicht erfahren.
Die Waffe wiegt schwer in meiner Hand, schwerer als sonst. Das Mündungsfeuer wird höllisch sein aus dieser Entfernung. Schnell sollte ich es machen, sollte ihr keine Chance lassen, zu begreifen, zu erkennen, was dahinter steckt, welches Ziel ich verfolge. Aber sie ist meine Frau, mein Mädchen und in mir kreischt etwas viel zu hoch. Der Ton wird schrill, hallt in meinem Schädel wieder und ich begreife, daß mein Herz es ist, was da in mir schreit. Wie ein kalter Finger bohrt sich Resignation in mein Herz, als ich erkenne, daß ich jetzt abdrücken sollte, um sie nicht länger zu quälen. Ich habe die Grenze überschritten und es gibt keinen Rückzug mehr. Diesen Moment des Endgültigen kenne ich nur zu gut, viele Männer haben ihn mit mir erlebt, sind an ihm stehen geblieben, während ich weiter geschritten bin. Aber hier ist alles anders, alles falsch und ich beginne zu Zögern, zweifle an meiner Entscheidung. Die Pistole beginnt zu Zittern und ich sehe etwas Aufblitzen in ihrem Blick, ein wenig Hoffnung, aber ich wische den Gedanken zur Seite und rede mir ein, es wäre Schadenfreude. Und vielleicht Verstehen. Angst packt mich, daß ihre Intuition ihr zuviel von meinen Gründen aufdeckt, ihre Reinheit benetzt und das gibt den Ausschlag.
„Bitte.“
Ihre schmale Brust wird nach innen gedrückt und implodiert, ich sehe Rot in alle Richtungen fliegen und schließe die Augen. Nässe breitet sich auf meinem Gesicht aus, ich hoffe es ist nur ihr Blut. Doch mein Herz weiß es besser. Im Raum riecht es fürchterlich nach Schießpulver und Fleisch. Seit diesem Tag kenne ich den Geruch von wahrer Liebe, wenn sie stirbt. Langsam blicke ich auf und sehe sie an. Das Leben rinnt aus ihr, schnell, furchtbar schnell, aber für mich dauert es doch eine Ewigkeit. Die eigene, persönliche Hölle. Mein Blick fällt in ihre sterbenden Augen und unter all der Verständnislosigkeit sehe ich eine aufkeimende Liebe, die rasch erblüht und mich gefangen nimmt. Wir tauschen einen letzten liebevollen Blick und ich bette meine Hand in ihre. Dann ist es vorbei, der Kopf sinkt langsam und träge zu Boden, eine endgültige Geste. Aber sie ist glücklich gestorben, abgesehen von der letzten halben Minute. Sie hat es nicht erfahren und wird es auch nicht mehr.
Ich habe mich gerettet. Habe sie gerettet.
Aber eigentlich habe ich uns gerettet.
Was sie nicht erfahren durfte? Welchen typisch männlichen Fehler ich getan habe? Ich habe sie betrogen. Habe mit einer anderen geschlafen.
Warum?
Dafür gibt es viele Gründe, jeder einzelne klingt läppisch und wie eine billige Ausrede, aber alle zusammen ergaben sie den Finger, welcher den Schalter bei mir drückte. Wenn Sie ein Mann sind, wissen Sie wovon ich rede und wenn Sie eine Frau sind, suchen Sie sich einen Mann und fragen Sie ihn. Sie werden viele Antworten entdecken. Und glauben Sie mir, ‚Trieb‘ ist dabei eher auf den unteren Rängen zu finden.
Natürlich hätte ich es ihr auch gestehen könne, wie ein ‚echter Mann. Aber sind wir ehrlich, daß ist doch nur schlechtes Psychiatergeschwätz. Solche Lösungen funktionieren vielleicht auf einem Freudschen Klemmblock, während man Pfeife raucht und sein Gegenüber auf der Couch betrachtet.
Aber im wirklichen Leben wird das nichts.
Auch wenn meine Frau mir verziehen hätte, auch wenn sie meinen Beteuerungen geglaubt hätte, mir eine zweite Chance gegeben hätte.
Die Magie wäre verflogen.
Die Magie der großen, perfekten, langersehnten Liebe. Die Magie einer Art von Liebe, die Julia mir geschenkt hat. Es wäre wie ein Bild von Monet neben einer Tätowiervorlage. Beides ist Kunst, aber nur der Monet berührt über das Herz hinaus auch die Seele. Und ich wollte meine Seele behalten und auch Julias.
Deswegen durfte sie es nicht erfahren. Denn ihre Seele stirbt niemals. Nicht so wie ihr Körper. Sie kann nur verderben. Aber das darf sie nicht. Sie ist das einzig Schöne, daß ich je gesehen habe.
Und wenn Sie schon denken, es wäre egoistisch, jemand für seine reine Weste zu töten, dann sehen Sie mich jetzt ruhig als den größten Egomanen an. Nur weil ich einmal etwas Wunderbares erfahren habe, gehe ich über Leichen, um es zu bewahren. Aber so ist es nun mal mit der wahren Liebe. Wahre Liebe geht immer Hand in Hand mit Selbstliebe. Und Selbstaufgabe. Denn 827 hatte Recht. Es ist anders als bei Männern. Als sie gestorben ist, verdarb es nicht nur meine Seele, es vergiftete sie. Denn Julia existiert irgendwie irgendwo weiter, so schön wie nur ich sie sehen durfte. Ich aber lebe hier weiter, in einer Hölle voller Ewigkeit ohne sie, in der jeder Augenblick sich um Jahrtausende dehnt und die Zeit leise hinter meinem Rücken lacht.

Aber jetzt im Nachhinein betrachtet, hätte ich es ihr gesagt? Wäre ich glücklicher gewesen, wenn sie es gewußt hätte? Hätte ich ihr erklären können, wie dumm und bedeutungslos es war und wie schlecht es mir seitdem geht? Jetzt wo ich weiß, daß auch ich schwach bin, schwach und gewöhnlich. Wäre es mir lieber, Julia würde noch leben und wir würden eine halbherzige Beziehung führen, immer unsere vergebene, große Liebe vor Augen, immer zu wissen, daß es einmal besser war, daß wir einmal besser waren? Den hohlen Haß in ihren Augen jeden Tag ertragen zu müssen, weil sie nicht mehr an mich glauben kann, weil ich ihr das Wertvollste, unsere Unschuld, gestohlen habe?
Nein, daß könnte ich nicht. Egal wie oft ich mich entscheiden könnte, ich würde mich trotzdem wieder gleich entscheiden. Denn eine hohle Liebe wäre für uns beide die Hölle auf Erden, mit dem gewöhnlichen Mißtrauen, der Eifersucht, den Streitereien, dem Alltag der gewöhnlichen Menschen. Julia hatte Perfektion verdient und ich hätte sie ihr gerne bis zum Ende gegeben. Würde sie ihr bis zum Ende geben. Aber so war sie wenigstens glücklich in ihrer Zeit und glaubte an uns und unsere Liebe. Für einige Zeit hatte wenigstens sie den Himmel auf Erden. Dafür bleibe ich gerne in der Hölle für den Rest meines Lebens.
So sehr liebe ich sie.
Die meisten Entscheidungen im Leben sind schwer, besonders wenn sie endgültig sind. Die meisten kann ich nicht wieder rückgängig machen. Aber ich kann dafür büßen.
Man büßt so lange wie man liebt. Ewig.