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Autor: MaschineBaby

Erstellt am: 04.09.2006

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Ain't it dead yet?



Geschrieben von:   MaschineBaby




Der Autor hat folgende Stimmungen f�r sein Werk angegeben:
depressiv
melancholisch
wütend



Der Typ hinter der Kasse ist fett, viel zu fett, aber da er einen offiziell genehmigten 24-Drugstore führt, muß er legitimer Staatsbürger sein. Ich reiche ihm die Schnapsflasche rüber, die dritte, die ich mir an diesem Abend genehmige. Die Zeiten sind hart für Leute wie mich, Zweite-Klasse-Leben, rechtlos, am Rande des Staatsbürgertums existierend. Mr. Braves-Reines-Vaterland-Kassierer brummelt etwas von Wertmarken und drei Kröten, sein Blick streift mich abschätzig, die speckigen Mundwinkel verziehen sich zu einem tollwütigen Grinsen des Abscheus, als er das Zeichen über meiner Augenbraue sieht. „Bastard!“ zischelt er, ich senke den Blick und krame die Wertemarken aus der Jackentasche. Meine andere Hand ballt sich um die Geldscheine und bei einem Blick in den Spiegel würde ich meine Augen vor Wut und Hass blitzen sehen. Verdammte, neue Menschenrechte, früher durften wir wenigstens noch das Wort erheben gegen derartige Diskriminierungen. Aber längst ist der Staat unser größter Verleumder geworden, hat unsere Entwürdigung legalisiert und forciert. Ich knalle das Wertemarkenblatt auf den Tresen und die drei Scheine daneben. Kurz zuckt seine Hand unter die Theke, er hätte jedes Recht, mich zu erschiessen, und mein Atem stockt, ich hebe die Hand vor Augen und trete erschrocken einen Schritt zurück. Er grinst breit über meine feige Reaktion, dann nimmt er das Geld und die Marken und öffnet die Kasse. Die Hälfte meiner Wertebilettes verschwinden darin, doch Protestieren wäre absolut sinnlos. Flasche und die restlichen Marken werden barsch über die polierte Arbeitsplatte geschoben, dann dreht er sich weg und drückt einen Schalter neben der Kasse. Schnell nehme ich meine Waren und stürze aus dem Laden. Unter der Tür spüre ich einen kurzen Stich über meiner rechten Augenbraue und höre ein leises Piepsen hinter dem Tresen. Ich trete auf die Straße, blicke schnell um mich ohne jemanden zu sehen und gehe hastigen Schrittes zur nächsten schmalen Seitenstrasse, in die ich einbiege. Nach einigen Metern stoppe ich und hole die Flasche aus meiner Jacke. Der Geschmack ist widerlich, Gin der billigsten Sorte, für uns gemacht, die wir die Lebensmittel der Staatsbürger nicht nehmen dürfen, aber nach dem zweiten großen Schluck werde ich bleiernd ruhig, meine Lider schwerer, meine Gedanken leichter. Meine Finger nesteln den markenschein hervor und eine genauere Betrachtung läßt mich fluchen. Der fette Penner hat mir acht Wertemarken abgerissen und mich damit um fünf beschissen. Mehr als die Hälfte, heiliger Christus nochmal! Das senkt meine Chancen auf einen betrunkenen restlichen Monat ganz erheblich. Verdammter Wichser! Und dann hat er auch noch meine ID markiert. Also wars das erstmal mit Einkaufen in dem Geschäft, es sei denn, ich will, daß sein Türalarm anspringt wie ein Feuermelder und mich die Secure-Squad hochnimmt wegen Übergriff auf einen Staatsbürger. Und mit der SS ist nicht zu spaßen. Die verbannen einen schnell mal in ein Besserungslager, wo man laut Gerüchten eine totale Gehirnwäsche bekommt. Seufzend komme ich zu dem Ergebnis, daß ich den Laden aus meinem Gedächtnis streichen könnte und den Rest des Monats ohne Alkohol und mit knappen Rationen verbringen werde. Meine Füße finden den Weg zurück auf die Hauptstraße, ich bleibe auf der beleuchteten Seite, laufe zielstrebig aber ohne Hast meiner Fabrikschicht entgegen und hole die Flasche nur aus der Jacke, wenn die Straße leer ist. Zehn Meter vor der nächsten Ecke sehe ich plötzlich eine Vierer-Streife der Secure-Squad, die Flasche, schon halb am Mund angelangt, tritt ihren fast schon hastigen Rückzug in die Jackentasche an, dann nehme ich beide Hände trotz der Kälte aus den Taschen, knöpfe die Jacke auf und nehme die Mütze ab. Die obersten Direktiven der Secure-Squad schiessen mir durch den Kopf:
„Ein Zivilist mit den Händen in den Taschen ist verdächtig. Gefahr einer Waffe! Von der Schußwaffe Gebrauch machen.“
„Ein Zivilist mit geschlossener Jacke, Mantel, etc. ist verdächtig. Gefahr einer Waffe! Sofort von der Schußwaffe Gebrauch machen.“
„Ein Zivilist mit Kopfbedeckung ist verdächtig. Durch Verbergen seines Zeichens übt er Gefährdung von Staatsbürgern aus. Sofort verhaften.“
Die SS-Männer haben mich entdeckt und kommen zielstrebig auf mich zu, ihre schweren Stiefel knallen auf dem Straßenpflaster, die schwarzen Uniformen sind nur schemenhaft erkennbar in der Nacht, nur das gelegentliche Funkeln der schweren Maschinenpistolen dringt deutlich durch die Dunkelheit, während ich ruhig aber zielstrebig mit gesenktem Blick auf sie zugehe. Bei mir angekommen, umringen sie mich von allen vier Seiten, die Waffen im Anschlag, nur der vor mir schiebt sich die MP auf den Rücken und salutiert mit der Hand am Helm und knallenden hacken. Ich richte meinen Blick auf seine Brust und salutiere ebenfalls. „Ihre Papiere, Zivilist.“ kommt seine Anweisung. Jetzt ist es mir erlaubt, in die jacke zu greifen, während sich eine Mündung von rückwärts in meine Rippen drückt. Ich hole die ID-Karte und den Schichtpass hervor, um sie ihm zu geben. Er zieht die ID durch den Scanner an seinem Unterarm, dann liest er konzentriert die Daten, welche über den Bildschirm fliegen. „Zivilist afghanischer Abstammung, mmh...mmh.“ murmelt er, dann laut und in barscherem Ton:„Wieso bist du um diese Uhrzeit noch auf der Straße, Zivilist?!“-„Bitte Sie untertänigst, meinen Schichtpass zu lesen, Squad-Commander, habe Ausgangserlaubnis bis 2 Uhr nachts, arbeite Schichtdienst in der Fabrik.“ Der Pass zischt durch seinen scanner, dann knurrt er zustimmend. „Woher kommst du, Zivilist?“ fragt er. „Von zu Hause, Squad-Commander.“ antworte ich. „Und wohin willst du, Zivilist?“- „Zur Arbeit, Squad-Commander.“ Wieder ertönt ein Knurren, dann reicht er mir meine Papiere, salutiert knapp und schon verschwindet der Tross stapfend in der Dunkelheit. Ich stecke die Papiere ein, richte meine Kleidung und laufe weiter, die Hände tief in den Taschen. Der Weg zur Fabrik ist lang, warmer Atem kommt in kleinen weißen Wolken aus meinem Mund, der Wind bläst kalt von allen Seiten, dringt durch meine Kleider und reißt kalt an der Haut, doch der Schnaps in meiner Hand kämpft hart und erfolgreich dagegen an, windet sich das Rückgrat hinauf und tropft langsam aber beständig auf mein gehirn, weicht es durch und meine Gedanken werden schwermütiger, der Gin schleift die Kanten der Realität ab, meine Welt wird runder, weicher, die bittere Pille ist leichter zu schlucken. Natürlich bin ich nur ein Zivilist, aber ich habe zu essen, eine Arbeitsstelle und ein recht geräumiges Zimmer im Arbeiterghetto, dessen Fenster ziemlich dicht sind, wenn auch mit Hilfe von Pappe. Ich habe mein eigenes Bett und sogar elektrisches Licht, sobald mir eine neue Glühbirne zugewiesen wird. Und wen stören schon all die Kameras und wanzen im Zimmer, wenn man eh nur arbeitet und sich nur zuhause einfindet für die Mahlzeiten und ein wenig Schlaf. Die Pflichtlektüre über den großen Krieg fällt mir ein, auswendig zu lernen in der fünften Klasse, Glaubensfundament eines jeden Zivilisten.
‚Früher, als die Welt noch aus vielen Ländern bestand, herrschte eine dunkle Ära, überall Kriege, jeder kämpfte, um ganz zu stehen, anstatt die Neuweltlichen Gesetze zu beachten. Doch unser altes Vaterland gab seine Reichtümer gern an die ärmeren Staaten ab, um sie glücklich zu machen. Natürlich nahmen sie alle die Spenden und Geschenke gerne an, aber einige fielen dem alten Vaterland in den Rücken, sie verstanden nicht die Neuweltlichen Gesetze, und das alte Vaterland zog in den Krieg gegen die Ungläubigen. Natürlich unterstützten die Freund-Staaten das alte Vaterland und unsere Regierung verteilte seine Streitkräfte und Stützpunkte über die ganze Welt, um die Ungläubigen besser bekämpfen zu können. Wir anekdierten alle Streitkräfte der Freunde und gewannen den Krieg. Doch um weitere Ungläubige zu vermeiden, ließ unsere Regierung die Stützpunkte in aller Welt bestehen und machte einen Vertrag mit den kleineren Staaten, daß das alte Vaterland alle kleinen Staaten beobachten durfte, wenn es sie wirtschaftlich unterstützte. Und endlich war das große Vaterland geboren. Alle Vaterländler wurden laut Neuweltlichem Gesetz zu Staatsbürgern und damit zu den Oberen der Welt, alle Kleinstaatler waren ab dann Zivilisten, geboren zur Arbeit.‘
Ich lache leise, traurig. Wer konnte schon sagen, welches Leben gut war? Und welches schlecht? Wenigstens habe ich eins. Aber manchmal nachts, fühle ich die Einsamkeit, die Isolation, vermisse ich menschliche Wärme und nicht nur die hohlwangige Gier meiner Nachbarn, die mich immer nur nach alten Wertmarken fragen. Sie haben vier kinder, ein plärrendes Crescento, egal zu welcher Tageszeit man in ihre Tür tritt. Das letzte Mal erzählte mir der Mann, er komme aus einem Land, in dem es auch zwei Klassen von Menschen gab, vor langer, langer Zeit. Er ist nordeuropäischer Abstammung, aus Deutschreich, sagt er. Oder so ähnlich. Aber Ländernamen sind heutzutage eh nur noch Schall und Rauch, das große Vaterland existiert doch schon seid mehr als zweihundert Jahren.
Ich erreiche die Fabrik, gerade als der letzte Schluck Gin meine Flasche verläßt, die Flagge am Mast im Lichthof flattert im Wind, rot-weißes Streifengewirr und eine blaue Ecke, auf der ein einziger großer weißer Stern prangt. Ich trete unter dem Torbogen durch, lese zum tausendsten Mal den eingestanzten Spruch, das Credo unseres Landes und das Nachtgebet aller Staatsbürger. THE AMERICAN WAY OF LIFE