Benutzer
Passwort

Beitrag   3 Bewertungen   3 Favoriten  



Weiße Fliesen



Geschrieben von:   MaschineBaby




Der Autor hat folgende Stimmungen f�r sein Werk angegeben:
aggressiv
einsam
verwirrt



Der Waggon ruckelt und ich schrecke hoch, in Rockmusik gehüllt, mein Walkman arbeitet mit voller Leistung. Anders könnte ich es wohl auch nicht aushalten. Ich senke den Kopf, starre weiter auf meine nassen Turnschuhe. Naß und trübe ist dieser gottverfluchte Dienstagmorgen, es regnet Striche draußen und meine Brille beschlägt in dieser U-Bahn-Athmosphere. Wasser schmatzt in meinen Sneakers, ich kann es zwischen den Zehen fühlen. Es durchnäßt die Socken und läßt sie kaltschleimig an der aufgeweichten Hornhaut reiben. Alt sind die Schuhe, die Fersen sind durchgetreten, von oben als auch von unten schimmern die Lamellen durch. Ich reiße mir Löcher in die Socken durch den Scheiß. Verfluchte Billigtreter! Mürrisch krame ich meinen Walkman aus der Parkatasche, wechsele die Kassette und stopfe alles wieder zurück. Meine kleine Orgie Taschenbillard erhält einen Sinn durch das Finden der Play-Taste und zellophanes Rauschen stimmt meine Ohren freudig. Dann ertönt langsam Musik, gerade als ich wieder einnicke. Ich lasse meinen Geist schweifen und träume mit der Musik in mich hinein.

An meiner Haltestelle ströme ich mit den anderen aus der Bahn, schlendere gemütlich Richtung Ausgang und verharre vor einem Getränkeautomaten, um mir eine Cola zu ziehen. Mit gesenkten Kopf krame ich im Portemonnaie, fluche innerlich über die vielen Kupfermünzen, als eine schnelle Bewegung neben mir mich hochblicken läßt. Es ist nur ein winziger Moment, aber eine innere Stimme flüstert mir zu, daß damit etwas ganz und gar nicht stimmt. Verständnislos starre ich auf das Bild vor mir, kämpfe mit meiner Logik und kapiere doch nichts. Dann beginnt mein Verstand langsam zu arbeiten und ich greife in die Tasche, suche die Stop-Taste des Walkmans. Aber meine Augen bleiben starr auf die Szenerie gerichtet, groß und dumm.
Als ich neun Jahre alt war, fuhr mein Vater mit mir um die Weihnachtszeit herum eines Spätnachmittags zur Baumschule, um uns eine Prachttanne für das Wohnzimmer zu kaufen. Ich bettelte ihn innig an, daß er mich mitnehmen sollte. Das Ganze war in meinen Augen eine wilde Abenteuerfahrt durch die verschneite, dunkle Nacht auf der Jagd nach einem großen, harzig stinkenden Ungetüm, daß wir fangen und dann nach Hause schleppen mußten. Ein echter Männerjob, nur für Väter und Söhne erlaubt.
Also saßen wir kurz darauf in unserem Transporter und fuhren über dunkle Überlandstrassen durch die Nacht. Wir scherzten und lachten viel und ich blickte hoch zu meinem Vater und dachte gerade, wie lieb ich ihn hatte, als ich eine schnelle Bewegung vor dem Kühler sah. Weniger sah ich sie, es war mehr ein kurzes Aufblitzen im Augenwinkel. Das Gesicht meines Vaters wurde verbissen, als hätte ihn eine Faust getroffen, dann stieß er den Fuß auf die Bremse und riß das Lenkrad zur Seite. Ich weiß noch, daß er plötzlich alt aussah, von einem Moment zum nächsten wich das Bild des starken Familienoberhaupt dem Verriß eines alternden, zu Tode entsetzten Greises. Wie in Zeitlupe drehte ich meinen Kopf in Richtung Frontscheibe, stemmte mein Gesicht wie gegen ein großes Gewicht millimeterweise nach rechts, während aus dem Mund meines Vaters ein langes und tiefes Zischen ertönte, wie kurz vor einem Zusammenstoß, wenn man ruckartig die Luft einsaugt und anhält, sich gegen den Aufprall wappnet. Denn ein Zusammenstoß stand uns bevor, das konnte ich in seinen aufgerissenen, hellen Augen sehen. Dieser Blick riß mich aus meiner Lethargie, mein Kopf ruckte nach vorn, meine Augen starrten in die Augen eines Rehs oder Hirschs, rund, dunkel und ganz tief darin konnte ich arrogante Dummheit erkennen, wie sie zitterte und kreischte, so winzig und doch war sie das Haar, an dem das Damoklesschwert hing, der schmale Grad zwischen Leben und Sterben.
Ich habe diesen Blick niemals vergessen und würde man mir einen Spiegel vorhalten, würde ich ihn wieder sehen, diese großen Augen, das leichte Zittern in meinem Blick, während ich diesen Fehler in meinem Alltag versuche zu verstehen, doch die Dummheit, mein selbstherrlich unantastbares Alter Ego, kreischt einen Augenblick zu lange und trägt mich über die Schwelle zwischen Leben und Tod. Während mein abstraktes Denken endlos Gründe findet für das, was ich sehe.
... ein Erdbeben...
... Godzilla...
... riesige Killerinsekten...
Meine Hand findet den Walkman in meiner Tasche, drückt die Stop-Taste. Dann geht alles schnell. So verflucht schnell.

Ich sehe Dutzende Menschen an mir vorbei zum Ausgang laufen. Nein, nicht laufen, sie rennen, hetzen, hysterisches Kreischen begleitet sie. Übereinander stolpernd, ist sich jeder selbst der Nächste und dem Anderen im Weg. Eltern reißen an ihren Kindern, zerren sie mit sich, wenden immer wieder panisch den Kopf. Jetzt höre ich laute, heisere Männerstimmen zu meiner Linken, die sich nähern. Ich drehe mich gerade um, als ein kräftiger Arm mich packt und herumwirbelt. Der Unterarm legt sich um meinen Hals, drückt mich gegen jemanden, als ein kalter Stahlfinger sich an meine Schläfe legt, dort verharrt. Vor mir sehe ich zwei Polizisten, die Pistolen im Anschlag auf mich gerichtet, ihr Gebrüll klingt heiser, voll heller Panik und raschem Tod. Ich beginne zu Schreien, mein Körper peitscht das Adrenalin nach oben und alles wird verwaschen......langsam.........schwerfällig.
Zeitlupenartig bewegt sich die Welt um mich herum, als stürmte alles und jeder gegen eine übermäßige Schwerkraft an. Details kommen durch diesen relativen Stillstand zum Vorschein, unbedeutend und doch klar erkennbar. Ich sehe, daß die Augen des rechten Uniformierten blutunterlaufen sind. Sie schwingen ihre Waffen und der Arm umklammert mich fester, die Waffe stößt gegen meine Schläfe, kratzt die dünne Haut an und es ist eine Waffe, plötzlich verstehe ich alles, ich, die Geisel, das Opferlamm, der Schutzschild eines Mannes, dessen Atem schlecht riecht und kaum von seinem scharfen Rasierwasser überdeckt wird. Auch er brüllt energisch Befehle, seine Lippen formen sich langsam, stülpen sich auf und ziehen sich breit beim Sprechen, Speichel fliegt in silbern glänzendem Bogen wie ein irrsinniges Ballett aus Kristall, doch für mich sind die Worte langsam verzerrt und ergeben keinen Sinn. Alle drei steigern sich hinein, ich höre Blut in meinen Ohren rauschen, mein Blut, das Waffenfuchteln wird aggressiver, die Stimmen überschlagen sich, schrauben sich hinauf zu einem kurzen Höhepunkt des Lauerns. Beide Polizisten starren auf mich, hinter mich, warten auf ein winziges Zeichen von Unachtsamkeit, ihre Körper spannen sich wie zum Sprung, fast sehe ich die Muskeln pulsieren und zucken unter den Uniformen. Mundwinkel zittern, ein fast tierisches Fletschen läßt die Züge entgleisen und dann schleicht sich ein leise knirschendes Geräusch in unser kleines Universum. Der Abzug des linken Polizisten zuckt, zieht nach hinten, ich sehe den Finger arbeiten und die Mündung ist plötzlich groß, kalt und grinsend. Sein Gesicht bewegt sich wie aus Lehm gemacht, ein Raubtiergrinsen reißt hinein und läßt seine Maske von Zivilisation brechen. Niedrigste Instinkte flammen mir aus seinen Augen entgegen und ich weiß, daß er schon für sich entschieden hat, wer hier gefressen wird und wer frißt. Adrenalin läßt mein Herz rasen, ein Paradoxon gegen die Behäbigkeit meiner Mitstreiter, dann bäumt sich die Waffe auf, fällt der erste Schuß von vielen und ich schwöre, daß das Mündungsfeuer schwarz war.
Und gelacht hat es, gelacht.

Atmen fällt schwer. Liege auf meinem Arm, schmerzt aber nicht. Gesicht nach unten, auf dem Bauch. Über mir sind Stimmen. Auch diesmal weit weg, verzerrt. Versuche, den Kopf zu heben. Zu schwer. Lege ihn liebe wieder auf die Fliesen.
Kleine Sechsecke, eigentlich ganz hübsch...
Müßte ich nicht Schmerzen haben? Glaube, meine Rippen sind gebrochen, kann nur auf einer Seite atmen. Bin ich irgendwo runtergefallen? Denken fällt schwer. Erinnerung fehlt.
Schwarz und weiß sind sie, ein schlichtes Muster...
In meiner Brust stimmt etwas nicht, ist aus dem Gleichgewicht. Die Stimmen werden lauter.
Neben mir. Eine einzelne rote Fliese. Das sieht doch schön aus. Weiß...Schwarz...Rot... Schwarz...Weiß. Meine Lieblingsfarben. Warte. Noch eine Rote...
Rote Fliesen werden mehr, wenn ich die Augen kurz schließe. Komische Sache. Ich probiere es mal. Werden ja sehen.
Schwarz...Rot...Weiß...Rot...Schwarz.
Und noch eine Rote.
Und noch eine.
Noch eine.
Noch...eine.
Noch.
Eine.
N...