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Autor: knochengott

Erstellt am: 09.07.2006

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isolation/extraktion



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: H2SO4

  - Einleitung
  - Kapitel 1: aktion/reaktion
  - Kapitel 2: isolation/extraktion
  - Kapitel 3: initiation/adaption
  - Kapitel 4: infektion/immunisation
  - Kapitel 5: fragmentation/ rekombination
  - Kapitel 6: desensibilisation/resensibilisation
  - Kapitel 7: destabilisation/stagnation
  - Kapitel 8: explosion/implosion


Der Keller ist dunkel und kühl, aber nicht kalt. Owen und Henry sind nur an den aufglühenden und verlöschenden Feuern ihrer Kippen zu erkennen, sonst hat uns Dunkelheit verschluckt. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach.
Ein Komet fliegt durch den Raum und vergeht in einem Feuerschauer an der Wand, als Owen seine Kippe wegschnippt.
"Scheiße, wo bleibt der nur?" knurrt er und in der Dunkelheit, ohne ihn sehen zu können klingt er wie man es erwartet - wie ein Raubtier. Ein ungezähmtes Raubtier.
Ich zucke nur mit den Achseln, weiß daß er mich nicht sieht, kenne ihn und Henry aber auch lange genug, um zu wissen das er das Rascheln meiner Jacke richtig interpretieren wird. Ich bin kein Freund großer Worte. Eigentlich auch kein Freund kleiner.
"Scheiße Stut, um vier hast du gesagt?"
Ich brumme zustimmend, lasse den Ton am Ende etwas ins Knurren wandern. Er weiß daß ich es nicht mag wenn er mich Stut nennt. Aber das kann ich ihn nicht abgewöhnen. Dafür rächt mich Henry meist. Er kennt mich ein paar Jahre länger als Owen.
"Wird schon kommen, Big-O." murmelt er auch wie auf Kommando und ich kann sein Grinsen durch die Worte erahnen. Hab ich es nicht gesagt?
Owen schnaubt nur genervt, blendet uns kurz und enthüllt graue Wände, einen Betonfußboden und die Kinnpartie seines Gesichtes, als er sich einen neue Kippe anzündet. Er inhaliert tief und stößt seine nächsten Worte mitsamt Rauch aus.
"Was machen wir heute Abend?"
Diesmal ist es Henry der schnaubt.
"Stuart?" Das ist mein richtiger Name, es grenzt fast ans mystische das Owen mich so anspricht. Sein Stut ist eine Ableitung, die zur Hälfte aus meinen Namen und zu anderen Hälfte aus seinem Kosename für mich besteht - Stutter. Extrem witzig.
Ich summe eine kleine Melodie.
"Verdammt was ist denn heute im Dreksloch los?" fragt Owen, richtet die Frage mehr an Henry als an mich. Die Worte, die Worte.
"Haben wir heute Mittwoch?" Ein grünes Leuchten taucht ihn in geisterhaftes Licht, als er auf sein Handy schaut.
"Verdammt dann ist ja heute TripleX Night!" Wieder dieses Grinsen. Dreifachdecker. Klingt doch gar nicht schlecht. Das riecht böse nach Schlägerei und dafür ist Owen immer zu haben. Henry will nur wieder eine neue Alte abschießen, aber das gönnen wir ihm. Ich für meinen Teil nehme einfach gern an wortarmen Veranstaltungen teil. Versteht sich ja von selbst wieso.
Mein Handy brummt los, tanzt die Anrufpolka und jagt Schauer mein Bein hinauf. Owen richtet seinen Blick auf mich und in der Glut der Kippe kann ich seine Augen funkeln sehen.
"Geht los?"
Ich werfe einen Blick auf die Nummer, würge den spastischen Tänzer ab und stehe auf. Sofort sind auch Henry und Owen auf den Beinen.
"Dann lassen wir mal knacken." sagt Henry und kichert. Er neigte schon immer zu Hysterie.

Rene gehört zur Kategorie RMR1. Das RMR steht für ‚reduzierte Menschenrechte‘ und die 1 für Stufe 1, soll heißen er kann jederzeit für maximal 120 Stunden ohne Anklage eingesperrt werden. Dafür geben sie ihm immer noch das riesige Privileg, seine Klamotten selber wählen zu können. Nur der rote achteckige Stern muß außen sichtbar getragen werden.
Tolle neue Gesetze.
Deswegen geht er kaum noch auf die Straße, denn Reduzierte der Stufe 1 verliehren auch ihr Besitzrecht. Also darf man ihm wegnehmen, was man will, er darf sich zwar wehren, aber den anderen nicht dabei verletzten. Schöne Scheiße.
Wir haben irgendwie nie gefragt, warum er RMR 1 ist. Ist eigentlich ja auch egal.
Owen meint die RMR gehen bis Stufe 5, wobei die 5 zu allem auch ihr Lebensrecht verliert. Kann man umbringen, wenn man will. Der darf sich dann natürlich auch wehren. Nur Notwehr und so ein Zeug gibt es dann für ihn auch nicht.

Obwohl eigentlich hat Rene noch Schwein gehabt. Sein Verteidiger hat ihn durch einen Deal auf 1 runtergebracht. Er sollte Stufe 3 kriegen.
Kein wohnrecht, kein Besitzrecht, kein recht auf Menschenwürde. Japp, keine Menschenwürde mehr, nein danke, kann man sich abschminken.
Man hätte ihn auf offener Straße aufs Maul hauen können ohne Strafe. Und man bekommt die Klamotten vorgeschrieben, ist so ne Art Einteiler in Drekgrau. Aber der Zuckerguß ist das Tatoo, daß sie einem über dem rechten oder linken Augenbraue verpasen. Damit auch der letzte noch Bescheid weiß. Ein Strichcode mit allen Daten sagt Owen. Damit du jederzeit identifizierbar bist. Um dererlei gefärliche Subjetze kontrollieren zu können oder so. Sagt Owen.
Ich halte es einfach nur für gute altmodische Schikane.
Aber für Rene ist es so schon beschissen genug, also treffen wir uns meist irgendwo, wo es ruhig ist. Rene kennt da ein paar Plätze.
Keine Leute – keine Probleme.
Diesmal ist es ein vergammelter alter Spielplatz. Der Sand ist grau und Glasscherben funkeln darin. Er wartet auf der modrigen Kletterburg auf uns, die dünne Jacke um den dürren Körper geschlungen und blickt missmutig unter seiner Kapuze hervor. Soweit ich ihn kenn ist das sein primärer Blick. Aber ich kenne ihn ja auch nur als RMR1. Vielleicht war er vorher anders.
Ein paar Junkies sitzen am Rand des Spielplatzes trotz leichten Nieselregens und unterhalten sich. Mich beschleicht der Verdacht, das ein Teil des Funkelns im Sand feine Glasrörchen und Spritzen sein könnten. Kinder sind weit und breit keine zu sehen und das nicht nur, weil die Geburtenrate praktisch bei null liegt.
„He Leute. Scheißwetter was?“ begrüßt uns Rene freundlich, kaum das wir die Burg erklommen haben.
„Wasn los Rene?“ knurrt ihn Owen mißgelaunt an. Muß man verstehen, er hatte seit einer Woche keinen Sex. Und das Wetter hilft auch nicht grad.
„Mal sachte Big-O.“ erwidert Rene. „Wollt nur mal ein paar freundliche Gesichter sehen.“
Er grinst in die Runde, aber der Witz kommt nicht an. Als letztes sieht er Owen an und bemerkt, daß dessen linker Mundwinkel leise zuckt. Kein gutes Zeichen auf der Launeskala, also läßt er das Grinsen fallen und kommt direkt zum Punkt.
„Okay folgendes. Ich hab einen Kerl in meiner Gruppe, dem ich die eine oder andere Geschichte von euch erzählt habe. Und der wollte euch mal kennen lernen.“
Mit seiner Gruppe meint er die Kellerchristen. Fast alle RMR werden zu Christen, da ist der Glaube an Menschlichkeit und Brüderlichkeit, gegenseitige Rücksichtnahme und dem ganzen Quatsch ja auch inklusive. Treffen sich meist in irgendwelchen Kellern, wo sie dann verbotene Rituale oder sowas abhalten. Muß man sich mal vorstellen – die sagen sinngemäß: „Wenn du eine fängst, dann bitte um Nachschlag.“ Völlig bescheuert! Da heißt es doch zurücktreten, bis der Bastard nicht mehr zuckt!
Wir lehnen uns erstmal zurück, physich und psychisch und logisch sind wir alle skeptisch über die Info. Ein RMR mit Interesse an uns? Schon klar, aber was genau interessiert ihn denn so?
„Das‘n Scherz oder?!“ raunzt Owen. Er hat mal wieder das Reden für uns übernommen.
„Nee das ist mein Ernst.“ Jetzt kommen wir wieder näher ran, weil Rene so sicher klingt. Wäre es eine Schnapsidee, hätte er schon den großen Stammler gemacht. Tut er aber nicht.
„Okay, was ist das fürn Kerl?“
Wir rücken Rene schmerzhaft nah auf den Pelz. Man kann für einen flüchtigen Moment sehen, das er gern mehr Platz schaffen möchte, es sich aber überlegt und sitzen bleibt. Muß ihm wirklich wichtig sein, denke ich und bin ein bisschen beeindruckt.
„Weiß ich auch nicht so genau. Ist neu bei uns. Er meint er arbeitet an einem Projekt, größer als die Kellerchristen und all das. Und er sucht immer Leute, die in da reinpassen. Also hab ich ihm von euch erzählt.“
Owen schnaubt durch die Nase, und wir anderen beiden rücken wieder etwas weiter ab. Klingt doch nach Blödsinn.
Jetzt ist Rene doch etwas nervös, seine Augen gehen von mir zu Owen zu Herny und wieder zurück, während er nach Worten sucht. Und da gehen meine Augen plötzlich auf und ich begreife, daß er irgendetwas erlebt hat, daß ihn völlig überzeugt hat. Er tut das hier nicht für sich, sondern weil er denkt es könnte uns helfen. Ich kippe fast von der Kletterburg.
„Ihr sollt ihn nur mal treffen und mit ihm reden, mehr verlangt er gar nicht.“
Rene ist bei Owen hängen geblieben, der ihn mit starrem Blick begegnet.
„Er zahlt auch dafür.“
Owen sieht zu Henry, der seinen geringschätzigen Blick erwidert und dann zu mir. Unsere Blicke treffen sich und plötzlich ist es ihm auch klar. Sein starrer Gesichtsausdruck löst sich und jetzt dreht auch Henry den Kopf zu mir und dann verstehen wir alle drei. Wir sitzen da mit entgleisten Gesichtern und sehen das Wunder Menschlichkeit. Der Schock sitzt tief - niemand von uns hat mehr dran geglaubt.
Rene sieht wieder von einem zum anderen und als weder Owen noch Henry Anstalten machen etwas zu sagen, nicke ich langsam und vorsichtig.
Kurze Zeit später verlassen wir vier den Spielplatz. Owen und Henry haben sich wieder gefangen, doch ich arbeite noch. Der Brocken will nicht runterrutschen.
Rene geht vornübergebeugt und preßt eine Hand an die Brust, als könnte er nur schwer atmen. Das unter der Hand der rote Stern sitz versteht sich ja von selbst.

Der Typ aus Rene’s Kellerchristengruppe ist ein echter Schock, der unseren Schock von Menschlichkeit verblassen läßt. Er trägt einen grauen Overall, den wir alle nur aus dem Fernsehen kennen. Das Strichcodetatoo ist über dem linken Auge.
Owen findet als erstes seine Stimme wieder.
„So ‘ne Scheiße, ‘ne 5.“
Der Typ zuckt nicht mal mit der Wimper, sitzt einfach nur auf der vergammelten Matratze, die er wohl sein Bett nennt. Wir befinden uns in einer Seitengasse, obwohl es wohl eher die Seitengasse einer Seitengasse einer Seitengasse ist. Es stinkt wie auf dem Scheißhaus und man kann kleine Füßen rascheln hören. Ratten.
„He Big-O warte mal, daß ist nicht was du denkst, er ist ein politischer...“
Der RMR 5 Typ hebt das erste mal seine Stimme und schlagartig verstummt Rene, als hätte man einen versteckten Schalter gedrückt.
„Ich würde euch gerne platz nehmen lassen, aber wie ihr seht...“ Seine Hand weist in die Runde. „... sind meine Möglichkeiten eingeschränkt.“
Seine Stimme hat einen amüsierten, leicht ironischen Klang, ist aber trotzdem fest und sicher. Eine für uns ungewohnte Mischung.
Owen macht einen Schritt nach vorn, die Fäuste geballt.
„Okay, Nummer 5, ich denke du hast jetzt erst mal Sendepause, bis wir das mit diesem Penner hier geklärt haben!“ Mit Penner meint er natürlich Rene. Man darf das Owen nicht übel nehmen, es ist einfach seine Art, erst einmal laut zu werden. Das gibt ihm das Gefühl von Kontrolle denke ich. Und nebenbei bemerkt ist Owen kein Freund von unangenehmen Überraschungen.
„Denkst du das?“ fragt der RMR 5.
Owen geht noch einen Schritt näher heran, ihn trennen nur noch Zentimeter von dem Kerl.
„Das denke ich!“ zischt er und ich kenne dieses Zischen. Es ist Owens letztes Sicherheitsventil. Noch mehr Druck und er wird platzen.
Der RMR 5 Typ sagt etwas, nur ein Wort oder einen kurzen Satz, so leise, daß nur er und Owen es hören können und mit einem mal ist jede Anspannung aus Owens Gesicht verschwunden. Seine Fäuste sinken herunter und er glotz den Kerl mit großen Augen an.
Der Kerl und Owen sehen sich gegenseitig in die Augen und weitere Worte fliegen zwischen ihnen hin und her. Ich beuge mich näher heran, weil ich wissen will worum es geht.
„Henry, Stuart, Rene, macht mal ein bischen Platz. Ich muß mit unserem neuen Freund was geschäftliches klären.“ Das ist Owen, der in die Hocke sinkt und sich scheinbar auf ein längeres Gespräch einstellt.
Ich zögere nur kurz, dann drehe ich mich um und gehe ein paar Meter aus der Gasse heraus, Rene tut es mir gleich. Henry starrt die beiden weiterhin ungläubig an, also packe ich ihn am Handgelenk und er läßt sich wiederstandslos mitziehen. Wir warten.

Später am Abend schaue ich nochmal schnell zu Hause rein. Muß aus den Klamotten raus. Ich schließe die Tür auf, klinke den Schlüssel wieder aus und werfe einem Blick über die Schuhe im Flur. Scheiße mein Alter ist da! Also gehe ich folgsam in die Knie und schnüre meine Schuhe auf, stelle sie ordentlich zu Seite und gehe in mein Zimmer. Als ich am Wohnzimmer vorbei komme pfeife ich kurz eine dreitonige Melodie, tief hoch tief. Hab ich irgendwo aufgeschnappt. Mein Alter klebt tief in der Couch, ich kann nur den Schatten und das glühende Ende seiner Kippe erkennen. Ein unangenehmer Schauer überfällt mich. Er hat so eine Art, einem mit brennenden Kippen seinen Standpunk näher zu bringen. Meine Unterarme sprechen Bände. So schnell ich kann verpiß ich mich in mein Zimmer, heute abend keinen Bock auf weitere Ausfälle des Alten, während meine Mutter nebenan scheinbar taub mit was auch immer sie tut weitermacht, bis ich irgendwann vor dem Alten davonlaufe und die dann plötzlich aus ihrer Starre erwacht und mir müde zulächelt. Ich glaube, daß sie sich entschuldigen will. Was soll sie auch machen? Nicht mal ich komm gegen den Alten an.
Owen und Henry geht es in der Beziehung nicht viel besser. Gleiche Geschichte andere Darsteller. Owen ist manchmal tagelang verschwunden, auf der Suche nach seiner Säuferin von Mutter. Vom Vater weit und breit keine Spur mehr. Vielleicht schafft sie es beim nächsten mal sich endlich totzusaufen. Aber wahrscheinlich nicht. Manche Menschen sterben einfach nicht, egal was kommt. Irgend ein Kerl liest sie meinstens auf. Sieht ja auch nicht schlecht aus. Das saufen hält sie dünn. Und wenn Owen nicht auf sie aufpaßt dauert es höchstens ein paar Stunden und sie hockt in der nächsten Bar und macht für einen Drink alles.
Echt alles.
Henry und ich haben Owen schon oft versucht zu erklären, daß er sich kaputt macht, aber er hört ums verrecken nicht. Ist immerhin seine verfluchte Mutter.
Und Henry – Henry hat es am schwersten. Seine Eltern führen einen nichtöffentlichen psychologischen Krieg gegen ihn. Warum? Naja, er ist ihr einziges Kind und er ist so gar nicht everybodys darling.
Eher nobodys darling.
Sein Vater versuchte zuerst autoritär, dann verstehend und zuletzt homeopatisch ihm diesen Wesenszug abzuerziehen. Inzwischen beschränkt er sich auf gelegentliche Seitenhieb hier und da. Er hat nicht eine Schlacht gewonnen, aber er gibt den Krieg deswegen nicht verloren. Zäher alter Hund nent ihn Henry manchmal nicht ohne ein bischen ungläubige Bewunderung. Ich denke er wäre gern anders, irgendwie nur etwas dümmer um seine Eltern zu beruhigen oder etwas smarter um ihre Erwartungen erfüllen zu können.
Aber er ist nun mal nur wie er ist.
Wer Henry echt schwer zu schaffen macht ist seine Mutter, die sich jedesmal in Glaß zu verwandeln scheint, wenn beide zusammen sind. Ihre Bewegungen, Gesichtszüge und Sätze werden dann allesamt scharf und knapp, man hat Angst sie würde unter den Anspannung zerspringen. Henry sagt dann meist kein Wort mehr, unfähig zu reagieren, unfähig ihr zu sagen was er denkt. Offener Haß wäre leichter, leichter zu ertragen, aber seine Eltern machen es ihm nicht leicht. Sie verbergen ihre Emotionen, sofern vorhanden und reduzieren Henry auf etwas Objekthaftes.
Es hat immer noch keinen Studienplatz für das nächste Semester. Möchte es sein Leben denn so wegwerfen? Es soll mich bitte ansehen, wenn mich mit ihm spreche.
Etwa in der Art – voll krank.

Die Unterhaltung zwischen Owen und dem RMR5 dauert nur ein paar Minuten, dann steht Owen wieder auf und kommt zu uns. Er hat den Kopf gesenkt und seine Augen starren auf den Boden. Er grübelt.
„Und?“ Henry kann es nicht mehr aushalten und packt Owen an der Schulter. Dessen Augen werden wieder klar und er scheint aus einem Traum zu erwachen, einen Anblick den ich nur zu gut kenne.
Er sieht mich an.
„Jetzt du.“

Ich muß zugeben, als ich mich dem Kerl nähere habe ich etwas Angst. Ich habe noch nie erlebt, daß Owen so schnell entmachtet wurde und auch mit meinem Freunden im Rücken habe ich kein gutes Gefühl. Etwa einem Meter von dem Kerl entfernt lasse ich mich auf die Fersen hinab und sehe ihn nur an. Er hat einen Blick, der mich veranlaßt die Augen niederzuschlagen. Wie ein Schweißbrenner, der ein Loch in mich hineinbrennen will.
„Stuart.“
Ich blicke auf und alle Schärfe ist aus seinem Blick verschwunden.
„Es ist nie eine Entschuldigung, um die sie bittet. Sie bittet nur um Verständnis.“
Mein Gesicht entgleist, ich kann spüren wie meine Mundwinkel nach unten gehen. Er hat ein Loch in mich hineingebrannt und jetzt ist für ihn alles offen. Plötzlich Schwäche überkommt mich und ich kippe nach vorn, lande auf meinen Knien, den Kopf gesenkt wie einer seiner verdammten Christenfreunde. Nässe auf meinem Gesicht. Eine warme Hand legt sich auf meinen Nacken und ich blicke wieder auf. Verschwommen erkenne ich sein Gesicht, er lächelt. Ich fühle Freiheit, die zum greifen nah ist.

Nach mir geht noch Henry zu ihm und auch er kommt zurück wie Owen und ich – aufgewühlt, froh, traurig, verwirrt, klar. Rene sagt kein Wort, wirft nur einen letzten Blick zu dem Typ und zeigt uns dann den Weg aus dem Gassenlabyrinth. Wir folgen ihm, ohne noch einmal zurückzusehen. Auf der offenen Straße zaubert Henry ein halbzerdrückte Schachtel Blams heraus und gibt jedem eine. Rene lehnt dankend ab und verabschiedet sich mit ein paar Worten. Es sind ihm zu viele Menschen um uns herum. Er taucht in der Masse unter. Wir stehen mit dem Rücken an der Wand, jeder in Gedanken und rauchen langsam.

Die liebgewonnene Unordnung grüßt mich im meinem Zimmer und ich grüße zurück, indem meine Jacke in die nächste Ecke fliegt. Mit einer Armbewegung ist das Bett frei und ich lasse mich hineinfallen. Johnny fletscht sein Gebiß von der Wand aus zu meinem Bett und ich versinke einen Moment in Betrachtung seiner Pose. Durch die Tür dringt das Reval-Lachen des Alten. Ich denke noch einmal an den RMR 5 und seine Worte. War es bei Owen und Henry dasselbe? Er sagte mir, er könne mir die Stärke geben, die Worte geben, um meine Mutter aus ihrer Starre zu lösen, um dem Alten ein für alle mal klar zu machen, wo er steht.
Und was ist mit Owen? Eine Heilung für seine kaputte Mutter?
Henry? Einen Waffenstillstand, vielleicht sogar Frieden mit seinen Eltern?
Ich weiß nicht was er ihnen gesagt hat, aber es ist klar, daß wir mitmachen. Es gibt nichts was uns daran hindern könnte.
Mit dieser Gewißheit schlafe ich ein, noch ein meinen Klamotten und es ist guter Schlaf - schwarz und traumlos wie die Realität.