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Autor: Anetreus

Erstellt am: 22.05.2006

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Gor



Geschrieben von:   Anetreus


Anmerkungen des Autors:
Hintergrundgeschichte zu einem Charakter aus Dungeons & Dragons, Vergessene Reiche. Der wiederholte Namenwechsel kann verwirrend sein. Als Abenteurer ist er dieser Tage unter dem Namen Gor bekannt.



Jugend

Die Watertrutz waren ein erfolgreiches Händlerehepaar aus dem Volk der Zwerge, die in ihrer Jugend durch die wagemutige Erschließung neuer Handelswege einiges an Gewinn erwirtschaften konnten und sich später in Tiefwasser niedergelassen haben. Dort gebar Frau Watertrutz einen Sohn, Rabkil Watertrutz, und die stolzen Eltern träumten vom Beginn einer Watertrutzdynastie, welche Ruhm an der gesamten Schwertküste erlangen sollte.
Doch natürlich kam es anders, sonst gäbe es hier keine Geschichte zu erzählen.
Rabkil war ein wankelmütiges Kind und als Jugendlicher mangelte es ihm an Geduld, sich mit langwierigen Verhandlungen zu befassen. Wenn ihm etwas zu teuer schien, beharrte er dickköpfig auf seine Preisvorstellung und ging auf keinen Handel ein. Üblicherweise wiederholte er leise und mürrisch den Betrag, den er als angemessen betrachtete. Solche Verhandlungen endeten entweder mit einem verärgerten Händler oder – wenn dieser Geduld genug hatte, auf den Watertrutz-Junior einzureden – mit einem Wutanfall. War er allein, konnte der junge Mann stundenlang Bücher studieren. Aber für einen richtigen Händler fehlte ihm einfach etwas – das mussten sich seine Eltern bald eingestehen. Dann kam es noch schlimmer: Rabkil begann sich für die Magie zu interessieren. Das war für einen Zwerg höchst ungewöhnlich und die Familie Watertrutz befürchtete eine Schädigung ihres Rufes. In der weiten Verwandschaft des Watertrutz-Clans war nur ein einziger anderer Zwerg bekannt, der den Weg der arkanen Künste beschritten hat – ein Onkel zweiten Grades, der vom restlichen Watertrutz-Clan gemieden wurde.
Dort würde Rabkil gut aufgehoben sein, dachten die Eltern.


Ausbildung

Der Zwergen-Magier hatte vor langer Zeit gemäß den Regeln seines Zirkels bei Erreichen des Ersten Ranges seinen Geburtsnamen Watertrutz abgelegt und den Namen Nadasadil angenommen. Zudem war er auch der Letzte seines Zirkels und dachte nun daran, den jungen Rabkil Watertrutz zu einem würdigen Nachfolger auszubilden. Der neue Lehrling gab sich ein wenig störrisch, schien aber an der sowohl isolierten, als auch privilegierten Stellung Gefallen zu finden. Sein seltsam unausgeglichenes Temperament machte weniger Probleme, als Nadasadil zunächst befürchtet hatte. Tatsächlich war es so, dass der Junge seine ruhigen Phasen zum Lesen arkaner Schriften nutzte und seine Wutanfälle in recht ansehnliche Eruptionen thaumaturgischer Wirkungen kanalisierte. Das gelang natürlich nicht von Heut' auf Morgen, sondern kostete Zeit, Mühe und zahlreiche Reparaturen an der Behausung, aber Nadasadil musste zugeben, dass dieser unvorhergesehene, eigenwillige Stil seines Lehrlings durchaus erfolgversprechend war.
Schließlich beendete der Rabkil Watertrutz seine erste Prüfung und erreichte damit den ersten und untersten Rang nach den Regeln des alten Zirkels. Von nun an sollte er den Namen Tzunfasoel tragen.


Schicksal

Eines Tages geschah das, was Tzunfasoels Leben für immer verändern und für lange Zeit vorherbestimmen sollte.
Es war ein schöner Herbsttag gewesen, milde Luft und warmer Sonnenschein. Tzunfasoel hatte gute Fortschritte mit seinen Übungen gemacht. Die Nacht war angebrochen und die schmale Sichel des Mondes tauchte die Häuser der kleinen Stadt, die Tzunfasoel nun als seine Heimat betrachtete, in fahles Licht.
Der Angriff kam so plötzlich wie ein Blitzschlag. Mehrere Häuser gingen in blauen Flammen auf, Klingen schossen aus der Erde und Wesen in schwarzen Rüstungen, mit rotglühenden Augen fielen in die Stadt ein.
„Dunkelelfen!“ rief Nadasadil von den Zinnen seines Turmes. „Mach, dass du rein kommst! Und verriegle die Tür!“
Tzunfasoel hastete durch das Portal ins Innere des Turms und rief das arkane Wort, das der Turmmagie befahl, das Portal zu schließen. Die mitternachtblau gestrichenen Pforten schlossen sich rumpelnd und ein kurzes Aufblitzen verriet die Magie, die für Eindringlinge ein viel größeres Problem sein würde, als die zehn Zentimeter weltlichen Holzes.
Tzunfasoel hastete die vielen Stufen nach oben und erreichte schwer atmend den Beobachtungsposten. Nadasadil starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen hinaus in die kühle Nacht.
„Ein großer Trupp. Ein ziemlich großer Trupp.“
„Müssen wir uns Sorgen machen, Meister?“
„Ich habe noch nie so viele Dunkelelfen auf einmal gesehen.“
„Soll ich die Schriftrollen holen, Meister?“
Tzunfasoel hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, als Nadasadil ihn am Arm packte, ohne den Blick von den Häusern in der Nähe des Turmes abzuwenden.
„Warte.“
Der Meister sprach einen Zauber und berührte flüchtig einen der Foki, die er an einer feinen Mithrilkette um den Hals trug. Seine Augen glühten in silbernem Licht auf und Tzunfasoel wusste, dass Nadasadils Blick nun mühelos die Nacht durchdrang und ihr alle Geheimnisse entreissen würde.
„Bei Mystra!“ rief der Meister plötzlich aus und sein Griff um Tzunfasoels Arm wurde so fest, dass es dem Lehrling Schmerzen bereitete.
„Was ist, Meister?“
„Sie haben das Siegel am Haus der Meister neutralisiert – als sei es nur ein Zaubertrick gewesen.“
„Aber Ihr habt drei Wochen gebraucht, um es zu erschaffen -“
Endlich wandte sich Nadasadil seinem Lehrling zu. Seine Augen glühten noch immer in silbernem Licht, als er nun auch den anderen Arm Tzunfasoels packte und den jungen Mann schüttelte.
„Hör mir zu, Junge! Wir können nichts ausrichten.“
„Aber -“
„Wir müssen fliehen. Geh hinunter ins Laboratorium und pack die Reagenziensammlung ein. Nimm einen normalen Rucksack – keinen der magischen Beutel, hörst du? Ich werde sehen, welche Bücher ich aus der Bibliothek rette -“
Damit gab er Tzunfasoel frei und die beiden eilten die Treppe hinunter.

Wenige Minuten später trafen sie sich im Erdgeschoss.
„Leg den Schutzring ab. Und auch die arkane Kordel“, befahl Nadasadil.
„Warum?“
„Tu es!“ befahl Nadasadil und zerrte sich seine eigenen Ringe von den Fingern. „Wir dürfen keine magischen Auren an uns haben. Sonst kommen wir keine fünf Meter weit.“
Tzunfasoel tat wie ihm geheißen und ließ seinen Schutzring widerwillig zu Boden fallen. Eine Handvoll Ringe des Meisters folgte mit einem Chor metallischen Klanges. Tzunfasoel löste die arkane Kordel seiner Leinenrobe und warf sie fort. Nadasadil riss sich die Kette mit den Foki vom Hals und sprach den Befehl zum Öffnen der Turmpforten.
„Wir müssen jede Deckung nutzen, die sich uns bietet. Die Dunkelelfen können in der Nacht viel besser sehen als wir. Bereit?“
Durch das geöffnete Tor drangen Schreie, der Klang von Schwertern, und das Prasseln brennenden Holzes.
„Ich weiß nicht -“
„Gut. Los!“
Nadasadil packte Tzunfasoels Hand und die beiden stürmten los, hinein in die Nacht, die nun vom flackernden Schein brennender Häuser erleuchtet wurde. Tzunfasoel sah Stadtbewohner, die rufend und schreiend zwischen den in Flammen stehenden Gebäuden umherirrten, und andere, die sich mit Knüppeln und Forken den Stadtwachen anschlossen, welche sich einem Feind stellten, der in der Dunkelheit kaum auszumachen war.
„Durch die Gasse dort“, sagte Nadasadil und zog Tzunfasoel mit sich. Sie rannten und rannten, jeder die Hand des anderen fest ergriffen. Der Rauch in der Luft wurde dichter und Tzunfasoels Augen begannen zu tränen.
Sie hasteten durch Straßen und Gassen, mieden offene Plätze und umgingen Kampfgeräusche. Plötzlich blieb Tzunfasoel stehen und zerrte an Nadasadils Hand.
„Wartet, Meister!“
„Was ist, Junge?“
„Ich glaube ich habe dort was gesehen.“
Tzunfasoel starrte in die Gasse vor ihnen – er glaubte zwei rotglühende Punkte gesehen zu haben, aber nun waren sie fort.
„Nur noch diese Gasse“, sagte Meister Nadasadil, „dann haben wir es geschafft!“
„Na gut. Aber lasst uns vorsichtig sein.“
Sie gingen weiter, starrten in die Finsternis, die auch von den hinter ihnen liegenden Flammen nicht durchdrungen wurde.
„Hört Ihr das?“ flüsterte Tzunfasoel und blieb abermals stehen.
„Nein. Jetzt komm endlich, Junge! Sonst lass ich dich -“
„Eine Stimme. Hört sich wie ein Zauberspruch an.“
Plötzlich erklang metallisches Schleifen, als ob hunderte von stählernen Klingen in Bewegung gerieten. Aus der Gasse kam ein Funkeln und Blitzen und das Geräusch wurde lauter. Eine wertvolle Sekunde verloren Meister und Lehrling an den Schrecken, bis sie begriffen, was geschah. Klingen schossen in gerader Linie aus dem Boden und rasten stoßend und stechend genau auf die beiden Zwerge zu.
„Weg!“ schrien beide gleichzeitig und warfen sich zur Seite – doch in unterschiedliche Richtungen und sie hielten sich noch immer an den Händen. Tzunfasoel glaubte, sich für die richtige Richtung entschieden zu haben und zerrte mit aller Kraft an der Hand seines Meister. Die Augen nach vorn gerichtet, wo er einen neuen Fluchtweg entdeckt hatte. Doch der Meister zerrte seinerseits und so kamen sie nicht von der Stelle. Tzunfasoel wollte sich gerade umdrehen und seinen Meister anschreien, als der Widerstand plötzlich nachließ. Erleichtert lief Tzunfasoel los und bemerkte erst im Schutz einer weiteren Gasse, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Die Hand seines Meister wies überhaupt keinen Widerstand mehr auf. Tzunfasoels Unterbewusstsein hatte natürlich längst erkannt, was geschehen war, doch sein Bewusstsein wollte das erst glauben, als es das Schreckliche mit eigenen Augen zu sehen bekam. Der Magierlehrling hob die Hand, die noch immer die Linke seines Meisters umklammert hielt. Und diese endete in einem blutigen Stumpf.
Tzunfasoel schüttelte mit einem angewidertem Schrei seine Hand hin und her, bis sich die abgetrennte Hand Nadasadils löste und auf das Kopfsteinpflaster fiel. Der Lehrling starrte sie einen Moment lang an, bis er sich wieder fasste. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den Weg zurück, den er gekommen war. Dort stachen und stießen noch die beschworenen Klingen in gerader Linie aus dem Boden, verschwanden dann ebenso plötzlich, wie sie gekommen waren und drei dunkle Gestalten wurden sichtbar. Sie traten an ein Bündel heran, dass am Boden lag – die Überreste von Meister Nadasadil.
'Bei Mystra!', dachte Tzunfasoel schaudernd, 'Ich habe ihn genau in die Klingen gezogen!'
Plötzlich erklangen wilde Schreie und eine Gruppe bewaffneter Menschen stürmte auf die drei dunklen Gestalten zu, welche daraufhin die Flucht ergriffen.
Tzunfasoel stand noch eine Weile da, dann trat er auf den leeren Platz hinaus. In der Ferne jagten die Stadtwachen mit lautem Geschrei die Dunkelelfen – oder umgekehrt. Tzunfasoel war es egal.
Endlich fiel die Starre von seinen Gedanken und er traf eine Entscheidung.

Als die ersten Sonnenstrahlen über den Wipfeln des Westwaldes funkelten und das Ausmaß der Zerstörung in der kleinen Stadt offenbarten, hatte Tzunfasoel alles für das Ritual vorbereitet. Die Teile seines Meister lagen im Beschwörungsraum auf dem nackten Holzboden, umgeben von einem Kreis aus Runen, die Tzunfasoel in stundenlanger Arbeit aus einem nekromantischen Buch mit magischer Kreide abgezeichnet hatte. Der junge Magierlehrling ergriff nun den Beutel mit dem wertvollen Knochenmehl, das aus den Gebeinen verfluchter Untoter hergestellt worden war und verteilte eine Handvoll über die Leichenteile. Nun die Phiole Heiligen Wassers, auf jedes Körperteil einen Tropfen, aufgetragen mit der Feder eines Engels.
Dann kam der schwierigste Teil – das Wirken des exotischen Zaubers, dessen Beschreibung verhieß: „Kräfte der Nekromantie und der Zeit, beschworen mit der Kraft jenseits des Todes und gebändigt mit geborgter Heiliger Macht – sie bringen das Subjekt in den Zustand, den es genau vor einem Tag, einer Stunde, einer Minute und einer Sekunde hatte.“
Tzunfasoel schluckte, wischte sich den Schweiß von der Stirn, atmete tief ein und begann mit dem Intonieren der arkanen Silben. Seine anfangs leise Stimme wurde lauter und tiefer und füllte den Raum. Die Kerzen, die auf blanken Schädeln hockten, begann zu flackern, als ein geisterhafter Wind aus schwarzen Schatten um den jungen Magier zu kreisen begann. Finstere, nichtmaterielle Gestalten erschienen am Rande seines Sichtfeldes, verschwanden aber, wenn er sie betrachten wollte.
Tzunfasoel sprach weiter und warf eine Handvoll kleingeschnittenes Ghulhaar in die Luft, welche sich daraufhin mit violettem und blauem Funkeln erfüllte. Ein dumpfes Schlagen erklang, in Sekundentakt, wie von einem Uhrwerk, das aus Knochen gefertigt worden war.
Nun kam der letzte Vers. Tzunfasoel schrie die Silben hinaus und vollführte die komplizierten Gesten. Schließlich streckte er die Hände über die Leichenteile aus. Die auf den Boden gezeichneten Runen hatten sich mittlerweile gelöst, schwebten in der Luft und umkreisten die Überreste von Meister Nadasadil. Aus den Fingerkuppen des Lehrlings schossen schwarze Flammen hervor und hüllten die zerstückelte Leiche ein. Tzunfasoel ließ die Arme sinken und beobachtete mit geweiteten Augen das finstere Schauspiel. Die Flammen erloschen, die Runen schwanden. Die Schatten beendeten ihren Tanz, das Schlagen der Geisteruhr verklang in der Ferne. Der Körper des Magiers Nadasadil war noch immer zerstückelt.
Tzunfasoel schrie „Nein!“ und seine Adern traten an Hals und Stirn hervor – doch da bemerkte er eine Bewegung. Die rechte Hand des Magiers, diejenige, die Tzunfasoel in der Nacht gehalten hatte, zuckte!
„Meister“, flüsterte Tzunfasoel.
Die weißen, kalten Finger öffneten und schlossen sich krampfartig. Doch die anderen Körperteile blieben so tot wie zuvor.
'Was habe ich angerichtet?' fragte sich Tzunfasoel und starrte die Hand an, welche nun immer lebhafter wurde und sich über den Boden bewegte.
Ein lautes Schlagen riss Tzunfasoel aus seiner schreckerfüllten Starre.
„Meister Nadasadil!“ rief eine Stimme. „Wo steckt Ihr?“
Tzunfasoel bekam einen neuen Schreck. Wie sollte er das den Stadtbewohnern erklären?
Schritte kamen die Stufen des Turmes herauf. Ohne nachzudenken schnappte sich Tzunfasoel die belebte Hand seines Meisters, verließ den Raum und schlich nach oben.
Er hörte, wie die Schritte im Beschörungsraum zum Stehen kamen.
„Bei den Göttern!“ rief eine Stimme. „Seht Euch das an!“
„Was ist denn? Oh nein, wie grauenvoll!“
„Wer hat ihm das angetan? Die Dunkelelfen?“
„Weiß nicht. Wo ist der Priester?“
„Komme ja schon. Ah! Was ist denn hier passiert?“
„Das frage ich Euch, Priester.“
„Wartet, ein oder zwei Zauber werden mir Erkenntnis bringen.“
Tzunfasoel hörte, wie magische Silben gesprochen wurden.
„Nun“, sagte die Stimme des Priesters, „Meister Nadasadil wurde etwa vor einem Tag und einer Stunde ermordet. So alt sind jedenfalls die Leichenteile.“
„Also, bevor die Dunkelelfen uns angriffen.“
Mehr brauchte Tzunfasoel nicht zu hören – er wusste, wohin die Vermutungen und Missverständnisse führen würden. Er schlich hinauf zu den Zinnen des Turmes, wirkte einen Katzenfallzauber von einer Schriftrolle und sprang an der Rückseite des Gebäudes herunter. Ihm gelang die Flucht aus der Stadt, ohne entdeckt zu werden und reiste so schnell ihn seine kurzen Beine trugen ins nächste Dorf, um sich mit Lebensmitteln, Wanderkleidung und weiteren Dingen für eine Reise ungewisser Länge und unbekannten Zieles einzudecken.

Tzunfasoel verließ seine heimatlichen Gefilde rechtzeitig, bevor er dort als Mörder und Verräter gesucht wurde.
Der junge Zwerg wanderte hinaus in die weite Welt, begleitet nur von der untoten Hand seines Meisters. Tzunfasoel hoffte, irgendwann irgendwo eine Möglichkeit zu finden, Meister Nadasadil am ganzen Stück ins Leben zurückzuholen und all die Missverständnisse aufzuklären – selbst wenn das bedeutete, sich intensiver mit nekromantischer Magie befassen zu müssen.


Eine mächtige Verbündete

Nach einiger Zeit erreichte Tzunfasoel die prächtige Stadt Tiefwasser, für deren buntes Leben der am Ende seiner Kräfte befindliche Magierlehrling jedoch keinen Blick hatte. Einen Moment dachte er an seine Familie, den Watertrutz-Clan, der in dieser Stadt seinen Hauptsitz hatte. Dann schüttelte er die aufkeimenden Erinnerungen und Gefühle ab – von denen wollte er keine Hilfe. Er war nicht mehr Rabkil Watertrutz, der Sohn der Händlerfamilie, sondern Tzunfasoel, der Magierlehrling. Er hoffte hier vor allem zwei Dinge zu finden: Eine Möglichkeit sich zu verbergen und eine Möglichkeit, seine Studien wiederaufzunehmen.
Tzunfasoel besuchte als erstes die Bibliothek von Tiefwasser.
„Ich suche Bücher über Nekromantie“, sagte er zu dem Elf, der in der Empfangshalle hinter einem Schalter stand. Der Bibliothekar blickte auf den Zwerg hinab und hob eine Augenbraue.
„Über was, Herr Zwerg?“
„Na was schon. Tod, Leichen die wieder aufstehen – so'n Zeug eben. Herr Elf.“
Der Elf hob nun beide Augenbrauen.
„Bücher über solch schwarze Künste würde ich nie anrühren -“
„Sagt mir einfach, wo ich suchen muss.“
„Bevor Ihr unseren Wissensschatz nutzen könnt, ist eine Gebühr erforderlich – damit wir weiterhin die Mittel haben, unsere Bücher zu pflegen und zu verwalten.“
„Wieviel?“
„Eine Silbermünze für einen Tag oder zehn Silbermünzen für einen Bibliotheksbrief. Damit könnt Ihr dann so oft ihr wollt -“
„Den nehme ich“, sagte Tzunfasoel und kramte all seine Münzen, die ihm noch verblieben waren, zusammen. Er kam ganz knapp auf den Gegenwert für den nötigen Betrag. Der Bibliothekar nahm die Münzen entgegen, ließ sie hinter seinem Schalter verschwinden und wischte sich danach die Hände ab.
„Und nun noch ein paar Formalitäten“, sagte der Elf, nahm ein Blatt leeres Pergament und eine Tintenfeder in die Hand. „Wie lautet Euer Name, Herr Zwerg?“
„Gor'huck“, log Tzunfasoel.
„Wie?“
Tzunfasoel seufzte und buchstabierte. Er musste noch weitere Dinge angeben, die der Bibliothekar notierte. Dann setzte der Elf einen Stempel auf den Brief und überreichte ihn dem Zwerg.
„Möget Ihr Erkenntnis finden in unseren Hallen“, sagte der Bibliothekar feierlich. Dann setzte er hinzu: „Und behandelt unsere Bücher bitte pfleglich, Herr Zwerg.“

Tzunfasoels Leben nahm einen ungesunden Rhythmus an. Tagsüber bettelte er in den Straßen von Tiefwasser und nachts studierte in der Bibliothek. Er verwahrloste immer mehr und achtete bald nicht mehr darauf, mit sauberen Stiefeln und gewaschenen Händen in der Bibliothek zu erscheinen. Er hatte oft genug das Personal in einer Weise angefahren, die es Menschen erschwerte, ihn weiterhin auf seine Unziemlichkeiten hinzuweisen. Der Zwerg wurde bald etwas, über das die Leute leise tuschelten und dem man naserümpfend aus dem Weg ging, wenn er mit seinen Büchern über finstere Künste daherkam.
Tzunfasoels barsche, unfreundliche Art rührte nicht nur daher, dass er ein Zwerg war, sondern begründete sich auch im ausbleibenden Erfolg. Der junge Zwerg, einst ein Magierlehrling gewesen, kam seiner Meinung nach viel zu langsam vorwärts. Nur mühsam ging das Deuten der Schriften voran, von denen es nicht all zu viele in der Bibliothek zu finden gab. Er vermisste seinen Meister, von dem ihm nur noch die Hand geblieben war, die er in seinem Rucksack stets bei sich trug.
Die Auswahl seiner Lektüre, sein verwahrloster Zustand, seine Unfreundlichkeit und der Rucksack, der sich manchmal von selbst bewegte – all das führte schließlich zum Konflikt.
„Entschuldigt, Herr Gor'huck.“
Tzunfasoels schreckte aus seiner Lektüre auf und sah auf. Drei Männer, ein elfischer Bibliothekar und zwei menschliche Wachen standen dort und sahen auf ihn hinab.
„Was gibt's?“ fragte Tzunfasoel und zog seine Augenbrauen noch weiter zusammen.
„Wir müssen Euch bitten, die Bibliothek zu verlassen.“
„Warum?“
„Weil wir es wünschen“, sagte der Bibliothekar und die Wachen kamen einen Schritt näher.
„He! Ich habe Euch zehn verdammte Silbermünzen für diesen blöden Brief in den Rachen geworfen!“
Tzunfasoel wedelte mit dem Bibliotheksbrief dem Elfen vor der Nase herum. Der Bibliothekar zog angewidert die Nase kraus und wich etwas zurück.
„Dieser Brief ist nur so lange gültig, wie Ihr unsere Regeln anerkennt.“
„Und?“
„Und das tut ihr nicht. Ihr seid schmutzig, laut und -“
„Was?!“ schrie Tzunfasoel und sprang vom Stuhl herunter. Nun musste er noch weiter aufsehen, um mit dem Elfen zu sprechen, doch das störte ihn nicht. „Ich bin nicht laut! Und ich bin nicht schmutzig!“
Der Bibliothekar warf einen Seitenblick auf die Bücher, die sich Tzunfasoel zum Lesen ausgesucht hatte. Auf ihren aufgeschlagenen Seiten waren deutlich Fingerabdrücke zu sehen.
Dem Zwerg entging der Blick nicht. Wieder in normaler Lautstärke sagte er: „Die waren schon vorher drauf.“ Er griff ein anderes Buch und zeigte es vor. „Seht! Keine Fingerabdrücke auf diesem.“
„Das Buch hat ja auch schwarze Seiten. Nur weil man Euren Schmutz darauf nicht sieht, heißt das nicht, dass er nicht da ist. Das ist übrigens noch ein Grund unserer Missbilligung – all diese finsteren Bücher mit denen Ihr Euch befasst.“
„Wenn Ihr nicht wollt, dass diese Bücher gelesen werden, warum stellt Ihr sie dann aus?“ gab Tzunfasoel knurrend zurück.
„Und der vierte Punkt betrifft die Regel, dass keine Tiere in die Hallen gebracht werden dürfen.“
„Tiere? Wer erzählt denn so einen Scheiß? Seht Ihr hier vielleicht ein Tier?“
Der Bibliothekar blickte auf Tzunfasoels Rucksack, der am Boden lag. Es war deutlich zu erkennen, dass sich darin etwas bewegte.
„Oh das!“ sagte Tzunfasoel und schluckte. „Äh, das ist gar nichts -“
„Wachen, öffnet den Rucksack des Herrn.“
Eine der Wachen ging in die Knie, um den Rucksack aufzuheben.
Tzunfasoel riss die Augen auf und rief: „Nein!“
Er schnappte sich schnell seinen Rucksack und ging rückwärts Richtung Ausgang.
„Ich wollte sowieso gehen!“ rief er und gestikulierte wild. „Die Bücher in Euren dämlichen Hallen sind erbärmlich!“
„Dann verschwindet und kommt nie wieder“, sagte der Bibliothekar. „Dreckiger Zwerg!“
Letzteres hätte er nicht sagen sollen. Der folgende Zwischenfall war kurz und heftig und endete mit einem Elf, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden hockte und einem Zwerg, der in hohem Bogen aus den Toren der Bibliothek geworfen wurde.
Doch Tzunfasoel lag nicht allein im Dreck – mit ihm lagen sein Stolz und sein Leben darnieder. Keine Chance mehr sein Ziel zu erreichen – keine Chance mehr, überhaupt etwas zu erreichen. Sollte ein Zwerg so enden? Tzunfasoel rappelte sich wieder auf und holte tief Luft, für einen Kriegsschrei – lieber würde er im Kampf den Tod finden, als im Schmutz der Gassen zu kriechen.
Der Schrei verließ seine Lippe jedoch nicht – denn eine Hand legte sich auf seine Schulter.
„Haltet ein, Herr Zwerg“, sagte eine Stimme hinter ihm.
Tzunfasoel sah sich um. Dort stand ein Menschenmann mit angegrautem Haar, gewandet in grauer Robe. In der linken Hand trug er einen dunkelgrauen Stab, der ihm als Stütze oder Waffe dienen mochte. Die rechte Hand ruhte leicht auf der Schulter des Zwergen.
„Zügelt Eure Wut und hört meine Worte.“ Die Stimme klang leise und deutlich, wie von einem Mann, der nicht auf Lautstärke angewiesen war, um sich Gehör zu verschaffen.
Tzunfasoel ließ den aufgestauten Atem entweichen und drehte sich herum. Der graue Menschenmann nahm seine Hand zurück und trat respektvoll einen Schritt zurück.
„Seid Ihr ein Kleriker?“ fragte Tzunfasoel mit zusammengezogenen Augenbrauen und starrte den Fremden an. An der Robe des Mannes waren bei genauerer Betrachtung schwarze Stickereien zu entdecken, Runen und Symbole magischer Natur. Ebenso war der Stab mit einem feinen Netzwerk aus schwarz bemalten Schnitzereien überzogen.
„Ihr seid ein aufmerksamer Beobachter, Herr Zwerg“, sagte der Mann und neigte leicht den Kopf.
„Ach was. Wer sonst mischt sich ungebeten in einen Streit ein und spricht mit gewandter Zunge Worte die dem Ohr gefallen. Verschwendet Eure Zeit nicht – ich habe kein Interesse an Eurer Kirche.“
Der Ausdruck des Mannes wurde ernst.
„Ihr werdet Interesse haben. Hört mein Angebot – bei einem heißen Mahl und kräftigen Bier. Beiderlei soll mein Geschenk an Euch sei, einerlei wie Ihr Euch entscheidet.“
„Tja, wenn Ihr unbedingt Geld verschwenden wollt.“

In einer Taverne besorgte der fremde Kleriker einen Platz, wo sie sich ungestört unterhalten konnten. Als das Essen auf den Tisch kam, zögerte der Zwerg keine Sekunde und griff beherzt zu.
„Mein Name ist Lun Folor“, stellte sich der graue Menschenmann vor.
„Gor'huck ist meiner“, sagte Tzunfasoel schmatzend. „Und was kann mir Eure Kirche bieten? Es spricht nicht für Euch, dass Ihr Bettler von der Straße auflest, um ihnen Angebote zu machen.“
„Ihr seid kein Bettler. Eurer seltsames Betragen in der Bibliothek hat sich herumgesprochen -“
„Ja, Kleriker bekommen neuen Tratsch als Erstes mit“, sagte Tzunfasoel und rülpste.
„- ebenso Euer Mangel an Manieren.“
„Kommt auf den Punkt.“
„Meine Herrin bietet Euch das, was Ihr sucht.“
„Und das wäre?“
„Magie und Tod.“
Tzunfasoels Unterkiefer stoppte seine Kaubewegung.
„Tod? Ihr bietet mir den Tod an?“
„Wenn Ihr der Hilfe meiner Herrin würdig seid, dann kommt Ihr mit ein wenig Überlegung darauf, was ich meine.“
„Und wer ist diese Herrin überhaupt?“
„Wee Jas.“
Tzunfasoel kniff die Augen zusammen und ließ die Fleischkeule sinken.
„Jetzt verstehe ich.“
„Ich weiß zwar nicht, was genau Eure Suche ist, Herr Zwerg, aber der Weg, den Ihr so stur einzuschlagen versucht, ist ein Weg, den niemand besser kennt, als meine Herrin.“
„Ich soll also doch in Eure Kirche eintreten.“
„Ja.“
„Was hat Eure Kirche davon?“
„Beliebt Ihr zu scherzen? Jemand, der bereit ist, sein Leben nur einer Sache zu widmen und der mit solcher Strebsamkeit wie Ihr zu Werke geht, ist der beste Kandidat für jede Kirche. Natürlich geht Ihr damit strenge Verpflichtungen ein – aber die Ausbildung wird Euch zu Gute kommen. Niemand auf diesem Kontinent verfügt über mehr Wissen über die nekromantische Magie, als unsere Kirche.“
„Erzählt mir mehr.“

Wee Jas – die strenge Richterin der Ordnung, die graue Begleiterin der Toten und die Meisterin im Schatten Mystras. Welche Macht könnte eine bessere Verbündete sein, für einen rechtschaffenen Zwerg, der sich mit der kalten Macht des Untodes zu befassen gedenkt, ohne seine Seele zu verlieren?
Tzunfasoel trat sein nächstes Lehrjahr an – jedoch nicht als Magier, sondern als ein Diener der Göttin Wee Jas. Er unterschrieb den umfangreichen Vertrag und ordnete sich in der strengen Hierarchie ein. Ihm war klar geworden, dass arkane Magie allein seinen Meister nicht lebendig werden lassen konnte. Dazu war göttliche Unterstützung nötig – auch wenn es den Bund mit einer Todesgöttin wie Wee Jas bedeutete.

'Ich werde die Sache ins Reine bringen', dachte Tzunfasoel. 'Und nicht einmal der Tod kann mich daran hindern.'