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Die Welt zählt laut bis 10



Geschrieben von:   korridor


Anmerkungen des Autors:
Den Titel verdanken wir Symbio Joe.





Der Autor hat folgende Stimmungen f�r sein Werk angegeben:
depressiv
einsam
verwirrt



Es ist der 20. Dezember.
Draussen ist es, nett gesagt, ein ziemliches Scheisswetter. In zwei Minuten beginnt ein neuer Tag, aber an Schlaf kann ist kaum zu denken.
Es gibt noch so viel zu tun, Taschen müssen gepackt werden, Blumen gegossen und Menschen angerufen werden, ja selbst um diese Zeit. Die Welt schläft weniger, das ist schon eine ganze Weile so.
Der Zug fährt um 4 Uhr 22 los, in Richtung Berlin. Steigt man 4 oder 5 Mal um, kommt man dort sogar irgendwann (bei pünktlichen Zügen ist "irgendwann" 8 Uhr 43) an und kann vom Bahnhof Zoo aus mit der Linie 145 bis zur Kastanienallee fahren. Dort steht, an der Ecke Spandauerdamm/Eschenallee ein hoher Backsteinturm mit einem Bronzedach, dass eine wunderschöne grüne Patina angesetzt hat.Welche Funktion er einmal hatte ist nicht bekannt, heute steht er leer, wie so viele Gebäude in diesem kalten Land. Doch anders als die meisten leeren Häuser umgibt ihn nicht die Atmosphäre von Armut, Verfall und kaltem Schauer, sondern eher ein "Ruhe in Frieden" oder fast ein Dornröschenschlaf. Zur Linken des Märchenturms sitzt ein grauweißer Kasten, das Charite Benjamin Franklin, eine psychiatrische Heilanstalt. Ich bin nicht hierher gekommen, um den ruhenden Riesen in mich aufzunehmen, ich bin hier um mich in dem furchteinflösendem Ort daneben einzuweisen.

Es ist der 21. Dezember.
Ich stehe vor dem Krankenhauskomplex und zögere. Dort hineinzugehen bedeutet einen großen Schritt, doch in welche Richtung? Es gibt kein zurück mehr, oder wahrscheinlich doch, aber ich kenne mich selbst so gut, um gar nicht erst eine innere Diskussion darüber anzufangen. Einmal in den Kopf gesetzt, werden Wege ohne Rücksicht auf Konsequenzen begangen, Dinge gesagt, Sachen gemacht.
Der Pförtner ist grauhaarig und schrumpelig, das ist Voraussetzung für diesen Job. Ich frage ihn nach Station 5, Borderline.
Im zweiten Stock ist die Anmeldung, eine Schwester erwartet mich schon. Sie stellt sich als mein Coach vor. Es ist das einzige Mal, dass ich sie zu Gesicht bekommen werde. Wir haben ein kurzes Gespräch über die Regeln hier, die Essenszeiten, das Drogenverbot auf Station und so weiter. Sie nimmt einen Urintest, dann einen Bluttest von mir, wir wissen beide, dass die Ergebnisse positiv sein werden.
Ich kann mir die ganzen Regeln nicht merken, hoffentlich mache ich nichts falsch. Noch mehr Regeln, was soll das? Sie hören sich zum größten Teil unsinnig an. Die Unsicherheit, die Angst einen schrecklichen Fehler zu begehen ist unerträglich, doch irgendwann siegt der nach Schlaf schreiende Körper. Ich träume von der Klinik, in der Rolle eines unsichtbaren Beobachters. Sehe, wie meine Eltern hierher kommen. Auch sie lassen sich einweisen. Aber lange schlafe ich nicht.
Die Therapie besteht aus Schlagwörtern, die immer und immer wiederholt werden. Radikale Akzeptanz, Skills, emotionale Erpessung, Soziale Kompetenz, behaviorale Dialektik. Leere Hüllen, sie machen keinen Sinn.

Es ist der 22. Dezember.
Noch nie und nirgends habe ich derart widerwärtiges Essen gesehen. Farblos wie das Gebäude und ohne Geschmack, bis auf die Erinnerung an Desinfektionsmittel, doch die kann auch direkt aus der Luft stammen. Hier riecht es überall so. Das Essen wird im Aufenthaltsraum ausgegeben, der von der Anmeldung aus eingesehen werden kann. Ständige Beobachtung. Sie haben Angst, dass man versuchen könnte, sich mit den Brotmessern die Pulsadern aufzuschneiden. Doch die sind derart stumpf, dass ich vermute, man hätte mit den Teelöffeln vermutlich mehr Erfolg.. Nach ein paar Bissen muss ich den Teller angewidert wegschieben. Wenigstens Kaffee gibt es in unbegrenzten Mengen, doch das kann daran liegen, dass er kaum Koffein enthält.
Die anderen Frauen sitzen stumm da. Es ist wie Busfahren. Menschen auf engstem Raum versuchen angestrengt die Existenz der jeweilig anderen zu ignorieren. Nur das Geschirrklappern und die Klimaanlage sind zu hören. Ich muss raus hier. Doch da passiert etwas. Ein Teller fällt einer Pflegerin aus der Hand und nach einem kurzen Zusammenzucken, lachen die Patientinnen über ihr Missgeschick. Es klingt wie ein erleichtertes Seufzen, ein Zeichen. Auf einmal ist der Bus ein Klassenzimmer geworden. Man darf scherzen. Brechendes Eis. Gestern versuchte ich noch den Blicken der anderen Patientinnen (es gibt nur einen Mann auf der Station) zu entgehen.Heute stelle ich endlich fest; sie beissen nicht, die Pfleger schon eher.
Alles hier geht nur zu bestimmten Zeiten, Sport, Musik, Kunst, Essen, Therapiegruppen, Visite, alles hat seine feste Zeit, und Bettruhe ist um 11. Kann man dann nicht schlafen, soll man lesen. Ich bin zu konfus um zu lesen, und es ist viel interessanter sich mit den anderen zu unterhalten. Die Frauen zwischen 18 und 40 sehen auf den ersten Blick nicht krank aus. Sie erzählen ihre Leben und es hört sich an wie aus Film Noir Dramen. So vieles kommt mir bekannt vor und es macht mich traurig, dass sie so leiden mussten und immernoch müssen. Anderseits bin ich sehr erleichtert, denn ich erfahre zum ersten Mal, dass ich mit meinen verwirrten Gedanken, Gefühlen und Handlungen nicht alleine dastehe. Es gibt noch Andere wie mich, es gibt so verdammt viele Andere.

Es ist der 23. Dezember.
Die beiden letzten Tage waren zäh und Ewigkeiten, denn das einzige was ich tun konnte, war auf einen Fragebogen warten. Heute bekomme ich ihn endlich, dazu ein Arztgespräch und ein Interview. Alles standartisiert, alles akurat, alles schön allgemein. Dieses ekelhafte Gefühl wildfremden Menschen seine Gedanken zu offenbaren, und zu hoffen, dass sie verstehen, dass sie nicht missdeuten. Man will sich klar ausdrücken, aber wie erklärt man etwas, dass man selbst nicht versteht. Sie sagen, ich solle Geduld haben, ich solle ihrer Kompetenz vertrauen, solle mich ihnen anvertrauen. Aber welche Legitimation haben sie, mehr über mich zu wissen, als ich selbst? Vertrauen ist wohl eine ganz wichtige Sache hier. Auch die anderen versuchen es. Aber es fühlt sich gefakt an. Es ist nur so echt, wie es unter den Laborbedingungen eines Krankenhauses eben sein kann. Das ist nicht das richtige Leben.
Bin ich Massenprodukt? Ich rede viel mit den Frauen, sie fühlen genauso. Wieder Zweifel, ob das der richtige Ort für mich ist. Die Geschichten gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Sandra, die seit 29 Jahren abwechselnd bulemisch, tabletten- oder alkoholabhängig ist. Caro, deren Vater sie als Kind an den Füßen aus einem Fenster im 11. Stock hing. Tanja, die immer wieder neue Wege findet, dem Essen zu entkommen, indem sie es versteckt oder ihr Gewicht durch Wassertrinken fälscht. Maria, die von ihrer gewalttätigen Mutter seelisch abhängig ist. Miriam, die immerzu lügt. Anne, deren Vater sie tagelang im Keller einsperrte, während die Mutter tatenlos zusah. Annika, die ihre Doktorarbeit über die eigene Krankheit schrieb, was sie natürlich nicht der Jury verraten konnte. Susanne, die seit 16 Jahren fast nur in psychiatrischen Kliniken lebt, von einer Diagnose zur nächsten geschickt. Tom, der seine Unsicherheit hinter verletztendem Sarkasmus versteckt. Und ich, ein Geist gefangen in einer Wüste aus Niedergeschlagenheit und Verwirrung. So viele zerschnitte Arme, so viele ängstliche Seelen.

Es ist der 24. Dezember.
Es ist Weihnachten und so entgültig bedeutungslos. Trotzdem haben wir geschmückt und Kuchen gekauft. Aus Rebellion? Maria hat für jeden Geschenke besorgt. Ich bekomme Anti-Stress Duschgel. Ich bin so froh, dass die Menschen hier wenigstens einen guten Sinn für Humor haben, denn Stress ist das letzte, was hierher kommt. Das Nichts-tun macht mich wahnsinnig. Ich fülle den Fragebogen aus, von dem man mir sagte, dass er wichtig für die Diagnose sei. 80 Seiten, 2100 Fragen wie zb. Ob man öfters suizidale Gedanken hat, wie es so mit der sexuellen Aktivität ausschaut, ob man an Gott glaubt, sich für schmutzig hält, Freude daran hat, Blumen mit einem Stock zu köpfen, ein Missbrauchserlebnis hinter sich hat, oder oft gedankenverloren ins Leere starrt und vergisst, wo man ist. Auch 2100 Kreuze sind irgendwann gesetzt. Ich laufe ein bisschen durch die Klinik, doch als ein Mann von der geschlossenen Abteilung versucht, Tanja anzugreifen, kehren wir zurück zur Station. Zuviel grau, zuviel Nüchternheit. Im Aufzug bekomme ich kurz das Gefühl, dass alle Luft aus dem Gebäude gesaugt wird und ich ersticken muss. Die Tür öffnet sich, eine geblümte Putzfrau steht davor. Sie haben alle Angst vor uns. Das mit der Luft war wohl nur Einbildung.

Es ist der 25. Dezember.
Das Frühstück ist wieder einmal Nikotin und Kaffee. Nichts passiert hier, alles ist ein Standbild und unerträglich prägt es sich in den angespannt wartenden Kopf ein. Eine Sekunde lang glaube ich noch, dass ich hier Heilung finden könnte, in der nächsten beschließe ich, zu gehen. Einmal in den Kopf gesetzt, werden Wege ohne Rücksicht auf Konsequenzen begangen, Dinge gesagt, Sachen gemacht.
Es dauert kaum mehr als zwei Minuten, bis der Rucksack gepackt ist. Den Fragebogen nehme ich mit. Aber ich habe den weis(s)en Menschen versprochen, Bescheid zu geben, falls ich aufgebe. Also warte ich bis zur vier Uhr Visite. Der Arzt ist nicht enttäuscht, eher gleichgültig, ein bisschen beleidigt höchstens, weil ich seine Methoden nicht annehme. Es fällt mir schwer, mich von den Frauen zu verabschieden. Aber ich glaube, dass sie mich übermorgen schon vergessen haben werden. Radikale Akzeptanz ist schließlich Teil der Therapie.
War alles umsonst? War das meine letzte Chance? Ich dränge die Gedanken von mir. Zunächst stellt sich die Frage, wohin nun? Ich fühle mich so verwirrt, als wäre ich gerade aus einer Anstalt entflohen, zittere, den Berlin ist kalt und ich komm mir so verdammt allein vor. Tom ist inzwischen entlassen worden. Ich schlafe eine Nacht bei ihm, für circa zwei Stunden. Dann kommt die Realität zurück und ich muss mich entscheiden.

Es ist der 26. Dezember.
Da meine Mutter das Ticket zahlt, muss ich wohl zu ihr fahren. Die Zugfahrt ist die Hölle. Die Gedanken rasen, aber es herrscht Kreisverkehr ohne Abfahrten. Dort wo ich ankommen werde, weiss nur Arthur, von wo ich kam. Früher hatte ich Hoffnung, naive Illusionen und kindische Träumen, in denen ein Held in schimmernder Rüstung kam, um mir zu versichern, dass alles gut würde. Heute habe ich Drogen und ich glaube sie haben aufgehört zu wirken. Die Antidepressiva habe ich ungefähr drei Tage abgesetzt, bevor ich nach Berlin aufbrach. Inzwischen dürften sie meinen Körper komplett verlassen haben. Langsam gehen mir die Optionen aus. Wo sind meine Wunder? Der Tag ist fast zu Ende, als ich bei meiner Mutter eintreffe. Sie schaut mich nur an. Ich weiss, es ist bestimmt nicht wahr, aber auch in ihren Augen glaube ich, Angst zu sehen. Vor mir? Um mich? Es ist so gemein, wenn man Menschen, die einem Gutes wollen, nur Leid bringt. Ich fahre zu Arthur, das ist ein Dorf weiter. Auch er sieht besorgt aus, vielleicht projeziere ich auch bloss. Ich mache mir auch Sorgen, die Zukunft ist nicht mal mehr Nebel, nicht einmal sternenlose Nacht. Ich habe sosehr Angst vor ihr, dass sie nicht gar nicht da ist.

Es ist der 27. Dezember.
Ich rede mit ein paar ehemals guten Freunden und ein paar der dutzenden von Exfreunden, die inzwischen alle zu Bekannten verblichen sind, versuche mich im Haus nützlich zu machen, doch immer wieder ertappe ich mich, wie ich darüber nachdenke, wie es wohl weitergehen soll. Ich will fliehen, weit weg. Ich habe das immer getan, bin abgehauen, umgezogen, habe meinen Freundekreis komplett gewechselt, sogar mich selbst in gewisser Hinsicht. Bloß war das alles außen. Meine Haare sind inzwischen wieder nachgewachsen, die Narben nur noch dünne Striche, Kilos kamen und gingen, Interessen wechselten von Kunst zu Politik über Musik und Ethnobotanik und Fotografie. Inzwischen ist es von allem ein bisschen. Innen ist immer noch der kleine graue Klumpen "ich". Vor sich selbst kann man sich nicht verstecken. Lass mich neu anfangen, schlage ich meinem aufgeweichten Spiegelbild abends wieder einmal vor. Doch es verschwimmt, ich weine. Wie seltsam..

Es ist der 28. Dezember.
Ein Onkel ruft an, meine Großmutter ist im Krankenhaus. Zu meinem Erschrecken stelle ich fest, dass ein Teil von mir erleichtert ist. Ich muss nun endlich nicht mehr der Mittelpunkt meiner Kreisverkehrgedanken sein. Zunächst dürfen wir nicht zu ihr, die Ärzte werkeln an ihr herum. Ich stehe in der Tür, der Türrahmen ist wie ein Zuhause, man kann sich auf der Schwelle verstecken. Beinahe unsichtbar fühle ich wieder Tränen, doch diesmal wische ich sie schnell weg als meine Großmutter mich mit verständnislosem, fast panischem Gesicht anschaut.
Sie sieht blass aus, hat Fieber, kann nicht klar denken. Wir stehen zu dritt um ihr Bett, Mutter, ich und meine kleine, ahnungslose Schwester. Sorge erfüllt das Krankenzimmer. In mir implodiert es, als ich versuche, meinen Ekel vor einem weiteren Krankenhaus zu verdrängen. 82 Jahre Leben liegen schwer atmend und verstört in einem weißen Bett. 82 Jahre, wie kann ein Mensch das aushalten? Um dann eine höhere Macht oder den Zufall darüber entscheiden zu lassen, wann man gehen darf?
Will ich das wirklich durchziehen? Sie ist benebelt, versteht kaum, was um sie herum passiert. Doch sie hält sich am Leben fest, an uns. Die ganze Zeit will sie umarmt werden, etwas spüren, nicht allein gelassen werden. Ich schaue in ihre Augen, die sie an mich vererbt hat. Diese Augen, fiebrig und verschrocken, zeigen etwas, was kein Krankenhaus mit unfähigen Schwestern und eingebildeten Ärzten vernichten kann; Würde. Meine Bewunderung gilt dieser Frau, die echte Hindernisse im Leben bewältigen musste, immer gekämpft hat und genug Liebe für all ihre Anvertrauten hatte. Endlich schläft sie in meinen Armen ein, ich spüre ihren Atem.

Es ist der 29. Dezember.
Ich kehre in mein eigenes Zuhause zurück. Meine Mitbewohner stellen nicht viele Fragen. Es scheint schon vergessen, dass ich eigentlich noch eine Woche fort sein wollte. Mir ganz Recht. Inzwischen geht es einfach alles weiter. Das Wetter ist immer noch schlecht, es ist kalt und ich bin allein. Das Zimmer blickt mich erwartungsvoll an. Nein, ich habe mich nicht geändert, ich bin gescheitert.
Ich kann nicht einmal mehr in die Scherbe sehen, die mir als Spiegel dient, deshalb hänge ich sie ab und ritze mir dabei den Daumen. Das Blut grinst. Da bin ich wieder. Du musst es nicht mal mit Absicht machen. Der Tag vergeht pathetisch, ich kann mich nicht einmal auf ein Buch konzentrieren, etwas essen, geschweige denn irgendwen sehen. Wie in Trance liege ich auf dem Hochbett, starre auf die Decke über mir, sehe die hellgraue Sonne am Fenster wandern. Ich warte auf das Dunkel, aber das ist allein meine Schuld.
Vorhin habe ich mir von einer Freundin Tarotkarten legen lassen. Fürs neue Jahr, zweitrangig ob man daran glaubt oder nicht, niemand will Tod, Teufel, Mond oder Turm als Jahreskarte. Besonders nicht den Turm. Ich hab den Turm. Naja, was solls. Wenigstens bedeutet das, nach Aussage des Stückes Papier, dass etwas unerwartetes (schreckliches) passieren wird. Ich mag Überraschungen. Überhaupt scheint das ganze Deck der Meinung zu sein, ich bräuchte mehr Abwechslung nächsten Jahr. Ich überfliege in Gedanken die letzten 12 Monate und kann den Karten absolut nicht zustimmen.
Nachts läuft meine "Heuldoch"Playlist auf repeat. Aber die Tränen sind mir ausgegangen. Ich gehe nicht schlafen, erwache morgens dennoch. Vor dem Computer. Irgendwer hat gestern eine Menge Text geschrieben. Der Cursor blinkt wie ein schwanzwedelnder Hund, der auf eine Belohnung wartet. Aber es ist alles Müll, landet im Papierkorb. Strg-Alt-Entf.

Es ist der 30. Dezember.
Meine WG hat beschlossen, Silvester zu feiern. Ich laufe ein bisschen durch die Kleinstadt, um Utensilien einzuholen. Man sieht Menschen nicht an, ob sie verrückt sind. Das hab ich schon in der Klinik bemerkt; es könnten auch Angestellte sein, oder Besucher. Nur die Plüschpantoffeln sprechen eine deutliche Sprache. Ich schaue mir die Verkäufer und die Passanten genau an, kann aber nichts ungewöhnliches an ihnen erkennen. Irgendwie sehen sie alle etwas idiotisch aus. Mir kann man es, in logischer Schlussfolgerung, auch nicht ansehen, also ist das mulmige Gefühl im Bauch nur ganz gewöhnliche Paranoia.
Ich lasse mir Zeit, was soll ich auch zuhause? Als es zu kalt wird, gehe ich kurz in der Uni ins Netz. Hannes hat geschrieben, ihm geht es gut. Mir auch, schreibe ich kurz zurück, erzähle ihm von tollen Silvesterparties, von vielen Freunden. Hannes ist ein guter Freund. Man jammert nicht vor guten Freunden. Ausserdem; wie sollte ich auch die letzten acht Tage erklären?Janine und Timo, meine Mitbewohner, und ich putzen die Wohnung blitzeblank Es folgen ritualisierte Handlungen, wie Sekt kalt stellen, Bierkästen schleppen und Luftschlangen und Lichterketten verteilen. Kohlenhydratiges fettiges Kartoffelzeug landet in kleinen Schüsseln, der DJ kriegt einen Tisch vorbereitet, die Gäste eine Tanzfläche. Scheint Leben zu sein. Ich schaue mir dabei zu, die Realität scheint so unecht zu sein.

Es ist der 31.Dezember.
Alles fühlt sich so.. normal an. Vielleicht war das ganze Jahr ein Traum, vielleicht das Leben? Ist Mitternacht alles vorbei? Werde ich dann ein zerbrochener Kürbis? Viel zu viele Drogen folgen auf die tagelange Nüchternheit, belanglose Gespräche, pseudosoziale Interaktionen. Ich versuche mich rauszuhalten, mehr zu hören als zu reden. Skills anwenden, achtsam sein. Bloss nicht an die letzten 10 Tage denken. Also ist Canon meine Begleitung für heute abend. Ich schieße Menschen beim Feiern ab, manchmal mit Blitz, ganz kurz und schmerzhaft für die Augen, manchmal lang, denn Feuerwerk sieht schöner aus, wenn es diese weichen Schlieren hat. Am Anfang mache ich noch den Film voll, der mich schon in Berlin begleitet hat, doch als um 12 alle nach draussen gehen und sich anschauen wie Metall mit Schwarzpulver reagiert, muss ich schon die Kartusche wechseln. Kodak 400 CN. Sie frieren, prosten, und lachen. Ein paar haben Wunderkerzen wie Sterne in den Händen. Es dauert nur 10 Minuten bis Umarmungen, Frohe Wünsche und Wunderkerzen zu Ende gehen. Jetzt geht das Feiern los. Eine schöne Frau und ich sind die letzten, die noch wach sind.

Es ist der 1. Januar.
Um 11 Uhr morgens liegt die Schönen neben mir im Bett und küsst mich.
Ich weiss, dass morgen nichts anders sein wird, und ich bin zu nüchtern um mir etwas anderes einzubilden.