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Autor: flegeton

Erstellt am: 09.01.2003

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Die Wahrsagerin



Geschrieben von:   flegeton


Ich verstreute den verdammten Kartenstapel im ganzen Wohnwagen, und wusste, bevor die letzte Karte zu Boden segelte, dass es mir leid tun würde, sobald sich die Wut ein wenig gelegt hätte.
Manchmal hasste ich sie richtig, diese Pappstücke mit den Zahlen und Bildchen! Manchmal machten sie mich rasend! Doch ich wurde sie einfach nicht los.
Ich legte Karten, schon seit ich denken konnte. Sobald mir ein Spiel zwischen die Finger kam, war ich wie ausgewechselt. Das sagte nicht nur ich, jeder, der es einmal beobachtet hatte, war dieser Meinung.
Ich hatte noch nie im Leben ein Kartenspiel verloren. Ehrlich nicht! Das ist kein Witz! Sobald meine Finger eine Karte berührten schien mir die Fähigkeit, Gedanken zu lesen geschenkt zu sein.
Nein, "geschenkt" ist das falsche Wort. Ich besaß die Fähigkeit nicht, ich wurde von ihr besessen!
Ich konnte nicht verlieren! So sehr ich mich auch bemühte. Meine Hand legte die Karten allein. Mein Mund nannte Spielaktionen, die mir widerstrebten, und doch unweigerlich zum Sieg führten.
Ich spielte deshalb so gut wie nicht mehr. Dafür hatte ich die Kunst der Weissagung erlernt.
Manchmal machte sie mir wirklich Angst: Ich hörte mich Sachen sagen, die ich oft allzu gerne verschwiegen hätte. Und das Schlimmste war, dass meine Voraussagen immer eintraten. Jedes Mal!
Vielleicht hatte gerade meine ständige Angst vor mir selbst, oder vor dieser Macht, die mich überkam, mich daran gehindert, eine ordentliche Ausbildung zu machen. Jedenfalls war ich letztendlich auf diesem Jahrmarkt gelandet, natürlich als Wahrsagerin.
Die Leute besuchten mich, um ihre Zukunft zu erfahren. Ich nannte sie ihnen. Und häufig kam es vor, dass ich Sachen sagte, die ich nicht sagen wollte.
ich prophezeite Glück genau wie Unglück, es kam fast täglich vor, dass ein Kunde unter Tränen der Verzweiflung oder Angst aus meinem Zelt stürzte. Ich fühlte mich schuldig. Ich fühlte mich grundsätzlich immer schuldig. Es war, als sei meine Voraussage der Grund für das Eintreten des schlimmsten Unglücks.
Menschen kamen zu mir; sei es aus Sorge oder einfach aus Jux und Dollerei. Ich legte die Karten. Wenn sie mein Zelt verließen, waren sie gezeichnet. Alle. Ausnahmslos.
Natürlich glaubten mir zuerst die wenigsten, doch sie kamen immer wieder, sobald sie meine Prophezeiungen eingetreten sahen.
An jenem Tage war es wieder passiert: Eine langjährige Stammkundin, die ich vor allem als Person sehr schätzte, fragte mich, wie es ihr in den ersten Arbeitstagen im neuen Job wohl ergehen würde. Sie hatte sich in den blauen Besuchersessel gesetzt und wartete, während ich den abgegriffenen Kartenstapel mischte.
Ich spürte, dass etwas nicht stimmte, so wenig stimmte, dass es mir im Innern kalt wurde. Ich zog das Mischen deshalb so lange hin, weil ich hoffte, dass das Gefühl sich verflüchtigte.
Ich mochte meine Besucherin zu sehr, als dass ich ihr eine niederschmetternde Prophezeiung zumuten wollte.
Dann begannen meine Hände zu legen. Eine Karte nach vorne, eine rechts, eine links, und jeweils eine darüber, immer weiter, bis ich den restlichen Stapel zur Seite legen konnte. Ich deckte auf. In einer Reihenfolge, die nur meine Hände kannten.
"Ich sehe...", sagte ich. "Ich sehe..." . So tat ich das immer. So hatte ich es gelernt. Doch ehe ich mich versah, hörte ich mich Sachen sagen, die mich selbst erschlugen. Ein Todesfall. Der Tod meiner Kundin. Keine Ausweichmöglichkeit, keine Bedingungen!
Ein vertrauter Mensch würde Schuld daran sein, so las meine Stimme aus den Karten. Eine Vertrauensperson.
Ich sah, wie meine Kundin erblasste, zu zittern anfing.
Meine Stimme sprach weiter. Sie sprach von den Qualen der letzten Minuten, von der Wut und vom Hass, der Hilflosigkeit. Dann wurde sie leiser. Daran merkte ich, dass die Prophezeiung zu Ende war, und ich wieder zu mir zurück fand.
Meine Kundin war kalkweiß im Gesicht, und als ich mich wieder unter Kontrolle hatte, stürzte ich zu ihr, um ihr beizustehen.
Plötzlich gab sie ein ächzendes Geräusch von sich und verdrehte die Augen nach hinten.
Ich rief ihren Namen. Mehrmals. Immer wieder. Sie sackte bewußtlos in den Sessel. Ich war völlig orientierungslos, riss dennoch die Zeltplane weg und schrie, jemand solle einen Arzt holen.
Sie schlug ihre Augen auf und sah eine unbändige Wut in ihren flackernden Pupillen. Ich half ihr, sich auf den Boden zu legen, bis der Arzt eintraf. Ihre Finger krampften sich in meinen Unterarm. Auf einmal erschlaffte ihr Griff, und da war mir klar, dass die Prophezeiung eingetreten war.
Der Arzt kam und konnte nur noch den Tod feststellen.
Ich hatte Schuld an ihrem Tod. Voll und ganz: Sie war durch den Schrecken der Weissagung gestorben!
Die Prophezeihung hatte sich selbst erfüllt. Später stand ich in meinem Wohnwagen und wirbelte Karten durch die Gegend, verfluchte mich selbst und die Wahrsagerei, doch schon bevor die letzte Karte fiel war mir klar, dass ich schon am folgenden Tag die nähste Prophezeihung aussprechen würde.