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Autor: Franklin M. Bekker

Erstellt am: 29.04.2004

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Die Nike



Geschrieben von:   Franklin M. Bekker


Die Kunststunde zog sich einmal mehr dahin. Ein Formel 1 Rennen konnte nicht eintöniger sein. Stefan schob sich die Haare hinter die Ohren. Er wollte, dass alles, was gesagt wurde und dem es gelang in sein Hirn vorzudringen, möglichst gut wieder hinaus konnte. Seine Mitschüler lagen auf ihren Bänken oder waren in die Stühle gesunken. Sie saßen da, wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Die Stimme der Lehrerin hallte in dem hohen Raum wider, ohne in den Köpfen ihrer Schüler Anklang zu finden. Es interessierte sie nichts, was mit Licht, Schatten, Präsentation oder gar Faltenwürfen bei behauenen Steinen zu tun hatte. Seit fünft Wochen wurden sie von der Lehrerin mit Begriffen, wie konkave und konvexe Partien, raumoffen, raumhaltig, Hohlformen, Durchbrüche, raumgreifend, raumweisend, optisches Gewicht, Raumvolumen, Hinterschneidung und raumfüllendes Loch beworfen. Was sie verstanden war Feuerlöscher. Sie fixierten den Feuerlöscher, der rechts neben der Tafel angebracht war, und begehrten ihn zu nehmen und die Lehrerin damit zum Schweigen zu bringen. Schon längst war man von dem Gedanken abgekommen sie damit einzuseifen. Vielmehr war der aktuelle Plan ihr den Feuerlöscher in die Gusche zu stopfen damit endlich Ruhe wäre. Zu welchen Ideen man noch kommen würde stand in den Sternen, aber weitaus banalere Methoden wurden durchaus in Erwägung gezogen. Auf irgendeine mystische Art und Weise, musste sich der Lehrerin der sich ihr entgegen walzende Hass langsam als wahrnehmbar darstellen. Vielleicht stand der Tot, von den Schülern ungesehen, schon in einer Ecke des Klassenraumes. Kurzerhand entschloss sich die Lehrerin den Schülern zu geben, wonach sie verlangten. "Schlagt Seite 34 auf.", sagte sie. "Zeichnet die Nike nach." Die Stimmung des Kurses entspannte sich hörbar. Ein allgemeines, erleichtertes Seufzen füllte kurz den Raum. Mit ihm war alle Anspannung entwichen.
Stefan gelang es nicht gleich die Plastik auf dem Bild vollkommen zu erfassen. Obgleich sie ihn sofort faszinierte, war ihm dennoch ihr ganzes Wesen fremd. Was sollte sie sein? Was hatte sie zu bedeuten? Er war zu Beginn nicht in der Lage sie zu verstehen. Vor seinem geistigen Auge bildete sich eine verworrene Komplexität aus Rittern, Drachen und Feen. Ganze Irrfahrten, griechische Familiendramen und Fantasy Romane, spielten sich in seinem Kopf ab. Wo war der Punkt? Was verband diese miteinander? Odysseus kehrt zurück. Parzival bringt den heiligen Gral heim. Theseus findet mit Hilfe des Fadens der Ariadne aus dem Labyrinth heraus. Richard Löwenherz kehrt zurück und nimmt seinen rechtmäßigen Platz als König ein. Captain Hook wird vom Krokodil verschluckt. Und das Imperium ist zerstört. Es werden rauschende Feste gefeiert. In Griechenland, in Camelot, auf Kreta, in Nottingham, in Nimmerland und auf Coruscant. Stefan begann zu verstehen. Die Nike sie war der Inbegriff des Sieges. Sie barg alles, was es ausmachte, nach einem überstandenen Abenteuer mit Leichtigkeit durch das neu geschenkte Leben zu schweben. Der Preis des Sieges! Dieses war, was Stefan gesucht hatte. Die Intention des Künstlers. Und mit dieser wunderschönen Idee im Kopf konnte er nun zu zeichnen beginnen.
Dadurch, dass er genau wusste, womit er es zu tun hatte gelang es ihm schließlich auch spielend die Nike zu zeichnen. Jeder Strich brachte sein Werk der ursprünglichen, heiligen Idee der Nike näher. Mit aller größtem Feingefühl bewegte er den Stift. Vorsichtig, aber doch sicher, führte er seine Hand, denn seiner Nike, seiner Göttin sollte nichts zustoßen. Es erotisierte ihn, wie sich Strich um Strich aneinander fügte. Sie war ihm gewogen. Das spürte er. Wie sie sich ihm anbot! So einfach war ihm noch nie eine Zeichnung von der Hand gegangen. Ja sie liebte ihn wider. Die Sanftheit ihres Flügels schwappte auf ihn über. Die leichte Geschwungenheit, die feinen Federn dessen! Perfektion bis ins Detail! Er verliebte sich in das Wesen dieser Gottheit und geriet während des Zeichnens in Ekstase. Aufmerksam, beinahe wolllüstern beschaute er mit vollkommener Ergiebigkeit jeden Zug an ihr.
Er beneidete ihren faltigen Rock, der sacht ihre nackten Beine umspülte und frei von Aufdringlichkeit sich an sie schmiegte. Stefan wäre gern dieser Rock gewesen. Der Stift glitt ihren makellosen Körper hinauf. Sie war nicht die Dünnste. Ihre Oberschenkel nicht ideal. Trotzdem! Sie war großartig! Denn auch mit ihren Makeln strahlte die Nike vollkommene Anmutigkeit aus. Schweiß rann überall an Stefan herunter. Jede einzelne Falte ihres Nachthemdes verzückte ihn, ließ weitere Schweißausbrüche sich über ihn ergießen. Wie es kaum ihren Körper verdeckte. Verzaubernd diese Zurückhaltung ihres Gewandes. Es maß sich nicht an, sie, die wundervolle Göttin, in ihrem Glanz, durch seine Anwesenheit, zu mattieren. Vorsichtig stieg der Stift zum Bauchnabel empor. Grenzenlose Perfektion! Stefan erbebte innerlich. Seine Hand aber blieb ruhig. Zu atemberaubend war sie. Seine Nike! Der Rausch! Er erblickte alles, jedes Detail ihres Daseins und sie als vollkommenes Ganzes. Noch mehr Liebe! Verführt von ihrem weichen Busen schmolz er dahin. Die Eleganz ihrer Bewegung machte sie zu einem unwiderstehlichen, lebendigen Wesen.
Vollkommen in die Arbeit versunken, begann Stefan die Welt um sich herum zu vergessen. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass ihm ein mächtiges Wesen in die Falle gegangen war. Mit seinem konzentrierten Arbeiten lockte er die Nymphe Jugemnia an. Sie war weniger fasziniert von der Zeichnung, als von Stefan. Mit welcher Intensität, Ausdauer und Präzision er zeichnete war erstaunlich für sie, denn solche Liebe zum Detail hatte sie bei einem Sterblichen noch niemals beobachtet.
Sie horchte in Stefans Gedanken hinein und erhielt Verständnis für seinen Zustand. Die Kraft für seine Arbeit entlehnte er all der Liebe, die schon einmal gegeben worden ist. Von all dem nahm er jeweils nur einen kleinen Tropfen. Zusammengefügt aber schuf er somit einen riesigen Ozean. Einen Ozean voll Liebe. In ihm trafen sie sich alle wieder. Adam und Eva, Ross und Rachel, Susi und Franklin, Beren und Luthien, Brabax und Sybilla, Susi und Strolch, Lottchen und Werther und natürlich auch Romeo und Julia fanden sich darin. Jugemnia jauchzte vor Glück, als sie die Gelegenheit eines solch aufputschenden Bades wahrnahm. Sie genoss in diesem Moment die vollkommene Freiheit. Bald unternahm sie lang andauernde Tauchgänge durch die liebliche Tiefe, bald lag sie einfach nur still auf der Wasseroberfläche. Ihr Gesicht und ihre weißen Brüste waren das Einzige, was die Ebenmäßigkeit der Landschaft durchstieß. Das einzige, was die ideale Landschaft in Bewegung setzte. Dann wieder schwamm sie auf dem Rücken. Ihr nackter Körper glitt wie eine dünne Nebelschwade, die vom Wind geschwind übers Wasser getrieben wird, durch des Ozeans sanfte Wogen.
Überall um sie war Wasser. Sie beobachtete die kleinen Wellen, wie sie spielerisch gegen ihren durchweichten Körper platschten, sich zurückzogen und immer wieder auf sie zu kamen. "Komm spiel mit uns!" riefen die kleinen Wellen mit fipsiger Stimme. Kurzentschlossen tauchte die Nymphe ab. Ihr aufgeplustertes Gesicht, schaute zur Oberfläche hoch, von der sie sich langsam entfernte.
"Das ist unfair.", fipsten die Wellen. "Da kommen wir nicht drunter. Ach bitte spiel doch mit uns!"
Sie sollten sie fangen. Flink beförderte sich Jugemnia in die Horizontale, so dass sie parallel zur Wasseroberfläche, aber außer Reichweite der fipsenden Wellen agieren konnte. Ab und zu tauchte sie auf, um Luft zu holen. Dann waren die Wellen nicht weit entfernt und lachten und tönten. "Gleich haben wir dich." So ging es eine Weile fort. Manchmal gelang es den Wellen eher Jugemnia zu erhaschen, manchmal später. Endlich aber war die Nymphe erschöpft. Sie wollte sich zum Trocknen an den Strand legen, an den die Wellen sie unter Gelächter begleitet hatten. Natürlich standen Palmen mit Kokosnüssen im heißen Strandsand. Es fand sich auch ein aus roten Backsteinen gebautes Haus, auf dessen Terrasse ein Brüderpaar saß. Jugemnia störte sich nicht an den Beiden, die offensichtlich viel zu sehr mit der vom Himmel herab strahlenden Sonne und den warmen Steinen ihres Hauses beschäftigt waren. Sie legte sich, wie sie war, nieder und schlief einen erholsamen Schlaf.
Unbemerkt aber von Stefan und selbst geistesabwesend und unvorsichtig verfing sich die Nymphe in den Gedanken des Zeichners. Um sie herum spann sich ein Netz aus Ideen, das mit einem Mal auf sie herabstürzte. Erschrocken, schlug sie die Augenlider hoch. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahnen. Ihr Körper hatte die Situation schon erfasst, bevor sie sich dessen bewusst wurde. Sie focht, gleichzeitig panisch nach einem Ausweg suchend, an, gegen dieses Geflecht, das auch ihr einen Platz in dem Ozean der Liebe zuweisen wollte. Alle Gliedmaßen streckte sie mit größtmöglicher Kraftanstrengung von sich. Wild waren ihre Gedanken in diesem Moment. Würde sie erst einmal auf dem Blatt Papier gefesselt sein, dann für lange. Hatte sie noch eine Chance? Sie zweifelte selbst daran. Zunächst schienen die Verankerungen des Netzes oberhalb ihres Kopfes nachgeben zu wollen. Jedoch musste sie feststellen, dass alles unkontrollierte Gestikulieren erfolglos blieb. Sie konnte nichts ausrichten gegen das geschickte Vorgehen von Stefans glücklicher Hand. Nackt, an heißen Strandsand gepresst, von einem dichten Netz und dessen nahezu reißfesten Fasern, lag dies göttliche Wesen wehrlos da. So war sie denn als Einzelne gebannt, auf ein Blatt Papier in einen Ozean von Liebe, indem sich die perfektesten Pärchen aller Zeitalter freudig tummelten.

Ein Strich blieb zu tätigen. Ein Strich mit dem ein großes Meisterwerk seinen Abschluss finden sollte.
"Ein Strich noch Stefan", sagten all die, die inzwischen um ihn herum standen. Sagten die, die gebannt und fassungslos auf das Papier oder was für ein unglaubliches Ding dies sein mochte starrten. Die Hand des Zeichners aber strauchelte. Stundenlang hatte er bedächtig und ruhig ohne einmal zu zögern gezeichnet. Nun aber schien die magische Kraft, die seinen Körper die Zeit über geflutet hatte verloren gehen zu wollen. Er merkte ganz genau, dass sich in ihm etwas dagegen aufbäumte, dass er diesen finalen Strich tätigte. Wieder nahm er all seine Geisteskraft zusammen, um zu verstehen, was vor sich ging. Diesmal gelang es ihm nicht. Jedoch befähigte ihn die erneute Konzentration den letzten Strich zu machen. Erschöpft sank er, wie tot, in den Stuhl, den er mittlerweile sehr warmgesessen hatte, zurück. Die Leute um ihn herum, die herbei gelaufen waren, klatschten Beifall für Stefans Werk. Es ließ sich schwer sagen worin der Reiz dessen bestand, jedoch war es selbst für die größten Schmierfinken offensichtlich, dass man es hier mit einem Meisterwerk zu tun hatte. Ein jeder, der dieses Bild betrachtete, entflammte in Liebe. Man wollte nicht wegschauen, denn es bestand ja immerhin die Gefahr, dass der schöne Betrachtungsgegenstand dann fort sei. Jeder Strich des fesselnden Bildes wurde, nicht nur von Stefan, genauestens untersucht. Die einen stellten ehrfürchtig, die anderen erschrocken fest, dass nicht ein einziges Mal nachgezeichnet worden war. Die Zeichnung auf dem Blatt Papier, die weit mehr zu sein schien als eben solches, war aus einem Guss, fehlerfrei.
An diesem Tage fanden sich sehr viele Leute, die unbedingt sehen mussten, was Stefan zu Stande gebracht hatte, im Kunstraum ein. Man staunte neben Bauklötzen auch ganze Fertighausreihen. Der Andrang war so groß, dass sich die Kleinsten und die Hintersten, auf Stühle und Tische oder sogar beides stellten, um einen Blick auf das Kunstwerk zu erhaschen. Einem von Jenen passierte es, dass er aus dem Gleichgewicht kam, weil er seinen Hals zu sehr gereckt hatte. Sich an zwei Nachahmern festklammernd, stürzte er mit ihnen zu Boden, nicht ohne noch mehr Dinge und Leute umzustoßen. Es geschah in diesem flüchtigen Moment, als alle ihren Blick kurzzeitig von der Zeichnung abwandten, dass sie verschwand. Nun stoben die Leute in Panik auseinander. Jeder für sich nach dem Bild suchend, jeder Jeden beschuldigend. Sie hatten Angst. Eine Angst die aus der Leere ihres Herzen heraus drängte. Angst dieses wundervolle Ding verloren zu haben und es nie mehr wieder zu sehen. Einige machte es rasend. Für die Meisten war es nicht einfach den Verlust zu verkraften. Nicht Wenige waren dazu nicht in der Lage. Schnell kam es deshalb zu Pöbeleien und Raufereien, die blutig endeten. "Du Egoist! Willst es für dich allein!" Jemand, den Stefan überhaupt nicht kannte, ging auf ihn los. "Ich hab es nicht. Wo ist es? Wo ist es?" Stefan war verwirrt, dem Wahn nahe. Er spürte Fäuste, die auf ihn eindrangen und er spürte sie nicht. Etwas hinderte ihn. Etwas hinderte ihn die Nike zu suchen. "Fort!" Seine entsetzliche Stimme donnerte durch den Raum. Selbst die fürchterlichsten Germanen hätten, ob der gewaltigen Kraft von Stefans Stimme, in ihrem Gemetzel inne gehalten. Wer aber an diesem Abend hier war, der kannte keinen Respekt und keine Ehrfurcht. Man war zügellos. Man wollte die Nike zurück. Aufgebracht in seiner Suche gehindert zu werden, erhob Stefan seinen Bleistift, den er noch nicht aus der Hand gelegt hatte. "Fort!", donnerte er abermals. Wieder blieb er ungehört. Schläge prasselten weiter auf ihn hernieder und in seiner aussichtslosen Lage stach Stefan zu. Der Bleistift bohrte sich zwischen Schulter und Hals in das Fleisch seines Gegenüber. Dieser sank zu Boden. Eilig sprang Stefan, nachdem er seinen Bleistift, aus dem stark blutenden Schläger gezogen hatte, über Jenen hinweg. Er musste die Nike suchen. Krankwagen kamen angefahren. Leichenwagen kamen angefahren. Das verständnislose Sanitätspersonal konnte nicht begreifen wie es zu der Balgerei hatte kommen können. Überforderte Psychiater trösteten verheulte Erscheinungen, die kaum noch Gemeinsamkeiten mit Menschen aufwiesen. Es war ein großes Flehen, an jenem Abend. Man flehte, das Bild wieder sehen zu dürfen. Es blieb verschwunden.
In den nächsten Jahren entstand ein Kult um Stefans Arbeit. Wer sich nicht aus Enttäuschung, den wunderbaren Anblick verloren zu haben tötete, der verschrieb sein Leben der Zeichnung und starb in der Regel auch sehr schnell. Kunsträuber, Polizeiinspektoren, Privatdetektive und Kunstsammler hatten zwei Dinge gemeinsam. Sie wollten die Nike und sie waren bei ihrer Entstehung dabei. Die Intelligentesten Leute ließen auf der Suche nach ihr das Leben. Stefan selbst beging in der Zeit, in der die Nike als verschollen galt, diverse Selbstmordversuche, blieb jedoch erfolglos. Dafür sank er in einen bitteren Dämmerzustand. Durch den Ozean der Liebe, den er erblickt hatte entschwand er in ein anderes dunkles Land. Hier gab es weder Wärme, noch Licht, noch sonst irgendetwas Angenehmes. Vor seinen Füßen lag der Ozean, den er nicht zu betreten wagte, da er ja auf diesem schrecklichen Wege hierher gekommen war und sich niemals wieder solche Qualen zumuten wollte. Hinter ihm lag ein Land, das mindestens so groß war wie sein Auge weit reichte, überschüttet mit schwarzer, verbrannter Erde. Und wenn es dahinter besser werden sollte, dann konnte er sich dort nur karge Einöde vorstellen. Schmerz, Leid und Trauer war was er bei diesem Anblick empfand. All dies ließ seine Seele vollends abstumpfen, bis er sogar die Begriffe Glück, Liebe und Freude und deren Bedeutung vergaß. In seinem Inneren bestand kaum noch ein Hinweis darauf, dass er so etwas einmal empfunden hatte. Freunde und Familie, die das Bild nicht gesehen hatten, kümmerten sich rührend um ihn, obgleich sie ihn nicht verstehen konnten. Deshalb verlor er auch allen Kontakt zu ihnen. In seinem Gedächtnis verschwamm alles, was außerhalb des Begriffes Nike lag. Er vergaß einfach, dass es eine Welt gab, die sich nicht auf sie bezog. Selbst innerhalb dieses einzigen Themengebietes, das er noch wahrnahm, fehlten ihm Erinnerungen. Zum Beispiel konnte er sich nicht mehr an den schönen Gedanken, dass Nike doch das Heimkehren nach dem Siege war, erinnern. Einziger Halt in seinem Leben war der Bleistift mit dem er sie gezeichnet hatte. Tag und Nacht in jeder ansatzweise hellen Stunde, die sein Geist hergab, versuchte er mit dem Bleistift zu kommunizieren. Dieser aber blieb stumm, wie Gott, der nicht auf Stefans Gebete, dass man ihm die Nike zurück gäbe, antwortete. Seiner Familie blieb irgendwann nichts anderes mehr übrig als ihn in ein Sanatorium einzuweisen.
Auch Leute außerhalb des erlauchten Kreises, der die Nike schon einmal erblickt hatte, begannen sich für das Bild zu interessieren. Was faszinierte so dermaßen daran? Ihre Fragen blieben lange unbeantwortet, jedoch wurde Nike ein geflügeltes Wort. Etwas das nikisch war, war vollkommen in den Bann ziehend, gefährlich, aber unendlich schön. Auf diese Weise wurde das Sinnbild Nike legendär.

"Maler ist ein guter Irrer", dachte dessen Pfleger Popper. Der alte, sabbernde Greis, den Popper in einem Rollstuhl vor sich herschob, war wirklich ein angenehmer Irrer. Leicht zu pflegen, geistig abwesend und in keiner Weise widerwillig. Es machte Spaß mit ihm zugange zu sein, denn er belästigte niemanden und fiel so wenig zur Last wie ein wahrhaft Irrer nur konnte. Aus welchem Grunde dieser bei ihnen war wurde vergessen. Beinahe sein ganzes Leben hatte Maler schon in der Anstalt verbracht. Niemand des dort tätigen Personals konnte sich noch an seine Einlieferung oder deren Grund erinnern. Auch die Akten gaben keinen schlüssigen Anhaltspunkt zu seiner Herkunft, denn ein Großteil davon war bei einem Feuer vernichtet worden. Maler war also praktisch völlig identitätslos. Er bekam auch nie Besuch. Wahrscheinlich waren seine einstmaligen Angehörigen schon längst verstorben. Man konnte also nicht einmal wissen wie dieser alte Greis wirklich hieß. Und so nannte man ihn Maler, denn er klammerte sich Tag und Nacht mit seinen alten Händen an einen nicht viel jüngeren Bleistift.
Gemächlich schob Popper den Maler durch die Ausstellung. Es war keine Bilderausstellung sondern eine Ausstellung zu einem legendären Bild. Erst vor ein paar Jahren wurde es wiedergefunden. Ein verrückter, alter Mann hielt es jahrelang auf seinem Dachboden verborgen. Nicht einmal seine Familie hatte er es sehen lassen. Der Mann ging sogar so weit jedem mit dem Leben zu drohen, der sich dem Versteck des Bildes zu nähern wagte. Offensichtlich war er total wahnsinnig. In jenem Wahn schien er eine Art Kult um das Bild herum aufgebaut zu haben. Des öfteren führte er okkulte Zeremonien, in deren Mittelpunkt besagte Zeichnung stand, durch. Um das Bild herum baute er dann Duftkerzen und Sondergleichen auf. An solcher entzündete sich das Bild eines Tages. Mit der Geschwindigkeit des Alters gelang es ihm das Bild zu retten. In der Tat war es in seiner Ausdruckskraft unvermindert erhalten geblieben. Nun aber realisierte der Mann, welche Katastrophe beinahe geschehen wäre und in seiner Sucht konnte er sich nichts Fürchterlicheres ausmalen. Das Entsetzen stand ihm noch ins Gesicht als der Arzt kam und feststellte, dass er an einem Schlaganfall zugrunde gegangen war. Stutzend blieb Popper vor einer Fotografie stehen. Darauf sah man den Zeichner des Bildes kurz nachdem jenes verschwunden war. "Merkwürdig Maler.", sagte er. "Diese Gesichtszüge erinnern mich doch sehr an dich. Und sieh! Wie er den Bleistift hält, wie verkrampft! Genau wie du. Solltest du etwa..." Aber Popper verwarf den Gedanken schnell. Mit einem unsicheren Lächeln, sagte er zu seinem Irren: "Ne ne. Das glaub ich nicht. Und selbst wenn, was nützt es dir?" Die beiden zogen weiter gen Zentrum der Ausstellung. Verwirrt musste Popper feststellen, dass sein Irrer, je weiter sie in die Ausstellung vordrangen, zunehmend interessierter wurde. Sollte er langsam aus seiner Welt erwachen? Man sagte der Nike die allergrößten Wunderdinge nach. Warum also nicht auch solches? Popper schüttelte den Kopf. Was ihm wahrscheinlicher erschien war, dass der Maler nicht aus seiner Welt erwachte. Popper überlegte ob er nicht den Maler direkt in seine Welt hineinschob. Konnte das tatsächlich so sein? Es war so.
Die kontrastreich präsentierte Ausstellung, wirbelte Maler offensichtlich in seiner Seele auf. Je mehr Dinge sie sahen, an desto mehr schien er sich erinnern zu können. Er reagierte wenig auf allerlei Kopien der Originalnike und seiner. Hingegen erbebte er spürbar, als er realisierte, dass seine Familienmitglieder verschiedenen Attentaten zu Opfer gefallen waren. Diese Trauer aber vergaß er schnell, als er hörte, dass seine Nike angezündet worden war. Gemäß seiner einstmals so hervorstechenden Gabe, sammelte er all seine geistigen Kräfte zusammen und verlangte, wenn auch in spartanischen Worten, die barbarisch klangen, zu seinem Meisterwerk gebracht zu werden. Endlich standen sie vor der Nike. Stefans Nike. Er blickte auf und wachte auf. Für ihn hatten sich die acht Jahrzehnte leiden gelohnt, denn sogleich verloren seine Augen ihre Falten. Sein Gesicht verjüngte sich erheblich, wenn er auch ein alter Mann blieb. Erneut verführt schaute er sie an. Oh sie war noch immer atemberaubend. Wieder fühlte er den Rausch wie an dem Tag als er sie gezeichnet hatte. Der geschwungene Flügel, ihr Rock, das Nachthemd, ihr weicher Busen, all das, was er so gemisst hatte war noch da. Jetzt wo er sie grad wieder gefunden hatte erschien sie ihm gar noch verzaubernder. In diesem Moment erlebte er das Gefühl erleichtert aus einem Abenteuer zurück zu kehren und den Preis, die verdiente Ruhe, den Spaß mit Freunden, das Fest, während aus dem Kerker jammernd der Bösewicht ruft, die Aftershowparty in Empfang zu nehmen. Er stand aus dem Rollstuhl auf, schob sich gekonnt den Bleistift zwischen Kopf und Ohr und ging in kleinen Schritten, die Leute, die um seine Nike herumstanden, wie er es gewohnt war, ignorierend, auf die Nike zu.
"Nicht anfassen.", warnte Popper in Ermangelung angebrachter Worte.
"Ich will nur schauen. Das ist alles, was ich immer wollte. Schauen."
Stefan hatte seine Liebe wiedergefunden. Noch immer konnte er nicht ahnen, was wirklich dahinter verborgen lag. Denn all die Jahre über auf dem Dachboden ihres Diebes und nun auch in der Ausstellung, barg die Nike etwas, von dem niemand wusste. Noch immer lag Jugemnia verloren am Strand. Vergebens ein Gefecht kämpfend, das nicht zu gewinnen war. Wie viele Andere hatte sie in der vergangenen Zeit alle Wege des Leidens beschritten, obwohl sie sich niemals von dem Ort, an dem sie gefangen lag, entfernen konnte. Sie hatte gekämpft, resigniert, war deprimiert, erzürnt, unbändig wild und verheult. Niemand hatte jemals um sie getrauert. Niemals hatte jemand Mitleid für sie gehabt. Sie war allein. Deshalb verfluchte sie die Leute, die kamen sie zu beschauen und sie ins Unendliche verehrten. Sahen sie denn nicht, was sich vor ihren Augen abspielte? Offensichtlich nicht. Niemand kam herbei der Nymphe zu helfen. Einmal nur spürte sie, wie sich das Netz lockerte, aber das war ein kurzer Moment, der schon ein paar Jahre zurück lag. Einzig aus ihm sog sie noch Hoffnung.

Auch Torsten und Franklin besuchten an diesem Tag die Ausstellung. Letzterer aus freien Stücken und Ersterer so freiwillig, wie man halt war, wenn man eine Wette verloren hatte.
"Ich versteh nicht was daran so toll sein soll." Sie streiften streitend durch die Reihen von Exponaten. Franklin der fasziniert war, was die Leute alles angestellt hatten, um die Nike in ihren Besitz zu bringen antwortete: "Torsten du bist nur ein oller Nörgelkopf, denn an diesem Anblick musst du dich erlaben. Warum glaubst du gab es ihretwegen alles von Raufereien bis zu Massenmorden? Sie ist mehr als wundervoll."
"Na das werden wir ja sehen. Aber ich glaube ehrlich gesagt nicht daran, dass mir da die Augen geöffnet werden, wie du sagst."
"Weißt du das ist deine ganze blöde Lebenseinstellung. Es gibt Leute die stolzieren durchs Leben und es gibt Leute die hüpfen durchs Leben. Ich zum Beispiel bin ein Spaziergänger, weil ich durchs Leben spaziere. Aber du..."
"Na was bin ich?"
"Du bist ein Schlurfer."
"Ein was?"
"Ein Schlurfer. Du schlurfst durch dein Leben, hebst die Füße nicht, hebst den Blick nicht. Kein Wunder, wenn dir da die Schönheit eines Werkes, wie der Nike, entgeht."
Torsten war baff, als er vor der angeblichen Nike stand. Da lag sie da am Strand, mit einem Netz gefesselt, zappelnd. Vor ihr Wasser, um sie herum viele Paare, doch niemand scherte sich um sie. Wer war sie? Das war doch nicht die Nike? Er hatte ein kopfloses Geflügel in Nachthemd und herabgefallenem Badehandtuch in Erinnerung, nicht aber dieses in ein Netz gewickeltes, himmlische Wesen. Himmlisches Wesen ja! Soweit er sie durch das Geflecht erkennen konnte, hatte sie lange rote Haare. Ihre Haut war weiß, obgleich sie ewig in der Sonne gelegen haben musste. Ihre Körperkonturen beschreiben eine Sanduhr, die Beine waren lang, die Lippen äußerst Schmollmund geeignet. Dabei der Blick anmutig und ungebrochen. Er mochte sie. Er mochte alle, die sich nicht mit dem zufrieden gaben, was sie um sich herum sahen. Sie aber mochte er ganz besonders, denn sie war wunderschön.
"Dir ist aber schon aufgefallen, dass dies auf keinen Fall eine Nachzeichnung der Nike sein kann?", fragte er Franklin.
"Ach du bist doch blöd." Der Freund war jetzt langsam gereizt. Wie konnte ein Mensch alleine, denn so ignorant sein, nicht erkennen zu wollen, dass er es mit der Vervollkommnung der Nike zu tun hatte?"
"Siehst du nicht dieses himmlische Wesen, das dort am Strand im Netz liegt? Gefangen ist und zappelt?"
Allen Anwesenden fiel es wie Schuppen von den Augen. Auch Stefan, der dabei stand, begriff jetzt endlich, was den Reiz seines Gekrakels eigentlich ausmachte. "Jetzt sehe ich.", sagte er.
Das Bild zerfiel zu Staub und vor Torsten stand, in ein Netz gehüllt, die verzückende Gestalt von Jugemnia. Er, der es geschafft hatte, sie nicht zu vergöttern, war ihr Liebster. Das war klar. Für ihn war sie etwas sehr Besonderes, aber noch immer ein Ding von dieser Welt. Er allein liebte sie als das, was sie war.
"Na bist du jetzt gegen einen Laternenpfahl spaziert?", fragte Torsten hämisch, drehte sich um, legte seinen Arm um die Nymphe und schlurfte mit ihr von dannen. Franklin rieb sich den Kopf. Er hatte eine dicke Beule. Neben ihm der geheilte, greise Stefan zog seinen Bleistift hinter dem Ohr hervor. Die Illusion, die sein Leben bestimmt hatte, war gegangen. Sein Herz war leer. Er wurde sich klar darüber, dass er niemals gesehen hatte. Zu keinem Zeitpunkt seines Lebens, musste er sich eingestehen, war etwas von ihm durchschaut worden und nun mit diesem Ereignis, war sein ganzes Herz geleert worden. Alles war verloren, seine Welt in sich zusammen gestürzt und gesehen hatte er auch niemals. Popper sah es kommen, so dass er Stefan sogleich auffing, als dieser zusammenbrach.
Maler nahm seinen Bleistift in die Hände. Gesicht und Geist fielen in den Dämmerzustand zurück, in dem sie Jahre lang vor sich hin vegetiert waren. "Ich habe niemals gesehen.", stotterte und spuckte Stefan. Er stopfte sich den Bleistift in den Rachen und erstickte daran.
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JANUAR 2003