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Autor: flegeton

Erstellt am: 23.02.2002

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Regen



Geschrieben von:   flegeton


Als ich neun Jahre alt war, hatte ich einen Traum. Es war der Wunsch eines kleinen Mädchens, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit.
Es war nur vier Jahre nach der großen Umweltkatastrophe und die trübe Erinnerung an die Spiele im Sandkasten und im taufeuchten Gras aus der frühen Kindheit speisten diesen Traum. Die Umweltkatastrophe hatte das Land ausgedörrt, die Gewässer versauerten. Das Spielen im Tau war verboten, nicht einmal auf die Straße durfte man bei Regen, es sei den, man trug einen speziellen Schutzanzug.
Doch genau das war mein Wunsch. Oft sah ich im Traum fröhliche, lachende Kinder, die unter feinem Nieselregen auf der feuchten Wiese Spielten. Und am Himmel zog sich, von Horizont zu Horizont, der breite Streifen eines Regenbogens.
In Wirklichkeit hatte ich noch nie einen Regenbogen gesehen. Das saure Wasser des Regens brach das Licht nicht richtig, nur in der Schule hatten wir einmal mit einem Prisma experimentiert, aber das war kein Vergleich. Und Experimente mit richtigem Wasser kamen sowieso nie in Frage.
Und an dem Tag, an dem ich mir meinen Wunsch erfüllte regnete es auch.
Ich saß in meinem Zimmer und die Regentropfen flossen in dünnen Rinnsalen über das Fensterglas und vereinten sich zu kleinen Bächen.
Da fühlte ich, das der Zeitpunkt gekommen war.
Ich stand auf und lief, nein rannte zur Tür.
Das ‚Wo willst du hin ?‘meines Vaters klang unglaublich weit weg. Ich rannte nach draußen. Ohne Schutzanzug. Zum ersten mal in meinem ganzen Leben spürte ich die Freiheit. Die unendliche, zügellose Freiheit des gelebten Traumes.
Ich lief in Hausschuhen über den harten Asphalt und verlor sie beim Rennen.
Barfuß flog ich über eine ausgedörrte Wiese. Die Tränen liefen mir über die Wangen und vermischten sich mit dem grauen Regenwasser. Die Säure brannte auf meiner Haut, doch das war mir egal, ich war frei, endlich frei.
Dann wurden die Schmerzen zu stark. Ich spürte, wie die Kraft aus meinem Körper wich und sank mit den bloßen Knien auf die harte Erde. Die Tränen und das Regenwasser flossen in Bächen in die Ritzen und Spalten des Bodens.
Doch bevor ich das Bewußtsein verlor, glaubte ich, ein Stück Regenbogen am Himmel aufblitzen gesehen zu haben,
Die Verätzungen waren stark, aber nicht wirklich tödlich. Jetzt, über 50 Jahre später, erinnern nur noch ein Paar häßliche Narben daran.
Nun sitze ich vor dem Fenster und schreibe, ich weiß nicht warum. Das Klima hat sich inzwischen kaum gebessert, Schutzanzüge sind noch immer Pflicht, aber eines weiß ich sicher: Das, was ich vor fast 55 Jahren getan habe , war richtig, es war die Narben wert.
Der feine Nieselregen klopft sachte an die Fensterscheiben, die kleinen Tropfen rinnen über das Glas.
Und vielleicht... vielleicht ist heute ja ein neuer Zeitpunkt gekommen...