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Autor: flegeton

Erstellt am: 23.02.2002

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Genie



Geschrieben von:   flegeton


Ich erinnere mich noch gut daran, als mein Enkel Kai auf die Welt kam. Ich besuchte meine Tochter an dem Tag, als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Er war ein hübscher Junge, und noch so klein. Aber das wirklich Besondere an ihm waren die Augen, sie waren so wach, als verstünde er alles um sich herum. Und wie er mir mit seinem Blick folgte! Ich hatte direkt den Eindruck, er erkenne mich.
Seine Mutter war so stolz, er war ihr erstes Kind und die Freude war unermeßlich. Als sie ihn auf den Arm nahm, und zum Schlafen aus dem Zimmer trug, glaubte ich fast, er hätte mir zugewunken. Ich wußte gleich ,das Kai etwas Besonderes war.
Ich besuchte meine Tochter am nächsten Tag wieder. Sie erschien mit dem Baby auf dem Arm in der Tür.
„Morgen, Vater“, grüßte sie.
„Alo, Opi“, grüßte das Baby.
Nein! Das konnte nicht sein, ich mußte mich verhört haben, oder meine Tochter spielte mir einen ihrer berühmten Streiche. Kai war noch keine Woche alt!
Während des Vormittags ließ sie mich kurz mit meinem Enkel allein im Zimmer.
„Hallo, Opi. Ich bin Kai,“ ,plapperte der Junge fröhlich.
Senil, genau senil. Dieses Wort hatte meine Tochter schon mehrmals, wohl spaßeshalber, mir gegen über fallenlassen.
Aber... so alt war ich doch auch wieder nicht, oder?
„Tut mir leid, ich spreche noch nicht so gut, aber ich lerne es bald.“, entschuldigte sich Kai.
Nein, ich hatte mich nicht verhört.
Ich faßte mir an den Kopf, so etwas gab es doch nicht!
Aber als meine Tochter zurück kam, schlief Kai friedlich in seinem Bettchen.
„Dein Sohn...“, begann ich unsicher. „Kann es sein... kann es sein, das er schon spricht?“
Meine Tochter sah mich besorgt an: „Du hast in letzter Zeit nicht vielleicht ein wenig zu viel gearbeitet?“
„Ich weiß nicht.“, sagte ich und nahm meinen Hut. „Ich glaube ich gehe jetzt besser.“
Ich verließ die Wohnung und fuhr mit dem Aufzug in meine eigene im vierten Stock.
An diesem Tag ließ ich die Aufzeichnungen für meine Memoiren liegen. Vielleicht war ich ja wirklich überarbeitet.
Eine ganze Woche verging, bis ich wieder zu meiner Tochter ging. Ich sollte nach Kai sehen, während sie bei den Nachbarn zum Tee eingeladen war.
„Opa, ich kann jetzt endlich anständig sprechen.“, berichtete mir mein Enkel stolz, als ich ihn im Arm hielt.
„Du kannst was?“ Beinahe hätte ich ihn fallen gelassen. Das konnte doch nicht sein.
„Ich kann sprechen, tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, das wollte ich wirklich nicht.“
„Du bist zwei Wochen alt, wieso kannst du Sprechen?“
Ich gebe zu: Diese Frage war keine von den besonders Klugen.
„Ich kann es eben, aber sag meiner Mama bitte nichts. Sie würde sich nur unnötig Sorgen machen.“, bat mich das Baby. „Lies mir lieber das da vor.“ Etwas unbeholfen deutete er mit der Hand auf ein Wissensmagazin, das im Sessel lag. Irgendwie hatte ich schon aufgehört mich zu wundern.
Ich nahm ihn auf den Schoß, er saß schon ziemlich sicher, und begann zu lesen.
Ab und zu fragte mich Kai, ob ein Buchstabe der war für, den er ihn hielt und ich bestätigte.
Seit dem Tag paßte ich so oft es ging auf meinen Enkel auf, meiner Tochter gegenüber verlor ich kein Wort über Kais Besonderheiten. Doch sie wurde schon langsam mißtrauisch.
„Warum willst du eigentlich nicht, dass deine Mutter erfährt, dass du schon lesen und schreiben kannst?“ Fragte ich Kai einmal, als er etwa zwei Monate alt war.
„Ich will es nicht, weil ich es falsch finde.“, sagte der Sprößling entschieden.
Dann fiel die Tür ins Schloß. Meine Tochter stand schon eine Weile im Flur, sie hatte unser Gespräch mitgehört! Doch der befürchtete Wortschwall blieb aus. Sie grüßte, als sei nichts gewesen und unterhielt sich mit mir über beiläufige Themen.
Aber als ich an dem Nachmittag zu Hause saß rief sie mich an.
„Ich will nicht, das du weiter so oft auf unseren Sohn aufpaßt.“, sagte sie. „Es muß ermüdend für dich sein.“
Ermüdend !? Kai war ein Wunderkind und sie sagt „ermüdend“! Sie wollte es nicht wahrhaben, dass war ermüdend.
Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, meinen Enkel mindestens alle zwei Wochen zu sehen.
Er machte erstaunliche Fortschritte: Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich in heimlich in die Quantenphysik eingelesen und eine eigene Theorie aufgestellt. Einmal schrieb er auch einen ganz brauchbaren Artikel über die frühkindliche Wahrnehmung, den ich dann veröffentlichte. Und was meine Tochter anbetraf, ich hatte den Eindruck, das ich bei ihr zu Hause nicht gerade gerne gesehen war.
Eines Tages, Kai war ungefähr zwei Jahre alt, traf ich ihn mit seinem Vater am Schreibtisch an.
„Wir lesen!“, erklärte der Vater stolz. „Kai ist ja so begabt.“
„Opa, ich kann schon zehn Buchstaben.“, sagte mein Enkel laut und mit Nachdruck.
„Das hat er alles heute gelernt. Und er ist erst zwei!“ erläuterte der Vater.
Mir wurde richtig schlecht.
„Er kann schon lesen und schreiben wie ein Erwachsener. Oder besser!“, entfuhr es mir.
Wieder reagierte weder meine Tochter noch ihr Mann.
Nur bekam ich in der selben Woche einen Brief vom städtischen Altersheim. Er enthielt die dringende Aufforderung, eine Wohnung dort zu beziehen.
Seit dem sah ich Kai kaum noch, konnte ihn nicht einmal ohne die Gegenwart seiner Mutter sprechen.
Auch sie besuchte mich selten und in unseren Gesprächen fiel nicht ein Wort über Kai.
Einmal ging ich am Haus meiner Tochter vorbei, sie hatte inzwischen noch ein Kind bekommen, ein Mädchen, Sara. Ich hörte sie in ihrem Kinderwagen „Greensleves“ singen. Meine Tochter schob ihr den Schnuller in den Mund. Babys haben nicht zu singen, das ist die harte Wahrheit.
Ich ging am Haus vorbei, anscheinend hatte meine Tochter mich nicht bemerkt.

Vor zwei Wochen traf ich Kai dann auf der Straße, er war auf dem Weg von der Schule nach Hause.
Ich fragte ihn wie es ihm ginge. „Gut“, sagte er. Es klang ein wenig betrübt.
„Wie geht es in der Schule?“
„Prima, die neue Klasse ist ganz nett.“ Sonst sagte er nichts, aber ich verstand auch so:
Er konnte jetzt irgendwo an einer Uni studieren, oder sogar als Professor arbeiten, doch er verzichtete seinen Eltern zu Liebe. Genau so, wie er seinen Vater ihm das Lesen beibringen ließ, als er zwei Jahre alt war.
Kinder sollten so begabt sein, das ihre Eltern auf sie stolz sein können, sie sollten nicht unheimlich sein.
Kai war mit seinen zehn Jahren schon in der siebten Klasse. „So ein kluger Junge!“, sagten die Nachbarn.
Doch niemand sollte das wahre Genie Kais erkennen, niemand! Es währe ihnen unheimlich, ein sprechendes Baby zu sehen, oder wie ein Zweijähriger über die Relativitätstheorie philosophierte. Das hätte alle überfordert.
Und Kai hatte sich entschieden und ein großes Opfer gebracht. Ein Opfer seinen Eltern und der Menschheit. Noch waren sie nicht bereit für sein Genie, noch nicht.