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Autor: Warui

Erstellt am: 17.02.2004

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Der See



Geschrieben von:   Warui


Enno wusste nicht, wie lange er nun schon so ausharrte, die Knie an die Brust gezogen und die Arme um die Oberschenkel geschlungen. Er war irgendwann am frühen Abend losgegangen, mit nichts als seinen Handschellen und den Sachen, die er am Leib trug. Alles andere hatte er zurückgelassen, auch seine Uhr, doch da hatte der Sturm erst angefangen. Man konnte ihn immer schon riechen, bevor er da war, besonders, wenn er vom Meer kam. Enno hatte dann zusätzlich immer noch so einen pelzigen Gaumen, als hätte er beim Schlafen einen Filzstift im Mund gehabt. Der Himmel hatte auch seltsam zerzaust gewirkt nach dem Aufstehen, wie gegen den Strich gekämmt.
\"Oder wie ein zerrissenes Frotteehandtuch,\" grübelte er. Insgeheim mochte er so einen Himmel; er lag dann oft von nachmittags bis spät in die Nacht auf dem Dach neben seinem Zimmerfenster. Selbst und vor allem im Winter. Aus dem angelehnten Fenster entschwand eine Wolke von Weihrauch oder Patchoulie, vermischt mit dem Gesang von Freddie Mercury oder Cat Stevens, manchmal auch The Cure. Klarte der Himmel auf und präsentierte ein makelloses, aber nicht minder chaotisches Sternenbild, was hin und wieder vorkam, spielte Enno Deine Lakaien oder Nightwish. An solchen Abenden war er glücklich, erinnerte sich leicht schwermütig zurück an Zeiten, die es so nie gegeben hatte, und lächelte. Wenn noch dazu ein leichter Wind ihm die Haare aus der Stirn stich, fühlte er sich wie in Watte eingepackt.
Heute war nichts davon der Fall gewesen, heute war er weg gegangen, ohne dass Alex oder Tuomas & Tarja oder Freddie ihm hätten helfen können. Enno musste wider Willen lächeln. Wie hätte Großmutter es ausgedrückt? \"Freddie Mercury? Woher kennst du den denn? Ach, wat solls, der is ja auch schon lang nich mehr bei Tengelmann einkauf\'n g\'wes\'n.\" Es war ein recht langer Marsch gewesen, jdenfalls für Ennos Verhältnisse. Vorbei am \"Bunten Haus\" und den Leuten, die schon frühs davor saßen und Bier tranken, vorbei an den Schrebergärten, die um die Uhrzeit für gewöhnlich leer waren, mittags spielten immer Kinder dort. Abends sah man, vor allem im Herbst, manchmal greise Ehepaare, Arm in Arm, in der Hollywoodschaukel sitzen und bei prasseln dem Kaminfeuer in den Himmel schauen. Ihre Kinder und Enkel lagen jetzt schon längst im Bett oder auf der Familiencouch zuhause und ließen sich vom Abendfernsehen berieseln. Auch an denen war Enno bereits vorbeigegangen. Am Hundezwinger machte er einen kurzen Halt. Die meisten der Tiere waren inzwischen ohne Familie und würden wohl bald ihren Besitzern folgen, die gegenüber auf dem Friedhof lagen. Enno gedachte kurz des Hundes seiner Ex-Freundin. Der hatte ihn gemocht, wäre ihm überallhin gefolgt. Und mit dem Friedhof bervand er auch gewisse Erinnerungen, er liebte die kleinen, versteckten Plätze auf dem weitläufigen Areal und besonders diesen Einen, der einem danach einen wunderbar romantischen Blick auf die Sterne und den Mond bot. Schon allein bei dem Gedanken daran machte sich bei Enno die Erinnerung konkret bemerkbar ...
Als er den Reißverschluss wieder zuzog und langsam wieder etwas von der Umwelt mitbekam, hatte der Sturm wieder aufgehört. Enno stand behutsam auf, ließ seine Gelenke der Reihe nach knacken und hüpfte etwas auf und ab. Die Handschellen an seinem Gürtel klapperten mit. Das erinnerte ihn an den Grund seines Herkommens und warmen Gedanken, die ihm eben noch den Rücken herunterliefen, erstarrten plötzlich zu Eis. Enno schüttelte sich unsicher und ging dann, die Tränen wegzwinkernd, langsam auf den Bootssteg zu, sein Herz klopfte wie ein Auto mit angezogener Handbremse, wenn man Vollgas gab. Vor einigen Stunden hatte er schon einmal dort gestanden, doch da hatte der Sturm noch in blinder Raserei gewütet und das Wasser aufgewühlt. Enno war daraufhin zurückgewichen und hatte sich in der im Winter verlassenen Barracke des Angelaufsehers verschanzt, um abzuwarten. Jetzt stand er wieder am Rande des schmalen Stegs. Im Sommer waren hier Boote vertäut, mit denen man sicher auf dem Wasser fahren konnte, doch die waren nun eingemottet und unerreichbar. Mit dem Bootfahren war es wohl nun vorbei, zumindest für Enno. \"Ich bin jetzt schon eifersüchtig auf die Frauen, die du alle nach mir haben wirst,\" hatte seine Ex ihm gesagt. Er konnte die Tränen nun kaum zurückhalten. Würde nicht viel Möglichkeit dazu haben, eifersüchtig zu sein. Wahrscheinlich hatte sie ihn sowieso bald vergessen, was wohl sogar besser war. Schluchzend machte Enno die Handschellen von seinem Gürtel ab und schloss sie auf. Gute Handschellen waren das, hatten sie beide damals eine schicke Stange Geld gekostet, Polizeihandschellen. Vielleicht konnte ja die Polizei was damit anfangen, wenn sie ihn aus dem Wasser fischten. Er befestigte ein Paar an seinen Knöcheln und schloss sie ab. Gingen auch nicht einfach wieder auf oder gar noch noch mehr zu, Qualitätsarbeit eben. Als beide abgeschlossen waren, wischte Enno sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen, in der Faust den Schlüssel und sah kurz hoch.
Ihm fiel dieser eine Song von Rammstein ein, in dem es hieß \"Das Wasser soll dein Spiegel sein. Erst wenn es glatt ist, wirst du sehen, wieviel Märchen dir noch bleibt, und um Erlösung wirst du flehen.\" Im Wasser des Sees spiegelte sich der Feuerball der aufgehenden Sonne, ein Schauspiel, das Enno schon lange nicht mehr hatte genießen können. Wie in Trance schloss er die Handschellen wieder auf und versenkte sie zusammen mit den Schlüsseln im See. Im Licht des werdenden Tages machte er sich auf den Heimweg, zuerst Schritt für Schritt, dann flotter, bis er in einen Laufschritt verfiel.

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Is mein zweiter Versuch einer Kurzgeschichte ... ich war mir ne ganze Zeit unsicher, wie ich es enden lassen soll ... Alternativ hätte ich Enno aufblicken lassen und sehen lassen, dass der Morgen bald graut und ihn schnell auch die anderen Handschellen anlegen lassen. Die Schlüssel in den See, kurz an besagtes Lied von Rammstein (heißt übrigens \"Alter Mann\" und ist auf der Sehnsucht drauf) denken und dann fallen lassen.
Ich denke mal, die Unterschiede zu meiner ersten Kurzgeschichte sind recht deutlich und so. Im Großen und Ganzen habe ich auch versucht, eine Geschichte zu erzählen, die \"mitnimmt auf die Reise\", die den Leser fesselt und eine bestimmte Atmosphäre und Gemütslage hervorruft ... eine, die meiner eigenen ähnlich ist ....
Nuja, ich bitte um Kommentare, will ja schließlich \"besser werden\" ;)

Mata ne
Warui

Ps: Das Werk heißt eigentlich "Der Sturm", aber RAL sagt mir, dass es aufgrund eines Datenbankfehlers keinen solchen Titel mehr geben darf ....