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Autor: flegeton

Erstellt am: 23.02.2002

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Höchstes Glück



Geschrieben von:   flegeton


Es ist nun an die zwei Monate her, als mein bester Freund bei einem Verkehrsunfall sein Augenlicht verlor. Ich kann es noch immer nicht glauben, sonst war er immer fröhlich und durch nichts zu erschüttern und nun - blind...
Seit dem hat er sich so sehr verändert, dass ich ihn kaum wiedererkannte: nichts war mehr so, wie früher.
Der sonst so wache Blick in seinen Augen war leer. Und sobald ich auf den Unfall ansprach, war sein Gesicht auch leer, leer und tot. Seit dem schrecklichen Tag besuchte ich ihn häufig, doch er war nicht mehr der selbe, ich vermißte seine gelassene, fröhliche Art.
Nun saß er immer nur in seinem Sessel und schwieg, das machte mir Angst, es schien, als hätte er allen Lebensmut verloren. Es viel mir oft schwer, mit ihm zu reden, manchmal saß auch ich nur da und schwieg, wußte nicht, was ich sagen sollte. Zu gerne hätte ich ihn wissen lassen, wie sehr ich mit ihm fühlte, wie Leid es mir tat, doch ich fühlte, dass er kein Mitleid wollte. So saßen wir schweigend in seiner Wohnung, oft fiel über Stunden kein Wort und das Schlimmste war: er war mir fremd geworden.
Einmal, ich glaube, es war vor drei Wochen, hatte er mir seine Entscheidung anvertraut: Er wollte nicht mehr so weiterleben. Er könne die dunkle Welt ohne Licht, ohne Farben nicht ertragen, hatte er zu mir gesagt.
Er hatte sich dafür entschieden, sich einen „Glücksschrittmacher “ einbauen zu lassen, ein einfaches Gerät, das schon seit Jahren in das Gehirn von schwer kranken oder behinderten Menschen implantiert wurde um das Freudenzentrum zu stimulieren.
Gewiß, diese Möglichkeit war zunächst schwer umstritten, doch seit der Einführung des Menschenrechts auf Glücksfreiheit setzte sie sich durch.
Schon oft sah ich Menschen, Erwachsene aber auch Jugendliche und sogar Kinder mit einem solchen Gerät im Fernsehen. Diese Szenen hatten mich immer tief gerührt.
Sie saßen nur da, unbeweglich, auf ihren Gesichtern lag der Ausdruck des höchsten Glücks und der Befreiung, doch eigentlich waren die Mienen so gut, wie tot: Jeglicher Wille war verblichen.
Sicher, gesehen hatte ich es oft, und auch darüber nachgedacht, doch noch nie war das Thema so nah. Und nun wollte er sich zu einem Zombie des Glücks machen, weil er seine Situation nicht ertrug.
Lange hatte ich versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, doch es gelang nicht. So war er eben, stur und unbeugsam und... er tat mir leid.
Ich mußte seinen Antrag auf diesen Schrittmacher mit dem Computer tippen, während er diktierte.
Vor zwei Wochen wurde er schließlich operiert.
Ich begleitete ihn zum Arzt, der das Gerät bedienen konnte. Mein Freund redete den ganzen Weg lang darüber, wie sehr der sich freue, endlich glücklich sein zu können, doch seine Stimme klang traurig.
War er etwa in seiner Entscheidung unsicher?
Das Gerät war doch schon implantiert.
Ich sagte nichts. Ich würde ihn vermissen, doch ich durfte nicht egoistisch denken. Er würde glücklich sein. Außerdem war es seine Entscheidung, es war besser für ihn. Oder?
Er währe tot, vollkommen unzugänglich, ein totaler Pflegefall.
„Bist du sicher, dass du das wirklich willst?“, entschloß ich mich an der Tür zum Medizininstitut zu fragen.
Er schwieg und ließ sich von mir in das Behandlungszimmer führen.
Der Arzt war freundlich, er reichte uns beiden die Hand und ließ mich Platz nehmen. Ich sah mich um: Steril, schrecklich steril und unpersönlich wirkte der helle Raum. Mein Blich fiel auf einen mit verschiedenen Elektrodenausgeängen behangenen Stuhl . Ich fühlte einen Stich im Herzen und das freundliche Lächeln des Arztes wirkte mit einem Mal falsch und aufgesetzt: An diesen Stuhl würde mein Freund nun für des ganze Leben gefesselt bleiben; er würde einfach nicht mehr aufstehen wollen. Wie ein mittelalterliches Foltergerät stand der Stuhl in der Zimmerecke, Schläuche für die künstliche Ernährung hingen schlaff von den Armlehnen.
„Ich will sie nicht länger auf die Folter spannen“, sagte der Arzt. Folter. Das war das richtige Wort. Es half meinem Freund in den Stuhl. Der schwieg die ganze Zeit. Dachte er nach? Vielleicht überlegte er es sich doch anders?
Wer einmal in einem solchen Stuhl saß stand nie wieder auf. Es war einfach gegen die menschliche Natur, das vollkommene, das höchste Glück aufzugeben, nachdem man es erfuhr.
Er saß im Stuhl, der Arzt befestigte die letzten Schläuche und Kabel. Nur noch der Schalter an der Schläfe meines Freundes stand noch auf „Aus“.
Woran dachte er? Nur mit Mühe unterdrückte ich die Tränen. Er würde es tun, das wußte ich ja nun.
‚Hör‘ auf!‘, hätte ich am liebsten gerufen. ‚Laß es sein!‘
Ich schwieg.
Er rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Zweifelte er, oder war er nur aufgeregt?
„Dann wollen wir mal ihr neues Leben beginnen.“, sagte der Arzt.
Leben? Wie konnte er nur von Leben reden, wenn der Willen starb? Was war das überhaupt, Leben? Wenn man nur da sitzt und nichts tut und nichts will, wenn man nicht denkt?
Cogito ergo sumne? Nein, niemals. Nicht mehr.

Der Arzt legte seinen Finger auf den Schalter.
Ich wagte kaum zu atmen.
„Steh‘ auf! Bitte steh‘ auf!“, flehte ich in Gedanken.
Der Arzt drückte zu.

Es war vorbei. Ein glückliches Lächeln erschien auf dem Gesicht. Es war zu spät.
Ich hatte Tränen in den Augen, das Bild verschwamm mehr und mehr. Ich hatte ihn verloren, für immer.

Plötzlich ging ein Ruck durch seinen Körper, eine Hand fuhr zur Schläfe. Sein Gesicht hatte noch immer diesen unnatürlich todunglücklichen Ausdruck und es sah aus, als hätte sich die Hand selbständig gemacht, einen eigenen Willen entwickelt.
Er legte den Schalter um.
Das tote Lächeln verschwand und wich dem Ausdruck des Triumphes.
„Funktioniert das Gerät nicht?“, fragte der Arzt besorgt.
„Doch, aber ich will es nicht,“ sagte mein Freund mir fester Stimme. „Ich will es nicht, ich will Leben lernen.“

Nachtrag: Etwa zwei Wochen später wurde das Gerät in einer weiteren Operation entfernt. Die genauere Untersuchung zeigte, dass die Einstellungen an dem Schrittmacher fehlerhaft vorgenommen wurden.