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Autor: flegeton

Erstellt am: 28.02.2003

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Mädchen auf dem Meilenstein



Geschrieben von:   flegeton


Ich habe wirklich keine Ahnung, wer sie war; höchstens 7 Jahre alt, aber vielleicht auch viel junger.
Sie saß bis vor kurzem noch auf einem Meilenstein neben dem Weizenfeld. Jeden Tag, über Monate hinweg.
Wann immer ich Nachmittags aus dem Fenster sah, war sie dort. Ich sah sie weder kommen noch gehen. Kein einziges mal in der ganzen Zeit.
Sie saß einfach nur da, ihre zierliche Figur in eine Art pastellgrüne Toga gehüllt, die ihr viel zu weit zu sein schien. Die Beine erreichten den Boden nicht ganz und wippten allein durch den Wind sacht im regelmäßigen Takt hin und her.
Als ich noch konnte, saß ich manchmal stundenlang an meinem Fenster und sah sie an, wie sie so dasaß, das Gesicht seltsam leer, völlig starr vor sich hin blickend. Manchmal gingen Menschen an ihr vorbei, ohne von ihr auch nur Notiz zu nehmen, auch sie sah einfach durch die Menschen hindurch, nie wurde sie von jemandem direkt angeschaut, geschweige denn angesprochen. Es war, als gäbe ihr dieses fast schon transparente Erscheinungsbild ein Stückchen Unberührbarkeit.
Wie sehr hatte ich mir gewünscht, zu ihr hinzugehen, sie etwas zu fragen, irgend etwas, aber meine Beine tragen mich längst schon nicht mehr. Ich kann seit Jahren nicht mehr alleine gehen, den Rollstuhl zu fahren fehlt es mir ebenso an Kraft. Wer weiß, wieviel Zeit mir noch zum Leben bleibt.
Ich bin immer nur allein, aber das finde ich ganz in Ordnung. Ich habe noch nie besonderen Wert auf Gesellschaft gelegt. Einmal am Tag kommt ein Pfleger zu mir. Das genügt völlig.
Was wirklich schlimm ist, ist meine Hilflosigkeit, die Tatsache, dass ich nun, da ich allein aufzustehen nicht in der Lage bin, jedes Mal aus dem Bett gehoben werden muss, wie ein kleines Kind. Ich hasse das Gefühl fremder Hände an meinem Körper. Oftmals wünsche ich mir diese geheimnisvolle Unberührbarkeit, über die jenes Kind auf dem Meilenstein verfügte. Niemand auf der ganzen Welt, keiner, wäre in der Lage, sie zu fassen. Das weiß ich. Das weiß ich genau! Sie würde zwischen den Händen verschwinden. Einfach leicht, wie eine Feder davon gleiten. Durch die Hände hindurch. Unantastbar. Unberührbar.
Ich hasse das möchtegern-freundliche Gerede der Pfleger „Wie geht es ihnen?“ und „Brauchen sie noch etwas?“. Ich hasse das geduldige Gesicht, mit dem sie abwarten. Bis ich endlich mühsam einige Worte herausquäle, weil mir nun auch das Sprechen schwer fällt.
Sie verstehen nicht, dass ich nicht antworten möchte, weil ich mich für meine Schwäche schäme, weil ich den gedehnten zähen und stolpernden Klang meiner Stimme nicht mehr ertragen kann.
Jenes Mädchen, das auf dem Stein saß, war zu beneiden. Niemand sprach mit ihr, niemand erwartete, dass sie sprach. Manchmal dachte ich, dass sie gar nicht sprechen konnte, so wie schon bald ich selbst, wenn meine Nervenstränge endgültig versagten.
Vor kurzem erst wohl, das kann ich nicht mehr schätzen, da der Tag plötzlich so unheimlich viele Stunden zu haben scheint, war sie jedenfalls fort.
Ich hatte am Fenster gesessen und sie angeschaut, wie der grüne Stoff im Wind wehte und sie mit ihm. Unendlich leicht, wie eine Feder, ein Nebelfetzen, der sich zerstreute, wenn man zu nahe kam, und dann war sie plötzlich verschwunden. Einfach fort. Keine Ahnung, wohin. In dem Moment versagten die Nerven in meinem Rücken, ich stürzte und blieb bis zum nächsten Morgen liegen, unfähig, mich zu bewegen, bis der Pfleger kam und mich vorfand.
Genau weiß ich nicht, wie viel Zeit vergangen ist seitdem, aber ich vermisse sie. Vielleicht deshalb, weil ich eigentlich wie sie bin. Oder war. Oder zumindest gern wäre.