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Autor: Anetreus

Erstellt am: 12.10.2006

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Kampf den Ollis



Geschrieben von:   Anetreus


Anmerkungen des Autors:
2004



Ich erinnere mich noch gut an diesen einen Morgen, mit dem alles begonnen hatte.
Es war ein Montagmorgen und ich hatte letzte Nacht wild gefeiert. Ich erwachte mit leichten Kopfschmerzen, sah zur Seite und erblickte einen anderen Mann in meinem Bett. Er war zur gleichen Zeit erwacht und starrte zurück. Mein Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen. Dann sprangen wir beide schreiend auf und versuchten zu flüchten, aber daraus wurde ein unkontrolliertes Stolpern und Stürzen. Meine Glieder schienen mir nur bedingt zu gehorchen. Da lag ich dann halb aus dem Bett gefallen, sah zur Seite und entdeckte wieder diesen Typ neben mir. Er schien neben mir aus dem Bett gefallen zu sein, doch irgend etwas stimmte nicht. Ich versuchte mich in eine vernünftige Position zu bringen, aber daraus wurde nichts. Arme, Beine und überhaupt meine gesamte Muskulatur schien nur noch nach dem Zufallsprinzip zu arbeiten.
„Verdammt, ich kann mich kaum bewegen“, sagte ich.
„Ich auch“, gab der Fremde zurück.
Wir sahen uns an. Wir sahen an uns herunter. Wir schrien ein zweites Mal wie Idioten herum und zappelten und zuckten.
Endlich beruhigten wir uns wieder und mussten die Tatsache akzeptieren, dass wir den selben Körper hatten. Nein, nicht den gleichen, sondern den selben! Zwei Köpfe auf einem Körper. Ich sah genauer hin. Es war eindeutig mein Körper. Nur der obere Teil war abnorm breit und trug nun einen zweiten Kopf.
„Verdammt, ich glaube, ich bin noch immer besoffen“, sagte der andere Kopf.
„Das wollte ich auch gerade sagen“, sagte ich und erkannte, dass der zweite Kopf mir völlig glich. Wie ein Spiegelbild – nur nicht gespiegelt.
Wir lagen einen Moment da, in unserer unbequemen Position, die Beine auf dem Bett, die Köpfe auf dem Fußboden.
„Ich bin Olli“, sagte ich dann.
„Ich auch“, antwortete er.
„Scheiße.“
„Ja.“
„Und jetzt?“
„Keine Ahnung.“
„Ich würde gerne aufwachen.“
„Ich auch. Oder aufs Klo gehen.“
„Hm. Versuchen wir aufs Klo zu gehen.“
Wir versuchten also vernünftig mit dieser absurden Situation umzugehen. Allmählich begriffen wir, warum wir Probleme mit der Körperkoordination hatten. Zwei Köpfe und beide hatten volle Zugriffsrechte auf den Rest des Körpers. Schließlich einigten wir uns darauf, dass er die Kontrolle übernahm und ich mich darauf konzentrierte, keine Befehle an meine - oder unsere - Muskeln zu senden. Das ist vielleicht ein merkwürdiges Gefühl! Du spürst deinen Körper, und plötzlich beginnt er sich scheinbar von ganz allein zu bewegen. Deine Arme stemmen dich vom Boden, deine Beine winkeln sich an, deine Bauch- und Rückenmuskeln bringen deinen Oberkörper in eine senkrechte Position. Leider machten meine Reflexe immer wieder Probleme – wenn zwei Köpfe gleichzeitig versuchen, instinktiv den Körper im Gleichgewicht zu halten, kann das zu recht übertriebenen Bewegungen führen.
Na ja, schließlich bekamen wir das mit dem Körper in den Griff, erleichterten uns auf dem Klo – was übrigens ganz gut klappte, man stelle sich einfach vor, man befände sich in einem öffentlichen Männertoilettenraum – und zogen frische Unterhose und Jeans an. Dann hatten wir ein Problem: Meine (oder unsere) Oberbekleidung passte mir (oder uns) nicht mehr. Und wir hatten auch keine Idee, wo wir passende Kleidung herbekommen sollten. Desweiteren waren wir beide kurzsichtig und hatten nur eine einzige Brille. Und so weiter, es gab einen Haufen Probleme.
Dann endlich traute sich einer von uns die drängende Frage zu stellen, die uns schon die ganze Zeit durch die Köpfe gegangen waren.
„Was ist eigentlich passiert? Wieso haben wir zwei Köpfe?“
„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, wer von uns beiden der erste Kopf ist, und wer neu dazugekommen ist.“
Wir stellten uns gegenseitig Fragen über unsere Vergangenheit, doch offensichtlich teilten wir uns auch diese.
Nach einigen Stunden verzweifelter Ratespiele, Überlegungen und irrer Schlussfolgerungen wurde uns klar, dass noch ein viel größeres Problem auf uns wartete. Das größte Problem überhaupt: Die Öffentlichkeit.
„Sollen wir Freunde anrufen?“
„Was willst du ihnen sagen?“
„Sie sollen einfach nur herkommen.“
„Sie werden vor Schreck tot umfallen.“
„Vielleicht jemand, der professionell mit dieser Situation umgehen kann?“
„Hm, also einen Arzt.“
„Ja.“
„Ich weiß nur nicht, wie wir einen Arzt hier her locken. Ich habe keinen Bock, mit dem Bus zur nächsten Arztpraxis zu fahren.“
„Das könnte recht lustig werden.“
Wir grinsten uns an.
„Nein, lass uns einen Notarzt anrufen.“
„Unter einem Vorwand.“
„Üble Kopfverletzung, und kann nicht mehr laufen.“
„Mangelnde Körperkontrolle.“
„Ja, das hört sich gut an. Willst du telefonieren?“
„Mir egal. Gib her.“

Dann entzog sich unser Leben völlig unserer Kontrolle. Der erste Arzt versuchte noch professionell und gefasst mit der Situation umzugehen. Er hielt uns für siamesische Zwillinge und glaubte, wir hätten einen Streit oder ein psychologisches Problem und konsultierte unseren Hausarzt. Der stürzte fast in Ohnmacht. Medizinische Unterlagen, Krankenberichte, Behandlungsbelege, Röntgenbilder, Fotos und noch mehr wurde zusammengetragen und Fassungslosigkeit breitete sich aus. Wir wurden in ein großes Krankenhaus überwiesen. Dann in ein größeres. Obwohl wir gebeten hatten, unser 'Leiden' geheimzuhalten, bekam natürlich die Presse Wind davon. So ein Phänomen wie uns kann man einfach nicht geheim halten. Journalisten und Reporter tauchten auf. Zunächst wurden wir in der Abteilung für Skurriles vermarktet und man betrachtete den Fall skeptisch. Unsere Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass wir früher nur einen einzelnen Kopf hatten, seien gefälscht, wir seien Betrüger, und so weiter. Aber jede Prüfung brachte neue, unumstößliche Tatsachen ans Licht und so tauchten wir auch in seriösen Blättern und in den bekannten Nachrichtensendungen auf. Kein Betrug, ein absolut unerklärliches Phänomen! Eine rapide steigende Anzahl an Spitzenärzten und -wissenschaftlern wollte sich mit uns befassen. Dann kamen die ausländischen Medien, ausländische Ärzte und schließlich ausländische Wissenschaftler.
Wir wurden auf der ganzen Welt berühmt.
Alle möglichen Angebote machte man uns, jeder wollte uns als Werbefigur - darauf hatten wir allerdings kein Bock und lebten so schon ganz gut. Wir landeten schließlich an einem gewaltigen amerikanischen Forschungsinstitut und wurden bestens versorgt.
Doch niemand konnte die wichtigste Frage klären: Woher ist der zweite Kopf gekommen?
Es gab natürlich Leute, die die Antwort zu kennen glaubten. Das hatte dann was mit Gott, mystischen Zeichen oder Biomagie zu tun. Zum Unglück der Kirchen, die uns gerne als göttliches Zeichen dargestellt hätten, waren wir völlig unreligiös.
Dann wurden zwei Entdeckungen gemacht, die uns mächtig erschraken. Die erste ergab sich aus zahlreichen Röntgenuntersuchungen. Einer der amerikanischen Wissenschaftler hatte die Aufnahmen von unserem ersten Tag hier am Institut mit der allerneusten verglichen. Er hatte eine Veränderung entdeckt. Unsere Köpfe würden sich von einander entfernen und die Wirbelsäule hätte sich weiter zu teilen begonnen.
„Und was heißt das?“ fragten wir aufgeregt. Eine ganze Gruppe von Wissenschaftlern saß mit uns im Konferenzraum zusammen.
„Wir haben nochmals ihre Organe untersucht und zahlreiche kleine Veränderungen festgestellt“, antwortete einer. Dann redete ein anderer weiter.
„Ihre Lungenflügel zeigen erste Anzeichen einer Verdopplung. In der rechten Brustkorbhälfte haben wir einen kleinen Knoten entdeckt, von dem wir glauben, dass es eine embryonale Version eines Herzens ist.“
„Was soll das heißen? Verdoppelt sich jetzt auch unser Körper?“
„Man könnte es so auslegen, aber wir sollten weitere Tests abwarten.“
Als nächstes machte einer der Wissenschaftler, ein merkwürdiger großer Kerl mit dunkler Haut, weißem Haar und kleinen grünen Augen eine Entdeckung, die uns mächtig erschrak. Der Typ trug den Namen Kryphfokktila. Er konnte kein Deutsch und sein Englisch war auch nicht besonders gut – wir hatten keine Ahnung, aus welchem Land er kam – aber wir würden das Gespräch wie folgt übersetzen.
„Ich was herausgefunden. Es könnte erklären“, sagte Kryphfokktila.
„Ja? Was denn?“ fragten wir.
„Nun. Unangenehm.“
Wir wurden unruhig.
„Sagen Sie schon, stimmt etwas nicht mit uns?“
Die Frage schloss natürlich die Tatsache aus, dass wir zwei Köpfe hatten.
„Ja. Sperma unfruchtbar.“
„Was? Meins? Meins? Unseres?“
„Ja.“
Zum ersten Mal dachten wir nicht mehr über das Problem mit den zwei Köpfen nach.
Doch Kryphfokktila tat es und lieferte uns eine Theorie.
„Du nicht vermehren wie andere. Du aber gefunden neue Vermehrung.“
„Was? Soll das heißen, weil wir unfruchtbar sind, teilen wir uns? Wie Bakterien?“
„Ja. Ähnlich.“
Er grinste merkwürdig und ging fort.

Ein Jahr nach dem schockierenden Morgen, an dem wir das erste Mal das Antlitz des jeweils anderen Kopfes entdeckt hatten, besaßen wir drei Lungenflügel und zwei Herzen. Unser Oberkörper hatte sich weiter verbreitert, die Wirbelsäule war ein richtiges Y geworden und es gab einen Haufen weiterer Veränderungen.
Den Medien war das sehr willkommen, die Sensation hielt an und blieb interessant. Die Leute kauften mehr Zeitungen, sahen mehr fern und klickten häufiger auf Internetseiten, wenn es dort neue Berichte über den Mann gab, der eines Tages mit zwei Köpfen aufgewacht war. Sie nannten uns den doppelköpfigen Olli.

Nach insgesamt einem Jahr und vier Monaten gab es die nächste dramatische Entwicklung.
Es war ein normaler Morgen in unserer gut ausgestatteten Wohnung und wir lagen in unserem breiten Bett. Ich erwachte und wollte mich zu meinem Partnerkopf umdrehen, als ich spürte, dass ein Fremder in meinem Bett lag. Erschrocken warf ich die Bettdecke zurück und sprang auf. Und mein Schreck wurde noch größer, als ich sah, dass mein zweiter Kopf im Bett liegen geblieben war! Nein, falsch - er hatte seinen eigenen Körper! Ich sah an mir herunter. Mein Körper war wieder so wie früher, in meinem einköpfigen Leben. Ich näherte mich dem Bett und zog vorsichtig die Bettdecke auf der anderen Seite weg. Dort lag eine Kopie von mir.
Das war eine Sensation.
Der doppelköpfige Olli hatte sich wie eine Bakterie verdoppelt.
Für die Medien und die Wissenschaftler war es wieder wie am ersten Tag. Berichte, Untersuchungen und Theorien überschlugen und übertrafen sich.
Natürlich gab es immer noch einige Menschen, die alles für Betrug hielten, für einen Werbegag, oder sogar für eine Verschwörung, um von viel wichtigeren Ereignissen in der Welt abzulenken. Sie glaubten, jetzt würde die Sache zu einem Ende gebracht, wir Ollis wären schon die ganze Zeit Zwillinge gewesen und bräuchten uns jetzt nicht mehr zu verstellen.
Aber es nahm kein Ende. Nein. Es ging erst richtig los.
Bisher hatte man uns als Phänomen, als Skurrilität betrachtet. Faszinierend für die Wissenschaft und erheiternd für die Öffentlichkeit.
Doch als wir beiden Ollis eines Morgens, jeder in seiner eigenen Wohnung, in seinem eigenen Bett, abermals mit einem zweiten Kopf aufwachten, begannen sich die ersten Leute Sorgen zu machen.
Die Ollis vervierfachten sich. Würden sie sich verachtfachen? Würde es sechzehn, zweiunddreißig, vierundsechzig Ollis geben?
Die Untersuchungen bekamen etwas Drängendes. Die Stimmen der Wissenschaftler klangen ernsthafter.
Nach weiteren sechzehn Monaten waren wir tatsächlich vier Ollis. Und ratet mal. Ja, alle vier Ollis wachten eines Morgens mit zwei Köpfen auf. Zwar nicht alle gleichzeitig, aber alle innerhalb einer Woche.
Es war noch immer ungeklärt, wo die Zweitköpfe so schnell herkamen. Wuchsen sie extrem schnell innerhalb einer Nacht? Warum geschah nicht die ganze Verdopplung so schnell? Man fragte uns, ob einige sich vielleicht beim Schlaf überwachen lassen wollten. Man wolle unbedingt sehen, wie sich dieser zweite Kopf entwickelte. Drei von uns willigten ein. Der vierte Olli war den ganzen Rummel leid und wollte sich nach Deutschland zurückziehen. Daraufhin gab es das erste Mal Probleme mit den Behörden. Wenn nicht geklärt sei, wie diese Verdopplung von statten geht, bestehe ein gewisser Grund zur Besorgnis. Wir Ollis seien in gewisser Weise krank und hätten uns weiterhin in ärztlicher Obhut aufzuhalten.
Nun gut, der vierte Olli willigte seufzend ein und bezog wieder seine Wohnung auf dem Institutsgelände, aber er verweigerte jede Form der Überwachung.
Vierzehn Monate vergingen und das Geschrei unter den Wissenschaftler war groß, als sich der erste der vier doppelköpfigen Ollis verdoppelte. Es war einer der überwachten Ollis gewesen, O21. Die Wissenschaftler hatten begonnen uns Nummern zu geben. Die ersten beiden Ollis waren O1 und O2. Aus O1 wurde O11 und O12. Aus O2 wurde O21 und O22. Und nun war aus O21 O211 und O212 geworden. Den Vorgang der Verdopplung hatte man beobachtet. Er war genauso rätselhaft, wie die Entstehung der Zweitköpfe. Jeder doppelköpfige Olli entwickelte drei Lungen, zwei Herzen und eine Y-Wirbelsäure und dann kawumm! gibt es einen Sprung und plötzlich sind's zwei.
Aber nun hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern die Aufnahmen gesehen, wie diese plötzliche Verdopplung vor sich ging. Zwei von ihnen wurden sofort in psychiatrische Behandlung gegeben. Die anderen beiden schwiegen sich noch aus und baten um Zeit, die Daten zu verarbeiten.
Die Kollegen des Instituts drängten natürlich und bald kam das Geheimnis ans Licht. Die Ollis wurden allesamt eingeladen und bekamen als erste Nicht-Wissenschaftler den Film zu sehen.
Man sah den doppelköpfigen Olli friedlich im Bett schlafen. Er rollte im Schlaf murmelnd zur Seite, bedenklich nahe an die Bettkante. Dann rollte er sich zurück – und blieb gleichzeitig liegen. Der zweite Körper schien sich einfach aus dem ersten auf magische Art herauszurollen.
Der Begriff 'Magie' war natürlich verpönt.
„Ich vermute, der größte Teil des zweiten Körpers entwickelt sich in phasenverschobener Existenz“, meinte einer der Wissenschaftler. „Das Herausrollen ist nichts anderes, als die Überführung in unsere Quantenrealität.“
„Ich glaube eher, dass sich die anderen, nicht sichtbaren Teile des zweiten Körpers jenseits der drei Raumdimensionen entwickeln“, sagte ein anderer. „Bedenken Sie die Theorie der zusammengerollten Dimensionen, meine Damen und Herren.“
„Hm, vielleicht kommen die fehlenden Teile einfach aus der Zukunft?“
„Oder aus der Vergangenheit.“
„Oder aus einer anderen Realität.“
Die Wahrheit war: Niemand wusste mit Sicherheit was wirklich geschah.
Schließlich wurde auch gefilmt – sogar mehrfach - wie der zweite Kopf entstand.
Der im Schlaf gefilmte Olli lag im Bett, krümmte seinen Oberkörper plötzlich etwas zur Seite, dann in die entgegengesetzte Richtung, obwohl er auch gleichzeitig still blieb. Es war, als ob man eine Bewegung mit langer Belichtungszeit aufnahm.
Mit anderen Worten: Total verrückt.
Das Universum hielt offensichtlich einen Haufen Naturgesetze parat, die noch kein Wissenschaftler je erahnt hatte.
Wir waren dann also die Ollis O111, O112, O121, O122, O211, O212, O221 und O222 geworden.
Nun versuchte man weniger herauszufinden, wie die Verdopplung funktionierte, sondern mehr, wie man sie aufhalten könnte. Als einer der Wissenschaftler verlangte, wir sollten in versiegelten Bleisärgen schlafen, die keinen Platz für Verdopplungen boten, trafen wir Ollis uns heimlich zu einer Lagebesprechung.
„Leute, wir haben ein Problem.“
„Ach nee.“
„Ich meine nicht unsere Vermehrung. Ich meine die Menschen.“
„Ja. Sie machen sich allmählich Sorgen.“
„Wir doch auch.“
„Genau, wir haben keinen blassen Schimmer, wie wir das machen, was wir machen.“
„Es könnte in Zukunft recht unangenehm für uns werden.“
„Wir sollten abhauen. Uns verstecken.“
„Nee, ich denke, wir sollten weiter mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Vielleicht finden sie eine Lösung.“
„Das denke ich auch.“
„Ihr könnt ja mit denen zusammenarbeiten, aber ich haue auch ab. Wenn man ein Heilmittel, oder wie man es nennen will, findet, komme ich zurück.“
„Ich weiß nicht, wie die Leute darauf reagieren werden, wenn einige von uns einfach so verduften.“
„Na und? Haben wir keine Rechte oder was? Ich will zurück nach Deutschland in meine Wohnung.“
„In unsere Wohnung. Jeder hält von uns hält sie für seine Wohnung.“
„Na gut, dann suche ich mir eine neue.“
„Was ist, wenn einer von uns Scheiße baut? Man kann uns nicht auseinanderhalten und eigentlich sind wir alle die gleiche Person. Haben wir dann alle Schuld?“
„Mist. Es wäre einfacher, wenn wir alle hierblieben.“
„Kein Bock. Es wird schon niemand Unfug machen. Wir kennen uns doch alle.“
„Oh Mann, da kommt noch einiges auf uns zu.“

Sechzehn Ollis. Zweiunddreißig Ollis. Und fast sechs Jahre waren vergangen.
Die Besorgnis machte sich nun auch in den seriöseren Medien breit. Jeder konnte sich ausrechnen, dass es in weiteren sechs Jahren über tausend Ollis geben würde. Man spekulierte, wie viele Ollis es geben könnte, bis wir natürlichen Todes starben. Dazu nahm man eine durchschnittliche Lebenserwartung von 75 Jahren an und mit der Tatsache, dass der erste Olli bei seiner Verdopplung 25 Jahre alt war, ergab das einen Verdopplungszeitraum von fünfzig Jahren. Eine Verdopplung dauerte 14 Monate, also würde es in fünfzig Jahren fast 43 Verdopplungen geben. 43 Verdopplungen bedeuteten etwa 8,8 Billionen Ollis, das ist das über 1300fache der momentanen Weltbevölkerung. Und alle weiteren vierzehn Monate würde sich diese Zahl nochmals verdoppeln.
Es kam zu Unruhen. Die Menschen bekamen Angst.
Die Körperform-Bleibetten wurden durchgesetzt und einige der Ollis verdrückten sich daraufhin. Sie wurden mit Polizeigewalt zurück gebracht, nur O12212 schaffte es, auch den Sicherheitsbehörden zu entkommen.
Die Bleibetten halfen nicht. Die Oberkörperkrümmung schien tatsächlich etwas mit den drei Raumdimensionen anzustellen, denn der obere Teil des Bettes wurde genauso verzerrt und verdoppelt, wie der Olli in seinem Inneren. Nichts konnte unsere Vermehrung stoppen.
Einen Monat später entdeckte man die Leiche von O12212. Er war offensichtlich gelyncht worden.
Prima, freuten sich die Mathematiker, das bedeutet 275 Milliarden zukünftige Ollis weniger.
62 Ollis. Zwei davon starben bei einer Autobombenexplosion direkt neben dem Wohnbereich des Institutes. Also nur noch 60 Ollis. Dann 120.
Mittlerweile wurden wir wie Gefangene behandelt. Hohe Sicherheit, um die Ollis vor den Menschen zu schützen – und um zu verhindern, dass ein Olli entkam und sich unkontrolliert vermehrte.
240 Ollis, neun Jahre.
Die Ollis hatten die Nase voll von Untersuchungen, von den hysterischen Medien, den täglichen Demonstrationen und den fast monatlichen Anschlägen.
Eine kleine Gruppe Ollis stand an einem Fenster und sah auf eine demonstrierende Menschenmenge hinab.
„Tötet sie, bevor sie uns alles wegfressen!“ stand dort auf einem Plakat.
„Wir können doch nichts dafür“, sagte einer der Ollis leise.
„Wir sind hier nicht mehr sicher“, sagte ein anderer Olli.
„Ja, ich habe das Gefühl, dass ein paar von uns verschwunden sind.“
„Die machen neue, geheime Experimente mit einigen von uns. Und die kommen nicht mehr zurück.“
„Wirklich?“
„Ich habe nachgerechnet, dass nur 228 Wohnungen von uns bewohnt werden. Sollten wir nicht 240 sein?“

Eine Woche später geschah etwas, dass die Welt erschütterte: Die Ollis flohen. Viele wurden wieder eingefangen, einige getötet, aber manche blieben spurlos verschwunden. Die Menschen machten nun Jagd auf Ollis. Die Behörden riefen zwar immer zur Ruhe und Besonnenheit auf, schließlich appellierten sie ans Mitgefühl, doch mit den Jahren wurde die Jagd immer gnadenloser.
Im Jahre Elf der Olli-Plage tauchte die erste militante Gruppe aus Ollis auf. Sie sahen schon unheimlich aus, wie eine Klontruppe.
Dies war unser erster Widerstand und der Beginn unseres Überlebenskampfes. Wir waren knapp tausend Ollis und im Prinzip eine fast bedeutungslos kleine Gruppe. Aber man jagte uns hartnäckiger als Terroristen, denn allen war klar, dass wir unsere Zahl alle drei Jahre vervierfachten.
Nach neun Jahren Guerillakrieg waren wir immerhin knapp 300.000 Ollis. Ohne Todesfälle hätten wir bereits über eine Million sein können.
Die Millionengrenze überschritten wir dann eben mit zwei Jahren Verspätung.
Wir hatten mittlerweile unsere eigenen Trainingslager, Waffenfabriken und Farmen. Alles gut versteckt natürlich und unterstützt von einer Gruppe fanatischer Terroristen, die in uns die perfekte Waffe gegen die westliche Kultur sahen. Außerdem gab es noch eine merkwürdige Sekte, die uns aus religiöser Überzeugung unterstützte und ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern aus der Parapsychologie, die von dem uns schon bekannten Dr. Kryphfokktila geleitet wurden.
Ohne deren Hilfe hätten wir es nie geschafft im Jahr 2018 ein Achtel der Weltbevölkerung auszumachen.
Uns war natürlich auch klar, dass es so nicht gut gehen konnte. Wir hatten schon so große Probleme, alle unsere Ollis zu ernähren und durch uns hatte sich die Zahl der jährlich verhungernden Menschen auf 15 Millionen erhöht. Wir waren zu der befürchteten Plage geworden.
Aber was sollten wir denn machen? Zum kollektiven Selbstmord aufrufen? Manche hatten es getan und einige darauf gehört, aber so lange mindestens einer von uns am Leben blieb, war die Welt in Gefahr.

Die Lösung wurde in einem militärischen Geheimlabor der Amerikaner entdeckt. Die Lösung hatte schon immer dort gelegen, nur war noch nie jemand auf die Idee gekommen, sie so einzusetzen.
Eine biologische Waffe. Genauer: Ein Virus. Die amerikanischen Militärwissenschaftler hatten schon länger damit experimentiert, selektierende Viren zu züchten, die nur bestimmte Menschen befielen und töteten. Nun hatte jemand die Idee, sie auf einen bestimmten genetischen Code, eine einzige Identität auszurichten: Olli.
„He, hört mal“, rief jemand im Hauptquartier der Olli-Armee und drehte die Lautstärke eines Fernsehapparates höher.
„Der amerikanische Präsident spricht zu uns!“
„Zu uns?!“
„Jupp.“
„...viel auf die Rechte des Menschen und das Leben an sich. Doch auch euch muss klar sein, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben können, liebe Ollis. Ihr wollt leben. Genauso wie der Rest der Menschheit. Doch euer Leben gefährdet das aller anderen. Es ist mir nicht leicht gefallen, diese Entscheidung zu treffen, kommt sie doch einem Genozid gleich. Wir haben wirklich, wirklich, jede Möglichkeit bedacht, eine friedliche, humane Lösung zu finden, doch ohne Erfolg. Die Zeit läuft uns davon. Die Menschheit droht zu verhungern und unter eurer Last zu ersticken, geehrte Ollis. Ihr seid Menschen wie wir, habt das selbe Recht auf Leben und daher schmerzt es mich, heute eure Vernichtung zu befehlen.“
„Was?!“
„Pssst!“
„Was kann der denn schon machen?“
„Seid doch mal ruhig!“
„...zufällige Entdeckung eines extrem eng selektierenden Virus. Wissenschaftler haben ihn so manipuliert, dass er nur auf den genetischen Code von euch, geehrte Ollis, anspricht. Er überträgt sich durch die Luft und bewirkt vierundzwanzig Stunden nach der Infektion den sofortigen, schmerzlosen Tod des Opfers. Habt keine Angst, ihr werdet nichts spüren. Denkt immer daran, dass ihr durch euer Opfer die Welt vor dem sicheren Untergang rettet. Die Jagd auf euch wird strengstens Verboten, jeder, der Hand an einen Olli legt, wird mit schwersten Strafen belegt. Denn ihr sollt nun die Möglichkeit haben, in Frieden zu sterben. Möget ihr alle in Frieden ruhen.“
„Glaubt ihr das?“
„Nein!“
„Oh mein Gott, wir sind erledigt!“
„Der blufft doch nur!“
„Von wegen, in Frieden sterben. Wenn wir uns zeigen, pusten die uns locker die Rübe weg!“
Die Unruhe war groß unter den Ollis. Unter dem Rest der Menschheit breitete sich Spannung aus.
Dann kamen die ersten Meldungen.
„Fünfundvierzig tote Ollis im Keller eines ... etwa zweihundert tote Ollis in einem Versteck in der Nähe von ... in einem alten Bunkerkomplex dreiunddreißig tote Ollis ...“
Der Virus tat sein grausames Werk. Hunderte, Tausende, Millionen von Leichen bezeugten seine Wirksamkeit.
Über eine Milliarde getöteter Ollis zählte man zuletzt.

Nur ein Exemplar hat überlebt.

Ich sitze hier in meinem Biobunker, gleich neben den Labors, die den weltrettenden Todesvirus erzeugt haben. Hermetisch versiegelt, tief unter der Erde. Durch eine Schleuse wird jeder Olli, der sich von mir abspaltet, herausgeholt und wer-weiß-was mit ihm angestellt.
Nur ein Internetanschluss ist mein Kontakt zur Außenwelt.
Alles, was ich jetzt noch tue, ist Geschichten schreiben.