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Autor: knochengott

Erstellt am: 26.09.2014

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ODDVILLE 6



Geschrieben von:   knochengott


Teil des Episodenwerkes: ODDVILLE

  - Einleitung
  - Kapitel 1: ODDVILLE01
  - Kapitel 2: ODDVILLE02
  - Kapitel 3: ODDVILLE03
  - Kapitel 4: ODDVILLE04
  - Kapitel 5: ODDVILLE 6
  - Kapitel 6: ODDVILLE08
  - Kapitel 7: ODDVILLE11


Anmerkungen des Autors:
die komplette Reihe unter http://oddville.blog.de





kannibalisch - Dreihundert - Schwalbenschwanz - ein Land mit T

Heute morgen eröffnete mir mein Chef, dass ich ins Zentralarchiv nach Charlottenburg fahren musste. Ein Kunde hatte nach der achtundzwölfzigsten Ausgabe des "Albus Ephemeris", ein sehr seltenes und schwer zu entzifferndes Buch, weil der Autor es für witzig hielt mit weißer Tinte auf weißem Seiten zu schrieben, gefragt. Ich arbeite in einer okkulten Buchladen, jedenfalls größtenteils okkult, denn seitdem die Tochter meines Chefs in den Familienbetrieb eingestiegen ist gibt es auch eine Ecke mit Büchern wie "Schlank durch Smoothies" und "Fit durch vegane Küche".
Macht erstens den Flair einer okkulten Buchhandlung kaputt und zweitens sollte man bedenken, dass okkulte Bücher geradezu kannibalisch veranlagt sind und ihre Artgenossen gern verspeisen. Besonders die Jungen und die Schwachen. Sie fressen, entgegen einiger zweifelhaften Geschichten keine Menschen aber wohl ihre Artgenossen.
Manche von ihnen haben sogar die Fähigkeit entwickelt, das Aussehen eines anderen Buches anzunehmen um damit eventuelle Fressfeinde zu verwirren. So dauerte es nicht lang bis jemand einen Kuchen aus "Schokolade - Heilmittel und Tröster" machte und damit um ein Haar ein kleines Höllenportal in mehreren Mägen hinterlassen hätte. Zum Glück lies sich der Backofen nicht auf die benötigten 666 Grad Celsius einstellen. Das Resultat waren feurige Verdauungbeschwerden, eine halbe Hochzeitsgesellschaft im Krankenhaus und einen Zeitungsartikel, der meinem Chef ebenfalls Sodbrennen verursachte. Es gab ein Vater/Tochter-Gespräch was darin endete, dass sie ihre Bücher Abend für Abend in einem abschließbaren Schrank schaffte. Sozusagen Schutzhaft.
Wenn sich okkulte Bücher gegenseitig fressen werden sie nur noch bösartiger und damit noch wertvoller, aber wenn sie sich als normale Bücher tarnen könnte die Weltordnung zusammenbrechen.

Das Bücherarchiv befindet sich am Bahnhof Charlottenburg, direkt gegenüber dem Bahnhof. Es ist ein kleiner Laden zwischen einem Falafelladen und einem Schlüsseldienst. Eine leise Glocke war zu hören als ich ihn betrat. Hinter dem Tresen saß wie immer Marla und las wie immer in einem Buch als ich eintrat. Sie schaute auf.
„Hallo Frank.“
„Hallo Marla.“
Marla kam hinter dem Tresen hervor. Sie trug wie immer ein Korsett, darüber eine leichte Strickjacke, offen, niemals geschlossen, dazu einen knielangen Rock und Stiefel. Alles schwarz. Ich habe sie noch nie in etwas anderem gesehen, obwohl ich nicht beschwören kann, dass sie diese Art von Kleidung in mehreren geringfügig veränderten Ausführungen besitzt.
Marla hat zart-weiße Haut und ist von undefinierbarem Alter. Ihr Aussehen sagt Mitte zwanzig, ihre Stimme sagt Mitte fünfzig und ihre Augen sagen über Dreihundert. Ich persönlich glaube den Augen. Es gibt dafür keinen richtigen Grund außer eben diesen Augen. Und einen persönlichen Verdacht. Sie trägt ihre langen dunklen Haare schon immer Kinnlang und irgendwie im Nacken zusammengenommen, so dass ihre Ohren halb darin verborgen sind. Daher kommt der Verdacht. Verborgen ist die obere Hälfte, die bei einer Elfin, und ich gehe stark davon aus dass Marla eine ist, sicherlich spitz wären und sie somit verraten würde. Und dann ist da natürlich noch ihre Art sich zu bewegen, zu schauen und zu stehen. Alles an ihr wirkt irgendwie – graziös.

„Was ist es heute?“
„Eins von den ganz alten. Das Albus Ephemeris“
Sie hob einer perfekt getrimmte Augenbraue.
„Da muss ich kurz nachfragen. Zur Sicherheit.“
„Na klar. Ich warte derweilen hier.“ sagte ich.
„Tu das. Igor wird dir Gesellschaft leisten.“
„Gewiss.“ sagte eine raue Stimme hinter mir und lies mich zusammenzucken. Igor trat aus dem Schatten hinter der Tür und lächelte mich an.
„Igor.“ Ich nickte ihm kurz zu. Das Lächeln lies seltsame Zähne erkennen. Sie wirkten irgendwie unecht.
„Frrrank.“ Igor hatte die Angewohnheit die Worte mit zusätzlichen R's zu würzen.
„Danke Igor, ich komme gut allein zurecht. Kannst dich wieder verziehen.“ Ich sah mich demonstrativ nach vorn, wo Marla eben hinter den Tresen trat und nach dem Telefon griff.
„Ich bleibe in derrr Nähe Frrrank.“
„Sicher.“ Ich drehte kurz den Kopf nach hinten aber Igor war schon wieder verschwunden.

Igor gehört zum Archive genauso wie Marla, beide waren hier schon als ich das erste Mal hier war und damals hatte er mich zum ersten Mal erschreckt. Er schafft es immer wieder sich heranzuschleichen, was schon eine Leistung ist wenn man bedenkt wie er aussieht.
Oder es ist einfach notwendig um nicht unangenehme Fragen beantworten zu müssen wie etwa: "Sind deine Eltern Geschwister?" oder "Zu wem gehört denn der Affe hier?".
Außerdem scheint es sich Igor zur Lebensaufgabe gemacht zu haben seine natürliche Nachteile durch einwandfreie Kleidung noch hervorzuheben. Oder vielleicht auch abzulenken, was aber leider nicht gelingt.
Igor trägt einen Frack, schwarz, so ein Ding mit langen Schleppen hinten dran. Ich glaube man nennt das Schwalbenschwanz. Darunter eine graue Weste, schwarzes Hemd und weiße Handschuhe. Die Schuhe und Hosen ebenfalls schwarz, beide sehen sehr eng und unbequem aus. Haare hat Igor keine, außer das kleine französische Bärtchen inmitten den Ruinen seinen Gesichts. Er ist bleich, fast schon zartblau und wie gesagt es schauert einen unwillkürlich wenn er lächelt.
Dummerweise bedeutet "einwandfreie Kleidung" nicht automatisch "angemessene Kleidung".

„Achtzehn Vier Achtzehn.“ hörte ich Marla ins Telefon sagen. Sie lauschte, nickte und legte auf.
"Alles klar?" fragte ich.
„Alles klar.“
Sie kam hinterm Tresen hervor und bedeutete mir mitzukommen. Weiter hinten im Laden ist der Dimensionskerker. Der Name ist eigentlich irreführende Werbung. Sicherlich ist er mehrdimensional, ansonsten würden die Bücher nicht alle dort hineinpassen, aber Kerker ist doch weit übertrieben.
Es ist nicht unterirdisch, nicht dunkel, niemand ist darin gefangen. Feuchte Wände, rußverschmierte Decken vom Rauch der brennenden Kerzen - zwei Eigenschaften, die viele Menschen mit Kerker assoziieren. Keiner mit einem Funken Verstand würde Kerzen oder Feuchtigkeit in der Nähe von Büchern für eine gute Idee halten. Vielmehr ist der „Kerker“ eine Lagerhalle mit hohen Decken, viktorianischen Leuchtern (des Stils wegen, wie mir Marla erklärte),vielen Bücherregalen und ganz hinten langen Reihen von Bücherkäfigen.

Im vorbeigehen griff sich Marla von einem achtlos aufgetürmten Stapel zwei Harry Potter Bände und gab sie mir in die Hand. Wir mussten in die lateinische Abteilung und dabei kamen wir an der amerikanischen Abteilung vorbei. Dort lagern die gefräßigsten und aggressivsten Bücher. Die Harry Potter waren sozusagen Wegzoll.
Die Amerikaner lassen uns die Bücher einlagern, seitdem in einer kleinen Waldhütte einmal eines davon beinahe die Hölle auf Erden hervorgebracht hatte. Eine paar College Kids und Unachtsamkeit hatten dafür gereicht. Uns haben die US of the A ihre Bücher anvertraut, weil sie offenbar immer noch glauben das Ordnung, Fleiß und Pünktlichkeit deutsche Tugenden sind.
„Marla?“ frage ich.
Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. Aus der Nähe haben ihre Augen keine Farbe, die in unserem Spektrum vorkommen. Es ist eine Art violettes grün.
Wieder wandert die Augenbraue in die Höhe.
"Was genau macht Igor hier eigentlich, außer mich zu erschrecken, wann immer es geht.“
Die Augenbraue behält ihre Höhe bei.
„Er führt die Inventarlisten. Prüft die Bestände. Mahnt säumige Kunden. Er organisiert alles, hat alles im Blick und kennt das Archive wie seine Westentasche. Keiner kann so gut mit Zahlen umgehen wie er.“
"Und wie kommt er hierher?"
"Er hat sich beworben."
"Ja klar, aber ich meine wie kommt er hierher?"
Marla schaute mich verwirrt an.
"Was meinst du?"
Ich stellte mir Igor vor meinem geistigen Augen vor – schmal, steif, immer schick aber unmodern gekleidet. Kann im Schatten verschwinden. Ist so blass, dass er schon fast hellblau wirkt. Dazu dieser Akzent. Und er kann gut mit Zahlen umgehen.
"Komm schon du weißt was ich meine... Kommt er vielleicht aus einem Land das mit T beginnt?"
Sie hob die Augenbraue noch etwas höher.
„Igor?“
„Ja Igor.“
Ein Lächeln umspielte ihren Mund.
„Igor, woher kommst du nochmal?“ rief sie und mir wurde bewusst dass ich einen Fehler gemacht hatte. Ich hätte mich vorher umdrehen sollen.
„Rrregensburrrg.“ raunte es hinter mir.